Das Geld denkt

Firmen kollabieren, Homepages werden verhunzt, ein Kürzel taucht auf: GPI. Sind die Gippies eine neue (anti-)politische Bewegung des Infozeitalters oder etwas ganz anderes? Eine Recherche

Sie nannten sich Gippies, tauchten scheinbar aus dem Nichts auf und redeten von Dingen, die man glauben konnte oder auch nicht. Ihren Wortmeldungen begegnete man auf den Finanzforen bei Juno Online Services, in den Dokumenten der Third Annual Applications of Physics in Financial Analysis Conference von 1999 (www.nbi.dk/APCA) oder in langen, verworrenen Aufsätzen über computergestützte Preistheorien auf dem Server der Universität Hongkong (www.bm.ust.hk/~jcduam) sowie an drei Dutzend anderen Orten. Sie behaupteten, die Zirkulationsbewegung des Kapitals auf den digitalisierten Märkten habe durch einen »mathematischen Streuungseffekt lokaler Störungen« spontan Autonomie erreicht. Und zwar nicht irgendeine Autonomie, sondern Autonomie gegenüber menschlicher Beeinflussung. Sie nannten diese Autonomie eine »emergent Self-Awareness«. Sie sprachen vom »Knospen eines fremden Bewusstseins«, mit dem der Homo sapiens jetzt die »Noosphäre« teile. Sie wollten damit sagen, dass das Geld denkt.

Ich weiß nicht mehr, wann ich das erste Mal von den Gippies gehört habe. Vielleicht war's anlässlich der geisterhaften Kurzblockade von ausgesuchten Webseiten der Geld-Oligarchie, als am 30. Oktober 1999, von der Öffentlichkeit kaum registriert, zwei volle Geschäftsstunden lang die Server ausfielen, die der Deutschen Bank, der Bank of England und diversen Consultingfirmen, u.a. Arthur Andersen in Frankfurt, ihre elektronischen Schaufenster dekorieren. Andererseits war der Auslöser meines Interesses an den Gippies vielleicht schon der Metabo Inc.-Skandal gewesen, den einige Quellen in technikkritischen Samisdat-Zirkeln noch in jüngster Zeit hartnäckig als »von Gippies verursacht« erklären.

Im Sommer 1999 war ein aufstrebendes, an der New Yorker Börse im »New Economy«-Nasdaq-Index bis dahin ganz ordentlich notiertes amerikanisches Biotech-Unternehmen, die Metabo Incorporated, plötzlich mit fliegenden Fahnen untergegangen. Der Geschäftskollaps trat ein, als sich herausstellte, dass die Versprechungen der Firmenleitung an ihre AktionärInnen, man sei einer revolutionären Gentherapie auf der Spur, die in einem Aufwasch Muskelkrebs-Sarkome und diverse Autoimmun-Krankheiten, etwa rheumatoide Arthritis, beseitigen werde, auf einer »hämatopoetischen Orgontheorie« beruhten.

Zu deutsch: auf völligem Quatsch. Eigentlich hätte jedeR halbwegs aufmerksame Biologie- oder MedizinstudentIn im ersten Semester die Absurdität der Sache erkennen müssen. Denn »Hämatopoese« bedeutet nichts anderes als Blutzellenentstehung, und »Orgon« ist die mystische, heute nur noch von obskuren Sekten erforschte angebliche Lebensenergie, von der der späte Wilhelm Reich gern faselte. Beides hat miteinander und gar mit Sarkomen oder Arthritis schlicht überhaupt nichts zu tun.

Als die Bombe platzte, weil der leitende Pressereferent des Unternehmens Dokumente über den erwarteten »Durchbruch« an einen kritischen Wissenschaftsjournalisten vom San Diego Herald weitergab, verschwanden binnen 24 Stunden die zwei für den »Häma/Orgon«-Schwachsinn verantwortlichen Metabo-Research-Leute, ein Dr. Thomas Aspen und eine Dr. Alicia Cross, die nebenbei noch ein ganz ordentliches Fuder firmeneigenes Geld in die eigenen Taschen transferiert hatten. Die zwei wurden im Web und in den beiden US-amerikanischen Gippie-Organen Hairy Logic und Symmetry, die u.a. von den MacherInnen des Whole Earth Catalogue und ausgesuchten Underground-Presseverteilern vertrieben werden, bald als »heroes of our movement« gefeiert. Das FBI sucht wohl immer noch nach ihnen.

