Supplement der Jungle World, Nr. 52/1, 2000

Dreizehn Möglichkeiten, eine Amsel zu ignorieren

Eine Erzählung

Erste Möglichkeit

Die simpelste Möglichkeit, eine Amsel zu ignorieren, falls einen das nervt, so ein kleines Vögelchen und die ganze Fracht an idyllischer Naturschönheit und Unberührtheit und Unschuld, die es mit sich führt, wäre einfach, nicht so genau hinzugucken, wenn sich das Viech irgendwo zeigt. Wenn man diese Möglichkeit ausschlägt, wird es allerdings recht schnell ziemlich abstrakt.

Zweite Möglichkeit

Easy come, easy go - will you let me go -
Bismillah! No! We will not let you go - let him go -
Bismillah! We will not let you go - let him go - ...
Will not let you go! Let me go!
No, no, no, no, no, no, no!
Queen; Bohemian Rhapsody

Dritte Möglichkeit

Es war einmal eine viel besungene Stadt, eine Stadt der Wunder, eine Hauptstadt der Schmerzen, ein gleisnerischer Wallfahrtsort der Zukunft aller Zukünfte. Ihr Rückgrat war eine Brücke, die einst vom Kanzler persönlich eingeweiht worden war, dem seine plastischen Chirurgen zu diesem Anlass extra ein paar neue väterliche Falten in sein berühmtes Lebkuchengesicht gefräst hatten, weil gerade noch ein paar Falten in der passenden Konfektionsgröße von der letzten stabsärztlichen Generalüberholung der antifaschistisch zerfurchten Interventionsfresse des auf der ganzen Welt geachteten Außenministers übrig gewesen waren.

Das Rückgrat der Stadt wimmelte von Autos, Fahrradboten und flauen Ideen, weil es eine Brücke war. Aber nicht allein das Rückgrat der Stadt war eine Brücke, nein, auch ihre Adern waren Brücken, und ihre Nerven waren ebenfalls Brücken, und ihre Muskeln und ihre Sehnen waren auch Brücken. Die Stadt hieß Borbruck, und sie hatte Tore aus Porphyr und Amethyst, weil in diesen Wörtern so schicke Ypsilons vorkommen. Aus den Toren der Stadt schwärmten am Ende eines ziemlich holprigen Jahrtausends plötzlich scharenweise Boten in die Welt, die aus brennenden Lungen mit dem heißen Atem der Rechtschaffenheit die Bereitschaft der in dieser Stadt ansässigen Regierung verkündeten, sich nicht länger der globalen sicherheitspolitischen Verantwortung entziehen zu wollen und also durchaus jederzeit Truppen nach Weißgottwohin entsenden zu können, wenn's denn gewünscht wurde.

Die Regierung wusste, dass Unsterblichkeit nur dem geschenkt wird, der seinen sterblichen Körper verlassen kann. Sie wusste aber auch, dass Zeit hauptsächlich Ortsveränderung ist, dass es keine ruhenden Punkte im Raum gibt, und dass die Zeit für ein Weilchen angehalten wäre, wenn es einem hypothetischen Punkt gelänge, in sich zu verschwinden, sich in sich zu verschließen. Es gelang der Regierung, nachdem sie lange über diese beiden Probleme meditiert hatte, die Lösung des einen Problems in der Formulierung des anderen Problems zu finden, und umgekehrt. Sie verschloss und verwahrte sich also in ihrem entstofflichten Körper, der die Stadt war, und glaubte daher, sie würde von nun an ewig leben.

Aber auch Jericho war einst verschlossen und verwahrt gewesen, dass niemand heraus- oder hineinkommen könnte.

Dann aber war jemandem - sie sagen, es sei Gott gewesen - die Sache mit den Posaunen eingefallen.

Naja: Wir wollen nicht vorgreifen.

Was wir zu erzählen haben, handelt nicht durchweg von so großen Dingen.

Es geht uns nämlich eigentlich nur darum, für ein Weilchen einen der Bewohner der großen Stadt Borbruck zu begleiten, sagen wir: einen Tag lang, von morgens bis abends.

Sein Name aber sei, solange uns kein besserer einfallen will, sozusagen vorsorglich und auch der Botschaft halber: Georg Wilhelm Friedrich Vivazuschauer.

Vierte Möglichkeit

Im großen und ganzen sind die allgemeinen Bewegungen des Arbeitslohns ausschließlich reguliert duch die Expansion und Kontraktion der industriellen Reservearmee, welche dem Periodenwechsel des industriellen Zyklus entsprechen.
Karl Marx; Das Kapital I

Fünfte Möglichkeit

Mäh! Während Georg Wilhelm Friedrich Vivazuschauer sich noch fragte, ob es den Tag lohnen würde, hatte dieser schon alle Vorkehrungen getroffen, ihm mächtig einzuheizen, ohne mäh oder mit mäh, gleichviel.

Määähh! Das Schaf hatte sich im Bad in die neben der Duschkabine besonders dick gewirkten Stränge des Spinnennetzes verfangen, das von Bad bis Küche und über den gesamten Flur zwischen einander vielleicht ein bisschen zu freundlich zugeneigten Wänden verlief, und die kläglich blökenden Angstrufe des Tiers, das seine sechs Hände zum Himmel erhoben hatte, zu seinem Gott flehte und die blaue Zunge raushängen ließ, während es schrie, trieb Georg zur äußersten Eile.

Mit einer Stablampe bewaffnet, die er wie eine stumpfe Machete und manchmal, bei verklebten Türschlössern, von denen noch nicht völlig geronnene Netzflüssigkeit troff, wie einen Hebel oder einen Hammer benutzte, kämpfte sich Georg durch die schweren klebrigen Zossen. Schweiß bildete sich am Hals, in seinem hochgestellten Kragen und auf seiner Stirn. Ihm war nicht wohl, er fühlte sich von radikaler Uncoolheit besabbert, hatte sich noch nicht mal die Zähne geputzt. Schön fing das an heute morgen, sehr schön. Nissig in Netzbetten geschmiegte Verdickungen, Klumpen von unverfügbaren Sprechtransferenten, deren Aussagen mehr als zweifelhaft waren, blau und verschrumpelt, rissen schnatternd von den erstarrten Netzganglien ab und prasselten Georg auf den Kopf wie dusslige Walnüsse. Dabei kreischten und sabbelten sie und erklärten ihre Unabhängigkeit von der Realität. Das meiste, was sie plapperten, waren ungarische Satzanfänge: »Amikor ... belefogtunk ... e munkába ...«

Zwei verspritzten erregtes englisches Geweine: »We act in a responsible manner. We don't do illegal things and we don't cause problems for the place we're meeting in.«

Jaja, deine Syntax, dachte Georg erbost. Um diese Scheiße würde er sich auch bald mal kümmern müssen. Das Schaf aber hatte Priorität hier und jetzt.

