Drinnen und draußen VIII

Zehn Bände - sticht!

Zuerst die schlechte Nachricht: Marcel Reich-Ranicki liegt im Sterben. Die »Big Brother«-Produktionsfirma Endemol rechnet mit seinem Herztod innerhalb der ersten zehn Drehtage. Das gab gestern ein Sprecher von Endemol bekannt. Und nun die gute Nachricht: Damit ist der Weg frei für andere Großkritiker, und das Publikum kann selbst entscheiden, wen es sehen will und wen nicht.

Endemol hat das Potenzial des »Literarischen Quartetts« als Reality-Show erkannt. Schon ab Jahresende werden Reich-Ranicki, Hellmuth Karasek, Iris Radisch & Co. auf RTL II zu sehen sein. Die neue Show soll zur Prime Time zwischen 20 und 21 Uhr ausgestrahlt werden und der »Tagesschau« Konkurrenz machen. Die Verantwortlichen bei Endemol sind zuversichtlich und rechnen mit zehn bis 15 Millionen Zuschauern.

»Noch nie war die deutsche Literatur so angesagt wie heute«, freut sich ein Endemol-Mitarbeiter, der ungenannt bleiben möchte. Literatur sei ein popkulturelles Phänomen, ein Volkssport. Nach einer Umfrage des Forsa-Instituts schreibt zur Zeit jeder dritte Deutsche im Schnitt zwei bis drei Romane pro Jahr, und jede Neuerscheinung löst inzwischen ähnliche Hysterien aus wie der Aktienboom des Neuen Marktes im vergangenen Winter.

Im Gegensatz zum ZDF, wo das »Literarische Quartett« live gesendet wird, werde RTL II die Sendung dramaturgisch aufbereiten. Die ersten fünf Folgen seien bereits abgedreht, spätestens in Folge zehn werde mit dem plötzlichen Herztod Reich-Ranickis gerechnet. Wie es bei Endemol hieß, werde der Kritiker von heftigen Krämpfen geschüttelt, während er das rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft erscheinende Best-Of-Buch von Benjamin von Stuckrad-Barre zerreißt. Danach werde mit Rücksicht auf die vielen minderjährigen Zuschauer ausgeblendet. Aber im Internet lasse sich der weitere Ablauf mit schwenkbaren Kameras verfolgen.

Dann startet Phase zwei des neuen »Literarischen Quartetts«. Das Konzept sieht vor, den nun frei gewordenen Chefsessel per Volksentscheid neu zu besetzen. Karasek und Radisch benennen Kandidaten, die Zuschauer können im Internet abstimmen. Als Gastkritiker können Leser und Leserinnen eingeladen werden, die sich auf der Homepage durch besonders beleidigende Buchbesprechungen hervorgetan haben.

Jeden Tag sitzen die Teilnehmer etwa fünf Stunden in einem isolierten Container auf dem Berliner Schlossplatz zusammen, die besten Szenen werden abends im Fernsehen gesendet. Wer innerhalb der fünf Stunden die meisten Bücher rezensiert, erhält Punkte, für Beschimpfungen von Kritikerkollegen und Autoren gibt es Bonuspunkte, die später unabhängig vom Endgewinn ausgezahlt werden.

Auf der Warteliste für die Show stehen schon jetzt etwa 750 namhafte deutsche Kritiker. Unter diesen Umständen sei auch eine Rückkehr von Sigrid Löffler nicht auszuschließen, sagte der Endemol-Mitarbeiter. Gewonnen hat, wer mindestens 100 Folgen übersteht, oder eine Gesamtzahl von 18 000 Punkten erreicht. Den Sieger erwartet ein Buchgutschein im Wert von zehn Millionen Mark.

Karasek und Radisch wollten zu den Plänen nicht Stellung nehmen. Reich-Ranicki sagte, er habe diese Entwicklung kommen sehen, aber wenn es der Literatur nütze und die Menschen dazu bringe, mehr zu lesen, sei er einverstanden. Zu seinem Tod wollte er sich nicht äußern.