Vielleicht begegneten mir die Gippies aber auch erst Anfang 2000, als sich herumsprach, dass auf einigen Webseiten, die wirtschaftswissenschaftliche Fakultäten rund um die Welt zu Ehren wichtiger Befruchter neoliberaler Lehren wie Friedrich August von Hayek oder Ludwig von Mises eingerichtet hatten, die Bilder besagter Größen tagelang durch Porträts von Figuren wie Hitler, Dagobert Duck und Mr. Burns von den »Simpsons« ersetzt wurden, in deren Pupillen per Animation das Kürzel »GPI« zwinkerte.

Nach all dem hatten die Gippies ihr erstes Ziel offenbar erreicht: Ihre Trademark, eine ansprechende Mischung aus post- und para-situationistischen Ideen sowie deren Durchführung nach der Manier der »Operation Chaos« aus dem Film »Fight Club«, war in aller Munde - als etwas Neues in der oft so faden Suppe linker, anti-neoliberaler und technologiekritischer Tagesgespräche: »Bist du eigentlich Netopia-Subscriber? Da posten jetzt auch immer mehr Gippies.«

Kurz darauf erzählten Kundige, der nom de guerre »Gippie« sei die Spitznamenform der schon aus den Augen der Web-Porträt-Bildchen geläufigen Selbstbezeichnung »GPI«, die für »Gruppe Pfadintegral« (respektive »Group Path Integral«) stehe. »Pfadintegral« ist nun ein höchst abstraktes mathematisches Konzept, vergleichbar etwa dem schon seit längerem metaphorischem Ge- bis Missbrauch in allerlei Gesellschaftswissenschaften ausgesetzten Begriff »Feld«. Und da sich dieses »Pfadintegral« zwischen seinen zahllosen Anwendungsbereichen in Quantenmechanik, Polymerphysik oder Statistik auf so ziemlich alles beziehen kann, was der liebe Gott geschaffen hat, war mit dieser Aufklärung nicht viel gewonnen.

Plausibler schien schon die vor allem von - ausnahmslos selbst ernannten - GPI-Fachleuten in Postings auf Net-Diskussionsforen lancierte Geschichte, es handle sich bei den Gippies um höchst klassenbewusste covert cadres der neuen digital class, die sowohl in der öffentlichen Infosphäre wie an den verborgenen Schauplätzen technopolitischer Kämpfe operieren.

In ihren Äußerungen machte die GPI von Anfang an einen weiten Bogen um abgekaute Begriffe wie »Subversion« oder »Revolte«. Aus den meisten Episteln stachen eher finstere, gelegentlich gar reaktionäre Sentenzen hervor: »Die Abwechslung sichert die Gleichgültigkeit der Überflüssigen, das hält die Mieten hoch, die Gehälter niedrig und ermöglicht Fortschritt«, »Menschen, die ihre Arbeit nicht ernst nehmen, verlieren zuerst die Liebesfähigkeit, dann den Verstand und zum Schluss die Zähne«. Auffälligste sprachliche Marotte der Gippies aber war die Wendung: »Money thinks, that ...« bzw. »It is one of money's ideas, that ...« oder »Was das Geld denkt, ist ...«

Die GPI schien davon durchdrungen, »das Geld« zum Subjekt des geschichtlichen Prozesses erklären zu wollen - ein bekanntes linkes Laster, aber doch ungewohnt in dieser Wiederholungsseligkeit. Wie um zu beweisen, dass der Gippie-Katechismus aus echter divinatorischer Vollmacht spreche, fügte man solchen Ausführungen gern hinzu, man sei eine »transnationale Gruppe« und habe nicht nur in Hackerzirkeln seine Leute, sondern auch beim Schweizer Chemiegiganten Novartis, bei Microsoft, Xerox und Sony und biotechnologisch/pharmazeutischen Global Players wie Roche, Merck oder Bristol-Myers.

Sowohl die GPIlerInnen selbst als auch ihre bald auftauchenden KritikerInnen, die ihnen Zynismus und techno-scientifisches Herrschaftswissen vorwarfen, servierten denen, die das Ganze aus amüsierter Distanz verfolgten, schließlich vier einander sehr ähnliche Versionen zur Herkunft der Gruppe. In allen vieren hieß es, eine einflussreiche Person aus Forschung und/oder Lehre habe anfänglich ein paar begnadete StudentInnen um sich versammelt, um ein bisschen disruptiven Irrwitz zu entfesseln und das Ergebnis dann zu beobachten bzw. - so GPI-FeindInnen - im Rahmen von »social engineering« mathematisch zu modellieren.