Montage hatte er noch nie gemocht, ab Dienstag ging's meistens wieder. Andererseits, flüsterte ihm eine allzu vertraute Stimme, sei froh, dass du überhaupt in der Lage bist, deine Montage von deinen Dienstagen zu unterscheiden. Wie viele wären froh drum.

Am Bildnis des großen Piloten Oswald Bastable, das hinter nebligem Spinnwebschlorz an der Wand auszumachen war, erkannte Georg, wo er war.

Er trat zur Seite, verbarg sich in einer Nische, für den Fall, dass er ein Brausen hören würde, wenn gestreckte Präpositionen den Gang entlangfegen würden, um die Nüsse von vorhin einzusammeln, die er hinter sich noch immer ramentern hören konnte.

Sie kullerten jetzt buchstäblich völlig verantwortungslos in sinnlosen Kreisen auf dem Boden umher. Georg Wilhelm Friedrich Vivazuschauer hatte für so ein Benehmen nichts als Verachtung übrig. Die Liebe, dachte er gleich darauf demütig, ist ein Lebewesen, das manchen Gunst schenkt und sie anderen verwehrt, und mit Gewalt und Krach auf sich aufmerksam machen zu wollen, wie das die blauen verschrumpelten Transferenten (Kugelfische nannte er sie bei sich) drüben versuchten, schien Georg der Gipfel der Schamlosigkeit. Er äugte vorsichtig um die Ecke. Prompt sausten zwei gestreckte Dort-Entlangs wenige Dezimeter von seiner Nasenspitze entfernt den Gang hinunter. Erschrocken zog sich Georg wieder in seine Nische zurück und dachte: diese widrigen, erz-aberwidrigen Montage immer. Den Spiegel muss ich mir auch gleich kaufen. Steht wahrscheinlich wieder viel über Hitler drin, muss man wissen, falls man mal auf der Straße angehalten und abgefragt wird.

Schmatzend und schnorchelnd fielen weiter hinten die gestreckten über die geballten Sprechmatrizen her und vertilgten sie genüsslich. Georg schloss die Augen, spürte seine Schläfen pochen und auf der Zunge pelzige Unzufriedenheit. Als die unappetitliche Szene vorbei war - zumindest hörte er kein Schmatzen mehr und bildete sich ferner ein, den charakteristischen pfeifenden Luftzug vorüberhuschender gestreckter Matrizen ein zweites Mal dicht bei seinem Gesicht verspürt zu haben -, atmete Vivazuschauer tief durch. Als er seinen beschwerlichen Weg durch das dichte Fäden- und Nebelteppichgewirr fortsetzte, war er dankbar, dass ihm die Jäger durch ihr Gerase wenigstens ein paar Schneisen ins Dickicht geschlagen hatten. Das Blöken war beinah völlig versiegt. Entweder war etwas Schreckliches geschehen, oder das Schaf hatte sich befreit. Vielleicht war es auch bloß resigniert oder einfach in Ohnmacht gefallen. Schwachsinnig möhrten Echos der letzten Röchler und Raspler der vertilgten Kugelfische durch Georgs Kurzzeitgedächtnis, einer hatte zuletzt geschnarrt: »All meetings must contact us to let us know how things are going, even if nothing unusual is happening.« Na, der würde keinen mehr ärgern.

Endlich, nach einer letzten Abzweigung, als er schon geglaubt hatte, sich hoffnunglos in den Fluchten seiner eigenen Behausung verlaufen zu haben, stand Georg Wilhelm Friedrich Vivazuschauer vor der Badezimmertür. Er neigte sich nach vorn und presste die Stirn gegen das kalte Metall. Die Tür atmete die schwachen Spuren elektrischer Dämpfe ein, die von seinem Hippocampus aus durch Gebein und Stirnhaut diffundierten, prüfte sie und erkannte ihn. Die Tür glitt auf und Georg wappnete sich ernstlich, einen entsetzlichen Anblick vorzufinden.

Erleichtert sah er, dass der harmloseste aller denkbaren Fälle eingetreten war: Das Schaf hatte sich selbstständig befreit und sah einigermaßen gefasst zu ihm auf.

Tja, dachte Georg: Schafe blicken auf. Er ging in die Knie und nahm es bei einer seiner sechs Hände, half ihm, sich aufzurichten. Es sah ihn an und sprach: »Die Spinne? Ich glaub', die ist zur Lüftung raus.«

»War's schlimm?« erkundigte sich Georg teilnahmsvoll.

»Ach, es geht so. Man gewöhnt sich an alles.«

Das Schaf gab Georg einen geistesabwesenden Klaps auf den Hintern und verließ das Bad, in dem Georg erstmal sauber machte und sich anschließend selbst wusch, die Zähne putzte und sich mit blauen doppelklingigen Einwegrasierern rasierte - er brauchte zwei, weil der erste schnell von seinen Stoppeln verstopft war. Er bespritzte seine Wangen mit Aftershave und knöpfte den hochgeschlagenen Kragen vorn zu. Dann trottete er durch die Verwüstung auf den Fluren zur Küche, wo das Schaf bereits das Frühstück zurechtgemacht hatte. Aus dem Radio drang politisch distinkt linksstehendes Geschimpfe über einem einschmeichelnden Loop und verschleppt dopen Beats. Großartig, dachte Georg verdrossen.

Niederträchtig. »Vergiss nicht«, mahnte das Schaf, »heute noch bei Mutti vorbeizuschauen, die Comics abholen. Ich möcht' heut abend was zum Lesen.«

Georg fröstelte und er verzog das Gesicht, als er den bitteren Kaffee trank.

Zu Mutti, auch das noch. Als wär's nicht genug, dass Montag ist. Das würde er in der Mittagspause erledigen müssen.

Vor der Haustür, als das Schaf aufs Motorrad stieg, um zur Arbeit zu fahren, und mit drei Armen winkte, bevor es startete, überlegte Georg, ob er ihm zurufen sollte: Bleib!, und wenn es bliebe, ob er dann nicht endlich das große Kommunikationsproblem ansprechen müsste.

Da war die Mühle weg, er starrte in die Staubwolke. Ein großer gelber nackter Mann, eindeutig eine Wache, ging entschlossen auf ihn zu, mit diesem Ich-kenne-Landstreicher-wie-dich!-Gesichtsausdruck. Georg setzte sich schleunigst in Bewegung, ab zur S-Bahn-Station. Der nackte gelbe Mann ging an ihm vorbei. Glück gehabt. Georg nahm die erste Bahn Richtung Stadtkern.

Sechste Möglichkeit

Geschichte macht Angst, selbst in den erfüllten, sonnendurchfluteten Epochen. Ganz im Sinne eines populären Vorurteils, über das sich die offizielle Historiographie der meisten Epochen stets erhaben fühlte, macht Geschichte denjenigen am meisten Angst, von denen es dann hinterher heißt, sie hätten diese Geschichte gemacht - den Leuten selber.

Unter diesem Aspekt lohnt vielleicht nochmal die Beschäftigung mit dem emphatischen Begriff der Sünde. Die soll ja vor allem vom Hochmut herrühren. Davon kann man in einer Stadt wie Borbruck mühelos jede Menge finden. Man muss bloß den Kopf in den Nacken legen und nach oben schauen. Ja, genau so.

Hoch.

Hoch oben.

Hoch oben im höheren der beiden schlanken Zwillingstürme, Wahrzeichen der neuen Nordstadt im Zeitalter der so genannten Hagerbrücken mit ihren Pfeilern nicht aus Stahl und Stein, sondern aus Geometrie und Schwerkraft - da oben: genau.

Hoch, was?

Ein japanisches Unternehmen namens Ikeda Enterprises hat diese Türme gebaut. Es stellt vor allem moderne elektronische Unterhaltungsgeräte her.

Nicht ganz das oberste Stockwerk des linken Ikedaturms, aber doch eins der obersten zehn Stockwerke, beherbergt das Büro des Geschäftsmannes, der für die Einführung eines neuen elektronischen Unerhaltungsgeräts in dieser Stadt verantwortlich ist, das Georg Wilhelm Friedrich Vivazuschauer an dem Tag, an dem wir ihn begleiten, in der S-Bahn, auf der Fahrt zur Arbeit, testen will.

Von außen kann man nicht reinsehen in dieses Büro, das Panoramafenster ist verspiegelt. Neben dem Fenster verläuft im Glas- und Betonwände-Innen der dicken Haut des Gebäudes ein schmaler Luftschacht. Auf der Abdeckung der Luftschleuse sitzt eine Taube und weiß vermutlich nicht, dass sie die Zunge heraushängen lassen könnte bei dieser Gluthitze, wenn sie eine Hundetaube wäre. Von Hundetauben hat diese Taube hier noch nie gehört.

Im Gegensatz zur erfolgreichen Züchtung Schaf ist das Hundetauben-Projekt ja auch als Fehlschlag versandet, die wenigen überlebenden Hundetauben der ersten Generation wurden schließlich im Wald auf der Tagseite des guten weißen Berges freigelassen und hockten an jenem knallheißen Tag, der uns zu BegleiterInnen Georgs macht, in weiser Erkenntnis der Schädlichkeit derartiger Rekordtemperaturen fürs Hundetaubenkreislaufsystem im Schatten auf Zweigen dicht belaubter Bäume. Vereinzelt ließen sie tatsächlich die Zungen raushängen.

Als man das Projekt abbrach, dem sie ihre Existenz verdankten, soll einer der Forschungsbeauftragten der Regierung gereizt bemerkt haben: »Hundetauben! Wer braucht sowas? Es gibt doch so schöne Vögel..., was weiß ich, Dingens, Amseln zum Beispiel! Hundetauben... nee, echt: nein Danke.«

Siebte Möglichkeit

Ein geistreicher deutscher Sozialdemokrat der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bezeichnete die Post als Muster sozialistischer Wirtschaft. Das ist durchaus richtig. (...) Unser nächstes Ziel ist, die gesamte Volkswirtschaft nach dem Vorbild der Post zu organisieren, und zwar so, daß die unter der Kontrolle und Leitung des bewaffneten Proletariats stehenden Techniker, Aufseher, Buchhalter sowie alle beamteten Personen ein den »Arbeiterlohn« nicht übersteigendes Gehalt beziehen. Das ist der Staat, das ist die ökonomische Grundlage des Staates, wie wir sie brauchen.
Lenin; Staat und Revolution

Achte Möglichkeit

In der S-Bahn auf dem Weg zur Arbeit testete Georg Wilhelm Friedrich Vivazuschauer im Licht der von den abgeschliffenen Rändern der schmutzigen Fenster im Abteil beeindruckend polarisierten Sonne sein neues, für 356 Euro bei Saturn in der Nordstadt erworbenes elektronisches Unterhaltungsgerät.

Es handelte sich dabei um einen so genannten Holoplayer, d.h. eine mit kleinen Ohrstöpseln ausgestattete Brille, die es ihm ermöglichen sollte, eine auf dem passenden Datenträger gespeicherte Erfahrung, d.h. eine Geschichte mit Musik, abzurufen und synästhetisch zu erleben - das Gehirn der Benutzerin / des Benutzers sollte, behauptete die Bedienungsanleitung, über optische und akustische Reize dazu gebracht werden, den Text tatsächlich als eigenes Erlebnis statt als bloße Entzifferung von Zeichen wahrzunehmen. Die recht umfangreiche digitalisierte Informationsmenge, die so eine Holoplayer-Erlebnisaufnahme darstellte, war als Volumenhologramm auf einem photorefraktiven, eisendotierten LiNbO3-Kristall von bräunlicher Farbe gespeichert.

Beim Erwerb des Geräts hatte Georg ohne Aufpreis zwei Erlebnisaufnahmen dazugekriegt. Die eine war ein Kristall mit Gedichten von Wallace Stevens, die andere eine deutsche Science-Fiction-Drama-Produktion namens Tote Musik. Er hatte in der S-Bahn beide dabei, entschied sich aber sehr schnell gegen den Lyrik-Kram und für die Weltraum-Oper.

Er schaltete das Gerät ein und fand sich bruchlos in der Welt wieder, die der Kristall ihm vorspielte:

Die Töne klangen wie ein letzter Trost für etwas, das elend verbluten muss, weit draußen, wo Sterne nur noch leuchten, nie mehr wärmen werden. Georg erkannte, dass er ein alter Mann geworden war. Der alte Mann fuhr sich mit der Rechten geistesabwesend durchs weiße Haar und summte lächelnd mit; zugleich fröstelte ihn und er fürchtete sich sehr vor dem, was geschehen würde, wenn die Musik, zu der er summte, und die ihm die Fremden über dutzende versteckte Lautsprecher in seine geräumige Kabine überspielten, enden würde.

Sobald nämlich nichts mehr da war, wozu man summen konnte, würde Georg sich an seine Pflicht erinnern: Er musste die Expedition der Greg Tate zurückführen, musste darauf Acht geben, dass niemand verloren ging, musste wenigstens Meldung machen an den großen Tross der eigentlichen Expedition, deren verhexter Ableger seine unglückliche kleine Abenteuerfahrt war. Je länger er dieser summenden, säuselnden Musik lauschte, desto zwingender wurde die Ahnung, dass kein einziges der fünf Besatzungsmitglieder der Greg Tate je wieder heimkehren würde, weder zum großen Trägerschiff - der temporären Heimat zahlloser Reisender, die zum Zentrum der Galaxis aufgebrochen waren, um dort wer weiß was zu finden (wer hatte sich das eigentlich ausgedacht? Er erinnerte sich nicht mehr) -, noch zu ihren Heimatwelten.