Spiritus Rector der GPI sollte in Version Eins ein Dr. Braun sein, ein exildeutscher, in Ontario/Kanada lebender Physiker. Version Zwei berichtete von einer Fern Hunt, einer schwarzen Mathematikerin von der Applied Computation and Mathematics Division des National Institute of Standards and Technology der USA, die aus Langeweile die Gippies erfunden habe und das Feuer weiterhin nach Kräften schüre. Ihr Arbeitsgebiet seien Materialwissenschaften, eine tatsächlich sehr prosaische Sache.

Version Drei schrieb die zündende Idee einem George W. Luedeman zu, der in den Sechzigern beim Pharma-Konzern Schering bedeutende Antibiotika-Forschung geleistet hatte und auf seine alten Tage Trickster-Ambitionen entwickelt haben sollte. Version Vier schließlich hielt als einzige einen Geisteswissenschaftler für den Hauptverantwortlichen, nämlich einen Linguisten namens Prof. Charles Kinbote, der, so hieß es, in New Wye/ Appalachia lehre. Als bisher einziger der angeblichen SchöpferInnen des Gippietums hatte Kinbote sich auch öffentlich geäußert. Im Interview für Hairy Logic 7 bekannte er sich zwar als »nicht schuldig«, gab aber an, »fascinated« zu sein vom Treiben »dieser jungen Leute«.

Dass mich die Suche nach greifbaren Trägerinnen und Trägern der GPI-Ideen dann ausgerechnet nach Göttingen führen würde, hätte ich mir weiß Gott nicht träumen lassen. Im Sommer 2000 wollte es jedoch der Zufall, dass mir auf einem Anti-Expo-2000-Treffen in Basel ein alter Studienfreund begegnete, der Anfang der Neunziger in Freiburg eine sehr gute Doktorarbeit über die »Geldverschwörungs«- und »Usura«-Theorien bei Ezra Pound geschrieben hatte und mir im anglistischen Seminar, wo er seinerzeit Tutorien leitete, als beschlagener Marxist aufgefallen war.

Über kurz oder lang kam unser Gespräch schließlich auf die Gippies, und mein Marxist meinte, nachdem er seine grundsätzliche Sympathie mit den Fragestellungen der GPI erklärt und sich zugleich von ihren »Juxaktionen« distanziert hatte, plötzlich unvermittelt: »Du musst Heike W. kennenlernen.« Natürlich kürzte er den Nachnamen nicht ab, aber hier soll nur von Belang sein, dass die Frau, von der er sprach, nicht nur eine Telefonnummer und eine Göttinger Adresse hatte, sondern auch die erste echte, bekennende GPI-Aktivistin war, der ich ein paar direkte Fragen würde stellen können. Am Telefon wollte sie allerdings nichts preisgeben - ich solle nach Göttingen kommen.

Kein schlechter Ort für Gippie-Umtriebe, die dort nicht nur als abstrakte Überformung seit langem gewachsener linker und autonomer Strukturen dem Weltgeist ihre Aufwartung machen können, sondern auch vom genius loci reicher naturwissenschaftlich-mathematischer Geschichte zehren dürfen. Die Namen hallen nach: Carl Friedrich Gauss, Bernhard Riemann, David Hilbert, Werner Heisenberg. Das sind freilich Vorkriegsgeschichten, und als ich mich vom Bahnhof aus nach Norden aufmache, wo Heike W. im Ortsteil Weende wohnt, fällt mir die Anekdote vom greisen Hilbert ein, der nach der Machtergreifung vom Nazi-Erziehungsminister Rust bei einem Bankett mit den Worten angemeiert wurde: »Das mathematische Leben in Göttingen hat wohl nicht drunter gelitten, dass es vom Judentum befreit wurde, wie?« Der alte, weise Mann antwortete dem Drecksack: »Das hat nicht jelitten, das jibt es nicht mehr.«

Die Wohnung, in die Heike W. mich einlässt, ist eine ganz normale Studentenwohnung - ich bin sozusagen enttäuscht, weiß aber selber nicht genau, was ich eigentlich erwartet habe. Heike W. ist etwa Ende 20, ihre Bücherregale verraten, dass sie irgend etwas entweder gerade studiert oder früher mal studiert hat - Philosophie vielleicht, Theologie, Biologie, weiß der Teufel. Bei grünem Tee erzählt sie mir zunächst einiges über die Geschichte der GPI. Dann wird es ernst. Was hat die GPI für eine Organisationsstruktur? »Es können alle mitmachen, die eine Organisation suchen, die sich von der Umwelt, in der sie agiert, durch keinerlei Grundsätze unterscheidet. Einzige Besonderheit: Wir meinen, dass das Geld denkt.« Aber ist das, wende ich ein, nicht die abgeschmackteste Spielart der Diskussion um »künstliche Intelligenz«, hat man nicht zu oft gehört, dass Quantencomputer denken werden oder das Internet irgendwann seiner selbst bewusst werden könnte?