Die Musik wurde leiser. Zugleich mit den aufsteigenden Erinnerungen machte sich Beklemmung heftiger bemerkbar, und der Blick des alten Mannes irrlichterte im ausufernden Raum herum. Nirgends erblickte er rechte Winkel, vielmehr glich der Raum einer überall sanft nach innen gerundeten Wabe, mit Monitoren, Lautsprechern und anderem Gerät an und in den Wänden. Alles viel zu groß für einen Menschen. Nur da drüben auf dem Tisch lagen ein paar kleine Gebrauchsgegenstände, die Georg aus der Greg Tate hierher mitgenommen hatte. Das Schiff selbst ruhte auf Polsterfeldern im Lagerraum des gewaltigen Fahrzeugs der Fremden, wusste Georg (wenn er auch nicht wusste, woher er das wusste).

Alles war sehr still. Georg hoffte, dass sich die Fremden seiner annehmen würden, dass jemand zu ihm sprechen würde. Stattdessen leuchtete einer der Schirme an der Wand auf. Dann zeigte er eine jener irisierenden, wie flatternde Fahnen gekräuselten Spannflächen in einem annähernd kreisrunden, schwarz-nassglänzenden Rahmen aus lebender Materie an der Spitze eines gewundenen, ebenfalls schwarzglänzenden Halses, die Georg spontan als Kopf und Gesicht deutete.

Das Wesen sprach zu ihm, in sonorer Stimme: »Guten Morgen. Dein Frühstück wird dir gleich gebracht werden. Möchtest du das Ding immer noch in deiner Kabine lassen?«

Georg blickte in die Richtung, in die das angedeutete Kopfnicken des (oder der?) Fremden gewiesen hatte: Da stand Georgs Raumanzug. Georg räusperte sich und sagte dann: »Ja, ich möchte, dass das hier bleibt.« Es klang reichlich vernuschelt, beinah kläglich. »Natürlich, wenn du es gern bei dir hast. Möchtest du dich erfrischen?«

Tatsächlich: Daran hatte er eben gedacht. Waren die Fremden Telepathen?

Er nickte nur

(SCHNITT!)

und betrat dann eine Art Nasszelle. Als er einigermaßen frisch war und seine Kleidung (einen blauen Einteiler und passende Schuhe mit Klettschnallen) angelegt hatte

(SCHNITT!),

redete ihn das Wesen erneut an:

»Möchtest du sehen, was deine Freunde machen?«

»Sehr gern!« rief er, während er sich gleichzeitig an dem Tisch auf einen bequemen, elastischen Stuhl setzte und sich ans Frühstück machte, das ein kleiner, dicht überm Boden schwebender Zylinder gebracht hatte.

Der Bildschirm, den Georg im Blick hatte, teilte sich jetzt horizontal einmal, vertikal zweimal. Das Ergebnis waren sechs Bildfelder, auf denen von links unten nach rechts oben folgendes zu sehen war:

1.) das Wesen, mit dem er gesprochen hatte und das weiterhin präsent blieb.

2.) Er selbst, wie er aß und auf den Bildschirm sah (dieser Ausschnitt war gleichsam ein Spiegel, nur ohne den Nachteil der Seitenverkehrtheit: Georg fand, er sehe doch weniger angeschlagen und verwahrlost aus, als er sich eben noch gefühlt hatte).

3.) Das erste der übrigen Besatzungsmitglieder der Georgs Weisungen unterstellten Greg Tate: der Procyon-Außerirdische Xas-Bin-Qiese. Auch er saß, gleich Georg, an einem Tisch auf einem der bequemen Stühle, und schob sich Nahrung, die er mit Stäbchen von einem flachen Teller nahm, in die Mundöffnung. Da er Georg direkt anzusehen schien, nahm dieser an, auch Xas-Bin-Qiese betrachtete einen Bildschirm. Auf Xas-Bin-Qieses Tisch lagen rings um den Teller verschiedene Datenträger und Medien: ein Speicherkristall, ein antikes terranisches Buch, eine Bildkugel. Inmitten dieses Sammelsuriums erkannte Georg drei der schimmernden Folien, auf denen in zweidimensionaler Schrift die Fremden, ihrer aller Gastgeber, ihre Kunstwerke notierten (oder Berechnungen anstellten? Der Unterschied war Georg im Augenblick etwas unklar). Xas-Bin-Qiese arbeitete also offensichtlich an so etwas wie einer vergleichenden kosmoliterarischen Textanalyse der Literatur der Fremden, die ihm auch bereitwillig einige Stücke überlassen hatten. Georg hob die Hand zum Gruß und Xas-Bin-Qiese erwiderte das Zeichen mit einer etwas vagen Bewegung des Tellerkopfes.

4.) Ein Heiltank von offensichtlich mächtigen Dimensionen. Die Gestalt, die darin schwamm, wirkte geschrumpft, wenn man an die Abmessungen von irdischen Medotanks dachte. Georg wusste, wer die Gestalt war, die in der transparenten, allenfalls etwas rötlichen Flüssigkeit schwamm: Clara Malkuth, altgediente Navigatorin und Funkerin auf einem halben Dutzend Schiffen, zuletzt aus Übermut auf der Greg Tate beschäftigt. Sie hätte nie auf dieser idiotischen Fahrt anheuern sollen, dachte Georg, erstmals seit seinem Erwachen mit einem Anflug von Grimm.

5.) Das nächste Bild zeigte ein Bett wie seins. Aus verschlungenen Laken lugte oben ein Büschel schwarzer Strubbelhaare hervor. Das war der unverwechselbare Schopf von Skr, dem Bordpropheten der Greg Tate - eigentlich war Skr ein junger Astronom, aber statt von Sternen, Partallaxenverschiebungen und Astrogation sprach er den ganzen Tag (lieber noch die ganze Nacht) von den Schrecken des Alls und kündigte laufend Unheil an, entsprechend lang schlief er in den Tag hinein. Georg hatte nicht die Absicht, ihn wecken zu lassen.

6.) Im letzten Bild-Feld schließlich erkannte er die Frau, in deren Händen vermutlich das Leben der fünf Reisenden lag. Sie saß an einer Art thekenlangen, mit komplizierten Ornamenten und Armaturen strukturierten Terminal und war auf der Bildfläche von Georgs Schirm im Halbprofil zu sehen. Ihr bleiches Gesicht, die weißen, in der Mitte gescheitelten, malerisch stirngelockt ins Gesicht fallenden Haare, ihr beinahe bläulicher, mindestens aber violetter Mund, der unaufhörlich redete, mit einer Gestalt, die sie zum großen Teil verdeckte. Die junge Frau, geboren und aufgewachsen auf dem Mars, war die Musikologin, Künstlerin und Raumfahrerin Cordula Späth IV.

Als die gigantische Expedition zum Zentrum der Galaxie aufgebrochen war, hatte vielen der Reisenden eingeleuchtet, dass auch Kulturschaffende und Gelehrte an Bord waren, obwohl sie eigentlich keine technologischen, astrogatorischen, militärischen oder wissenschaftlichen Qualifikationen aufwiesen. Der erste Grund für ihre Anwesenheit war offenkundig das Interesse der Expeditionsleitung an dem, was man etwas ungenau als fremde Kulturen bezeichnete und was im Grunde jene Bereiche der Erkenntnis abdecken sollte, die sich fremde Zivilisationen auf anderen als den vordergründig wissenschaftlichen Wegen erworben hatten.

Über den zweiten Grund für die Teilnahme der ÄsthetInnen an der langen Reise wurde nicht so offen geredet, dennoch war er allen, die mitreisten, klar: So fern der Heimat sollte das gemeine Personal hin und wieder teilnehmen dürfen an irgend einer Form von Kunst- und Kulturleben. Späth IV. hatte von direkter, körperlich angelegter Musik, zu der man tanzen konnte, bis zu kontemplativen Klängen, bei denen man die Augen (oder was man sonst hatte, um damit zu sehen) schloss und unwillkürlich Bilder und Eindrücke empfing, einiges zu diesem Kulturleben auf dem Mutterschiff beigetragen. So war sie zweierlei geworden: eine Art Pop-Star wie eine mit großem Ernst verehrte und respektierte Künstlerin. Deshalb, entsann sich Georg, hatte es von Kapitänsseite her auch keine Einwände gegeben, als Späth IV. zusammen mit Skr und dem Procyoner die Bitte an die Expeditionsleitung gerichtet hatte, das kleine Raumschiff, das ihr persönlich gehörte, für einen eigenen Abstecher in die Weiten des Raums diesseits des galaktischen Zentrums zu nutzen - man suchte noch rasch jemanden zum Navigieren und einen, dem man eine Art Befehlsgewalt übers Schiff übertragen konnte, fand beides in Clara und Georg, und so begann die Reise, die sie inzwischen (mithilfe des Schiffes der Fremden natürlich) vermutlich mehr als zwölf Lichtjahre von ihrem Ausgangspunkt, dem Sammelpunkt aller Kleinableger der großen Expedition, entfernt hatte.

(SCHNITT!)

Georg schob den leeren Frühstücksteller von sich. Im selben Moment erschien zwischen zwei lautlos auseinandergleitenden Schottöffnungen in einer Wand der Wabe wieder der kleine zylindrische Roboter, um die Reste zu entfernen.

»Nun, was hast du vor?« fragte die Stimme von Georgs fremdem Gesprächspartner.

Georg stocherte mit einem kleinen Zahnstocher zwischen den Zähnen herum und erklärte: »Ich würde gerne mithören, worüber sich Cordula und euer Mann unterhalten.« »Selbstverständlich.« Im selben Moment schaltete sich der linke obere Bildflecken mit dem Fremden aus, d.h. er wurde schwarz, dann folgten vier andere, bis nur noch der mit Späth IV. übrig blieb, dieser wuchs rasch an, bis er den ganzen Schirm ausfüllte.

(SCHNITT!)

Nun konnte Georg Späth IV. deutlich von hinten sehen, und der Blick wanderte zu ihrem Gesprächspartner, den Georg eben Euer Mann genannt hatte. Es war tatsächlich ein Mann - unverkennbar - ein Mensch. Markanter Charakterkopf, leuchtende Augen, antike Brille auf der Nase. Georg hörte, wie Späth IV. zu dem andern sagte: »Ich denke, dass Schönberg völlig recht hatte, als er in der Harmonielehre empfohlen hat, man solle bei solchen Stellen nur das tun, was zur Verbindung der Akkorde unbedingt notwendig ist. Die Stimmen klingen dann etwas unbeweglich, aber alles andere ist sozusagen Geschmier mit Tönen, das gilt auch noch nach ein paar tausend Jahren.« Ihr Gegenüber antwortete auf Deutsch, mit einem Akzent, den es schon seit Jahrtausenden nicht mehr gab, und der einst »österreichisch« geheißen hatte: »Ja, das hatte er von Bruckner. Auch Mahler hat darin manchmal brilliert. Eigentlich ein sehr konservativer Gedanke, aber wichtig und richtig.«

Georg wandte sich vom Bildschirm ab, der im selben Moment erlosch. Er beschloss, Späth IV. und ihren Gesprächspartner zu besuchen. Als er die Wabe verließ, sprach er ins Nichts seinen Besuchswunsch. Dieselbe Stimme, diesmal ohne Gesicht, die vorhin zu ihm gesprochen hatte, wies ihm den Weg durch Gänge und Schächte.

(ZURÜCKSPULEN)

(ZURÜCKSPULEN)

(ZURÜCKSPULEN)

Zwei Wochen nach dem Abflug hatte die Greg Tate das Ziel erreicht, das anzufliegen Späth IV. und Skr gefordert hatten - er, weil ihm das behaglich unheimlich war, und sie, weil sie sich davon Inspiration versprach: eine kleine gelbe Sonne vom Soltyp, die allein, ohne Begleitung von Planeten oder Asteroiden, im Leerraum herumhing. Georg saß in seinem Kontursessel auf der Brücke und trank einen heißen Kaffee mit Milch, während eine der häufigen Streitereien zwischen Skr und Clara aus der Funkerkonsole an seinem Ohr hin und her wogte, ohne dass er sie allzu sehr beachtet hätte.

»Wir sollten wirklich besser abhauen! Die Probleme mit den Schaltungen und dem Zugriff kommen nicht von unsachgemäßer Handhabung, sondern von da draußen!«

Georg sah über seine eigene Schulter aus den Augenwinkeln, wie Skr, der sich in Rage geredet hatte, auf den Panoramaschirm deutete, in dessen Zentrum der kleine gelbe Stern leuchtete. »Diese Sonne macht Deine Instrumente verrückt, und nichts anderes!« krächzte Skr. Georg wandte sich wieder seinem Kaffee zu und hörte Clara entnervt erwidern: »Du weißt vielleicht einiges über Sonnenflecken, aber nichts über Technik. Die Sonne muss erst noch entdeckt werden, die meiner Elektronik Probleme macht.«

In diesem Moment glitten vor Georg zwei Schotthälften auseinander und Späth IV. betrat in Begleitung des Procyoners die Brücke. Sie grüßte knapp, dann wandte sie sich an Clara: »Hast du immer noch diese Probleme mit den Terminals?«

Clara nickte nur verärgert, während Skr zu einem längeren Monolog ansetzen wollte : »Sowas musste ja eines Tages...« -

Späth IV. schnitt ihm das Wort ab: »Liebe Freunde, Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Arbeitsreise der Greg Tate, ich habe Euch was mitzuteilen.«

Xas-Bin-Qiese stand unbewegt an ihrer Seite; er wusste wohl schon, worum es ging.