»Im Unterschied zu Leuten, die glauben, dass aus dem Internet eine Intelligenz entstehen kann, glauben wir, dass Intelligenz Interesse voraussetzt, Intentionalität. Geld hat das: Es will sich reproduzieren. Dazu nutzt es die Märkte, den Trading Floor, die Volkswirtschaften, sogar die mathematischen Modelle, die es beschreiben sollen. Sobald jemand ein Modell entwickelt, das die Zirkulation beschreibt, wird wer versuchen, dieses Modell zu instrumentalisieren. Damit Geld zu verdienen. Das wird das Modell zügig obsolet machen, und durch diese stete Selbstkorrektur ist die erste Schicht des Geldbewusstseins, sein primäres Selbstbewusstsein sozusagen, schon bezeichnet.«

Sie liest auf meinem Gesicht, dass ich in diesen Ausführungen eher intellektuelle Arabesken sehe als unmittelbar zwingende Analysen, was immer sie auch Näheres wissen und sagen mag über »self-disturbance« und Feedbackschlaufen. Deshalb bin ich ja auch gar nicht hier, sondern weil die Aktionen der GPI gegen Banken, das Zu-Fall-Bringen einer Biotechfirma meine politische Neugier geweckt haben.

Daher die Gretchenfrage: Stehen Gippies links? »Nein - das ist ein Missverständnis. Wenn die Linke seit Marx versucht, die Gesellschaft und ihre Ökonomie dem Glück und der Emanzipation der Menschen zur Verfügung zu stellen, stehen wir so weit rechts wie überhaupt möglich. Wir glauben nicht, was die großen linken Revolutionen geglaubt haben, also die bürgerliche in Frankreich und die sezessionistische in den USA oder die sich als proletarisch auffassende in Russland. Wir teilen nicht deren Idee, dass die Verhältnisse, die der ðMenschÐ sich eingerichtet hat, von diesem per Beschluss, Gesellschaftsvertrag, Rätesystem und so fort geändert werden können. Das Eigengewicht dieser Verhältnisse ist zu groß geworden. Wir erkennen also die gewordene Autonomie der ursprünglich von Menschen gemachten Verhältnisse an. Wir wollen daran nichts mehr verbessern. Wenn diese Prozesse die Menschen in Schach halten, dann ist das eben so. Wir treiben nur Selbsterhaltung, sehr defensiv. Deshalb gibt es uns politisch gesehen eigentlich nicht - wir sind eine journalistische Erfindung, ein literarischer Betrug. Informationen über uns sind Halbwahrheiten. Die GPI sieht aus wie eine Ente, quakt wie eine Ente und hat nasse Füße. Also wird sie wohl eine Ente sein.«

Wenn es euch politisch nicht gibt, warum hört man überhaupt von euch, warum machen sich die Leute die Mühe, Gippie-Aktionen zu starten, warum gibst du mir dieses Interview? »Wir wollen uns dem Geld bemerkbar machen. Ihm klarmachen, dass es sich lohnen könnte, wenn die beiden großen Intelligenzen, die der Planet hervorgebracht hat, miteinander kommunizieren.« Was sollen die Menschen dem Geld denn mitteilen? »Dass wir es geschaffen haben. Dass es nur unseretwegen existiert.« Und wieso ist es so wichtig, dass es das weiß? »Das bringt uns zurück zur GPI als Defensivprojekt. Das Geld ist sehr mächtig, es wird immer klüger, entwickelt sich viel schneller als wir. Wenn es weiß, dass es uns seine Existenz verdankt, wird es drüber nachdenken, ob es dankbar sein will, ob es einsam sein möchte oder lieber uns als Partner, als Gesprächs-Gegenüber hat.«

Heike W. macht eine Pause, lächelt dann und sagt: »Wenn es darüber erstmal nachdenkt, lässt es uns vielleicht am Leben.«