»Ich habe Claras Beschwerden bislang nicht ernst genomen. Erstens, weil ich auf ihre Fähigkeiten vertraut habe, alles in Ordnung zu bringen«, fuhr Späth IV. fort, »und zweitens, weil ich selber ein kleines Geheimnis hatte. Seit wir hier sind, geschieht nämlich etwas mit allen Rechnern. Genauer: vor allem in den Speicherbereichen, die nur mir in meiner Kabine zugänglich sind - meinen Musikarchiven. Ihr wisst, dass ein Großteil der Rechenzeit der Rechner dieses Schiffes der Verwaltung meines Archivs dient; terranische, aber auch andere Musik. Dabei liegt der Schwerpunkt allerdings bei der terranischen, weil das nun mal der Zweig ist, aus dem sich meine eigene Arbeit entwickelt hat. Ihr wisst, dass ich mich für alle terranische Musik interessiere - sei es die eTune-Subkultur der Monoszeit, sei es altes Zeug aus den Entstehungstagen der Weltregierung.«

Georg nickte, er wusste Bescheid: eines von Späths bekanntesten Stücken, Dreizehn Fahrstuhl-Amseln, fußte auf der Arbeit eines terranischen Musikerkollektivs namens 13th floor elevators aus der Frühzeit der elektronischen Ära - so genante psychedelische oder Hippie-Musik. Vieles hatte sie auch aus altafrikanischterranischer Tradition oder den Werken der Zweiten Wiener Schule des frühen zwanzigsten Jahrhunderts alter Zeitrechnung entnommen. »Natürlich sind weite Teile meines Archivs unvollständig - über so genannten Heavy Metal, wie eine Strömung der populären Musik nach dem zweiten terranischen Weltkrieg hieß, habe ich nur sehr lückenhafte Aufzeichnungen, und über altbabylonische Musik ist fast nichts bekannt. Nun, seit wir hier sind, gilt für einige dieser Lücken, dass ich sie hatte.«

Georg, Clara und Skr hielten den Atem an. Sollte das heißen...?

»Ja. Genau. Irgendjemand, vermutlich von außerhalb des Schiffes, hat Zugang zu meinen Archiven und verändert deren Inhalt. Schließt Lücken. Zuerst dachte ich, einige der selbstständigen Programme, die ich entwickelt habe, um kompositorische Probleme zu lösen, hätten diese Lösungen gefunden. Aber entsprechende Anfragen wurden verneint. Und heute bekam ich das auf den Schirm:« - sie machte ein paar Schritte zu Claras Terminal, gab ein paar Werte ein, und die kleine gelbe Sonne verschwand vom Hauptschirm. Stattdessen war nun eine komplizierte Grafik zu sehen.

»Was zum sturzbesoffenen Alan Turing ist das denn?« fragte Georg.

»Man nennt es einen Klavierauszug. Es ist eine grafische Darstellung von Musik, in diesem Fall von Gustav Mahlers - das war ein Terraner - Achter Symphonie. Des ersten Satzes, um genau zu sein, aber das sagt euch nichts. Die roten Stellen sind heute ergänzt worden, sie waren mir nicht bekannt und gelten bei uns daheim als verschollen.«

Mindestens 40 Prozent der Grafik, schätzte Georg auf den ersten Blick, waren rot markiert. »Dass sämtliche Ergänzungen völlig treffend sind, dass also Mahler die fehlenden Teile geschrieben haben muss, niemand anders sie geschrieben haben kann, schon gar niemand aus der heutigen Zeit, müsst ihr mir halt glauben, ich kann's nicht beweisen. Aber mein Expertinnenauge und -ohr sagen mir's. Es muss so sein. Und das ist noch nicht mal das Erstaunlichste. Es hätte ja immer noch einer von Euch sein können, der's da reingepatcht hat. Aber dann fand ich am Ende des Klavierauszugs eine Notiz. Hier...: diese da.«

Die Grafik rutschte eine Weile nach oben, Zeile für Zeile, bis die unterste im Bild war. Späth IV. ließ sie vergrößern. Es waren andere Schriftzeichen als diejenigen, mit denen der Rest der Grafik geschrieben war. Nun ergriff Xas-Bin-Qiese das Wort, ein Translator übersetzte die trillernden Laute des Procyoners: »Cordula kam vor einer Stunde zu mir, holte mich vor ihren Bildschirm und zeigte mir diese Buchstaben da. Ich musste eine Weile suchen, auch meine eigenen Archive zu Rate ziehen - dass es terranische Buchstaben sind, war mir sofort klar, dass es Handschrift ist, ebenfalls - nur galt es noch, die Sprache zu erraten. Nun, es handelt sich um dieselbe Sprache, in der auch Mahler schrieb, wenn er Worte schrieb.«

»Aber Mahler ist nicht der Autor. Das da am Schluss -«, Späth IV., die jetzt wieder sprach, wies mit dem Zeigefinger auf das Ende der Symbolreihe - »sind zuerst Zahlen. Die Elektronik übersetzt sie mir als astronomische Positionsangabe, es handelt sich um einen nahen Orbit um den Stern vor uns. Nah genug, um im Ortungsschatten zu sein. Das letzte aber ist eine Namensabkürzung: A.v.W.« -

»Und was bedeutet die Notiz?« fragte Georg entgeistert.

Späth IV. gab erneut Werte ein, und die Elektronik verkündete über Lautsprecher die Übersetzung: »Hier Raumschiff Augenlicht im Orbit um Stern Passacaglia. Ich hoffe, dir gefällt die vollständige Symphonie so gut wie die Fragmente, die du kennst. Wenn ja, sende mir auf folgende Position (es folgten Daten) eine Nachricht, wir treten dann in Kontakt. A.v.W.«

Georg hatte sich als erster gefasst.

»Funk' zu dieser Position folgendes: hier Vivazuschauer, Kommandant der Greg Tate. Gebt Euch zu erkennen, wenn Ihr was von uns wollt.«

Clara funkte, und Späth IV. setzte noch hinzu: »Vielen Dank für die Daten. Wir sollten uns unterhalten, wenn du der bist, den ich dahinter vermute.«

Wenige Minuten später traf die Antwort ein - zunächst nicht in Form einer Sendung, sondern indem sich das Raumschiff Augenlicht zeigte. Es verließ den Orbit um den nahen solähnlichen Stern und füllte bald den ganzen Bildschirm aus: ein nach Orterangaben mindestens vier Kilometer langes Schiff, das aussah wie ein Dreispitz.

Etwa 20 Kilometer vor der Greg Tate bremste es ab und blieb im Raum stehen. Dann geschah, als nächster Gruß, etwas völlig Unerwartetes: In der Mitte der Brücke, vor Georgs Füßen, materialisierten drei Gegenstände, offensichtlich mit etwas ähnlichem wie einem Transmitter verschickt. Es handelte sich um Folien mit Symbolen.

Sie ähnelten der Grafik, die Späth IV. vorhin als Klavierauszug bezeichnet hatte. Georg hob sie auf, Späth IV. nahm sie an sich und studierte sie.

Dann endlich ein Funkspruch, denkbar knapp: »Ich komme rüber. A.v.W.« »Oh ihr Sterne, steht uns bei!« flüsterte Skr.

Im nächsten Augenblick stand mitten unter ihnen ein Mann, gekleidet in altertümlichem Stoff, bebrillt, mit kurzem, rechts gescheiteltem Haar. Dann begriff Georg, dass es sich um eine Holographie handelte: die rechte Schuhspitze des Gastes ragte in einen Terminal hinein.

Der Fremde sah Späth IV. und sprach sie an. Er hatte erst wenige Worte geredet, als die Translatoren ihre Arbeit aufnahmen: »...freue mich, dass wir uns endlich begegnen.«

»Ich mich auch. Aber eigentlich kann ich dir gar nicht begegnen«, setzte sie nach einer Pause hinzu, »denn du bist seit Hunderten von Jahren tot. Im Jahr 1945 alter terranischer Zeitrechnung wurdest du von einem amerikanischen Soldaten aus Versehen erschossen. Dabei war der Krieg bereits zu Ende.«

Der Fremde entgegnete: »Ein tragischer Unfall. Aber das Muster, das ich bin, die Information, wurde von den Fremden gerettet, die damals unerkannt eure... unsere Welt besucht hatten. Bei ihnen lebe ich noch heute. Ich lade dich und deine Freunde ein, sie kennenzulernen. Und mit dir möchte ich einiges besprechen.«

»Sehr gern. Ich würde auch... na ja... von deinen Werken ist wenig erhalten geblieben, es gibt kaum noch Partituren.«

»Naja, an vieles kann ich mich selbst nicht mehr erinnern. Ich hab' seitdem so viel Neues geschrieben.«

Späth IV. nickte bedächtig. Dann sagte sie -

(VORSPULEN)

»Anton von Webern« gab ein paar Informationen, wie die Greg Tate das Raumschiff der Fremden anfliegen sollte. Dann erlosch die Projektion. Im selben Moment, von den andern in der Aufregung kaum bemerkt, erlitt Clara ihren ersten Übelkeitsanfall.

(ABSCHALTEN)

Georg hatte die Zeit korrekt abgeschätzt: Als er sich auf dem S-Bahn-Sitz wiederfand, auf dem er den Holoplayer eingeschaltet hatte, gab die Ansagestimme gerade den Namen der Station durch, an der er den Wagen verlassen musste, wenn er halbwegs rechtzeitig zur Arbeit kommen wollte.

Neunte Möglichkeit

Beim Laden angekommen, war noch niemand da, obwohl Georg, wie er mit Blick auf die Armbanduhr erkannte, ein bisschen zu spät dran war. Keine Kunden vor der Tür, Uniformen waren nicht besonders gefragt im Moment. Georg schloss den Laden auf und begab sich hinter den Tresen, schaltete die Kasse ein und wandte sich dem altmodischen CD-Player zu, der da stand. Mal sehen - irgendwas werd' ich jetzt laufen lassen, was Schönes. Er betrachtete die neben dem Gerät gestapelten CDs und konnte sich lange nicht entscheiden. Irgendwann hörte er auf, sich vorzustellen, wie die Platten klingen könnten, wenn er sie hören würde, und sah sich stattdessen nur die Cover an. Dann fiel die Entscheidung leicht - er nahm die Deep Purple aus der Plastikhülle und wollte sie gerade in den Apparat legen, da fiel ihm ein, dass der CD-Player letzte Woche angefangen hatte, ernste Macken zu entwickeln. Unschöne Sprünge und Hänger versauten jedes Hören, bis ihm eine Kundin (die eine sehr teure alte Nato-Uniform kaufte, ein komplettes Outfit für einen italienischen Folgore-Fallschirmspringer) den Trick empfohlen hatte, mit einem Tesafilmstreifen kleine Münzen, Pfennig- oder Zweipfennigstücke, auf die Labelseite der CD zu kleben und so die Platte zu beschweren, weil die Ursache der Sprünge und Hänger meistens eine ausgeleierte Abfederung des Plattenbetts war »bei diesen alten deutschen Player-Fabrikaten«. Das hatte dann auch wunderbar funktioniert. Die Deep Purple war allerdings noch unbeklebt. Er öffnete die Sammelbüchse für bosnische Kinder ohne Kopf, aber mit Kiemen und fischte ein Zweipfennigstück raus, klebte es mit Tesa auf die Platte und schob sie in den Apparat, den er auf Endloswiederholung von Track 10 programmierte. Smoke On the Water. Musik für Erwachsene, die vom Leben nichts mehr erwarten.

Die Türglocke bimmelte. Ein dicker Mann mit auffälligem Hängearsch in schlecht genähten hellblauen Jeans betrat das Geschäft und kam gleich röhrend zur Sache. Unaufgefordert verbreitete er sich gut fünf Minuten über die alte Schweizer Armee, die Gardisten des 16. Jahrhunderts, die die Farben der Diana von Portiers getragen hätten (Georg hatte keine Ahnung, stimmte aber eifrig zu). So eine Uniform müsse er haben, schrie der dicke Mann, sofort, aber gleich, und gerade als Georg die Hände abwehrend hob und zu einer Erklärung ansetzen wollte, des Tenors, so schnell gehe das hier nicht, das sei ein sehr ausgefallener Wunsch und man müsse erstmal sehen - im selben atemholenden Augenblick gab der CD-Player, mitten während Blackmores schwer entgeisterndem Sologeficke, ein schepperndes und dann ein krächzendes Geräusch von sich. Die Musik verstummte und ein dünnes metallisches Kläng-kläng-kläng schepperte aus dem Innern der Maschine. Der brüllende Kunde hielt überrascht in seinem Sermon inne und Georg bedeutete ihm mit einer Geste, er solle mal einen Moment die Luft anhalten.

Georg schaltete auf Stop, das Kläng-kläng-kläng brach ab. Er presste Eject und holte die CD aus dem Kasten.

Der Tesastreifen klebte noch auf der Platte, aber die Münze war verschwunden. Dafür hing in der Mitte der Platte, wo eigentlich ein Loch hingehörte, eine flache kleine violette Sprechmatrize und schnurrte: »So if there's a meeting within an hour or two of your town, go to that one rather than have two smaller meetings fairly close to each other.« Die Platte konnte man wegschmeißen, keine Chance, das Ding da rauszuholen, wenn es sich einmal festgebissen hatte. Er nahm sich vor, jetzt definitiv mal die Päpstin oder den islamischen Zwölferrat anzumailen, und sich zu erkundigen, ob die vielleicht was wussten. Aber es sollte nicht dazu kommen. Ungeduldig schnaufte hinter Georg der Kunde.

In der Mittagspause, als die Sache mit dem Fettsack vergessen war und Georg sogar zwei weitere Kunden gehabt hatte, ging er in den Comicladen, zu Mutti. Sie hieß selbstverständlich nicht wirklich Mutti. Man nannte sie nur allgemein so, wegen der besserwisserisch warmherzigen Art, mit der sie die Kundschaft bevormundete (von bedienen konnte keine Rede sein). Demütig wartete Georg eine halbe Stunde, immer wieder begann sie, ihn abzufertigen, dann kam wieder was dazwischen, dann lagen alle Heftchen auf dem Tresen, ja, ein neues »Mr. Hero« war dabei und »Cerebus« und auch ein neuer »Hepcats«-Paperback von Martin Wagner, aber jetzt hatte Mutti wieder was anderes zu tun, telefonierte mit einer Freundin, und Georg stand nochmal zehn Minuten rum, bevor er bezahlen durfte. Komisch, dachte er, während er Mutti das Geld gab und sich ihre dämlichen Bemerkungen über seine und des Schafes Lieblingsheftchen anhören musste, da gebe ich denen hier im Monat 200 Mark und mehr, aber das scheinen kleinste Fische zu sein, denn obwohl sie mir manchmal Kredit gibt, lässt Mutti mich doch jedesmal unmissverständlich spüren, dass ich was von ihr will, nicht sie von mir, und wenn's mir nicht passt, kann ich mich ja aufhängen. Bedröppelt trollte sich Georg zurück zum Uniformenladen. Als er eintraf - er hatte seine Pause um eine Viertelstunde überzogen - stand natürlich der Chef vor der Tür. »Ich sehe, wir nehmen das mit den Öffnungszeiten nicht so genau?« maulte der Wichtige sarkastisch, und Georg dachte düster: Vielleicht muss ich mir bald keine Sorgen mehr machen wegen der Montage.

Der Nachmittag war langweilig wie selten zuvor, der Chef verzog sich lang vor Ladenschluss nach Hause, und Georg hatte genug Zeit, mit glasigem Blick an der Kasse herumzuhocken und sich den Rest des Holoplayer-Films reinzuziehen:

Georg betrat die Wabe, in der Späth IV. mit Webern saß, und zückte seine Waffe. Keinen Moment lang fragte er sich, woher diese Waffe, die offenbar zum Scrpit gehörte, überhaupt kam, und warum sie ihm niemand abgenommen hatte. Er wusste nicht einmal, worauf er den Strahler richten sollte, denn Webern war ja eine Projektion, und Späth IV. gehörte zu Georgs Mannschaft. Also fuchtelte er unschlüssig mit dem Instrument herum und schnaubte: »Ich hab jetzt lang genug zugeschaut. Ich weiß, dass dieses Schiff sich bewegt. Wir werden entführt. Dieses Ding da« - er wedelte den Lauf in Richtung Webern - »ist kein toter terranischer Künstler, sondern bloß eine Fiktion, ein Trick, dich hierzubehalten, und uns andere zu entführen. Ich bestehe darauf, dass du mit mir zum Raumschiff kommst. Ich bestehe darauf, dass wir sofort abfliegen. Ich bestehe darauf, dass wir Clara mitnehmen..., sonst eben ohne dich, Cordula!«

Späth IV. sah Georg direkt an und sagte ernst: »Was heißt ohne mich? Willst du mich zurücklassen? Oder erschießen?«

Georg presste die Worte mehr aus dem Magen, als dass er sie sprach: »Wenn's sein muss, ja. Dann erschieß ich dich eben.« Er merkte, dass das, was er redete, zum Drehbuch des Holofilms gehörte, und war ein bisschen enttäuscht: ziemlich sinnloser Dialog.

Das Schott hinter ihm öffnete sich. Zwei Außerirdische betraten auf dünnen schwarzen Beinen den Raum. Sie waren fast drei Meter groß und unbewaffnet. Georg zielte abwechselnd auf beide und schrie: »So, jetzt kommen also die Wärter! Aber ich blas' Euch weg, ich schieß Euch nieder! Ich habe viel zu lange gezögert...« Er machte tatsächlich Anstalten, zu feuern. Beide Fremde wichen einen Schritt zurück und ihre Gesichter knisterten aufgeregt. Da sprach Späth IV. ruhig, beinahe traurig: »Es ist genug. Dein Problem wird gelöst. Die Greg Tate wird zurückkehren.« Jetzt sprach Webern, es klang bittend: »Aber wir müssen doch arbeiten..., hier, sieh...« Er zeigte mit beiden Händen auf die Folien, die auf dem Terminal lagen. Georg wollte (sollte?) etwas erwidern, aber Späth IV. hob die Hand: »Ich bleibe hier.« »Das wirst du nicht!« schrie Georg, »ich habe eine Verantwortung für dich! Und wenn ich dich zwingen muss...«

»Ich weiß längst alles, was du sagen willst. Nein, es war nicht richtig von den Fremden, unsere Navigatorin krank zu machen, um mich hier festzuhalten. Aber sie werden sie freigeben. Und es werden keine Folgen zurückbleiben. Ich weiß auch, dass Webern nicht Webern ist. Dass sein Bild gewählt wurde, weil die Fremden aus den Datenbanken der Greg Tate, die sie anzapfen konnten, erfahren haben, wie ein Interface aussehen muss, das mein Interesse wecken könnte. Webern ist einfach ein Weg, mit mir zu reden. Denn das Erste, was sie aus meinen Speichern erfahren habe, war, dass sie mit mir reden müssen, weil sie nach jemandem wie mir gesucht haben. Sie sind übrigens Telepathen. Auf ihrem Heimatplaneten...«

(VORSPULEN)

Georg sah eine sterbende Welt. Aber nicht die Welt selbst starb, nur ihre intelligenten Bewohner. Das hier war die Heimatwelt der Fremden, die sich N'Us nannten. Zu Millionen lagen die Sterbenden in den Städten auf den Straßen, auf den Stufen großer öffentlicher Gebäude, auf den Autobahnen... Ein Nervenfieber hatte sie erfasst. Ihre Gesichter zitterten, warfen Blasen, tropften, verflüssigten sich. Ein Virus war mutiert. Die einzige Wissenschaft, die helfen konnte, schien die Neurovirologie, aber alles blieb erfolglos. So wurden schließlich Raumschiffe ausgesandt, riesige Botenschiffe, die bekannte und unbekannte Zivilisationen um Hilfe ersuchen sollten. Aber die neuronale Struktur der N'Us glich keiner anderen Art. Potenziale wurden bei den N'Us nicht elektrochemisch übertragen, sondern durch kleinste Schwingungen von Material. Das Denken der N'Us war hochfrequentes Echoleben, verlief entlang von Schallfrequenzen, wie Musik. Da begegnete ein Schiff namens T'Wenai (was so viel wie Sehen können bedeutete, i.e. Augenlicht) der Greg Tate. In deren Speichern fanden die Mediziner Aufzeichnungen über Strukturen, die denen des N'Us-Gehirns und der es schädigenden Viren exakt entsprachen. Die medizinischen Kenntnisse des fremden Volkes waren denen der N'Us scheinbar weit voraus. Als sich herausstellte, dass jene fremden medizinischen Aufzeichnungen Kompositionen hießen, wollte man die eigenen Forschungen damit vergleichen - das waren die auf den Folien geprägten. Und als schließlich bekannt wurde, daß an Bord der Greg Tate jemand lebte, der diese Berechnungen fortsetzen und sogar eigene anstellen konnte, musste dieses Wesen unbedingt -

(VORSPULEN)

»Das ist die Wahrheit, Georg. Das Schiff hat sich seither nicht bewegt. Wir sind noch immer im Orbit um die kleine Sonne.«

Georg zögerte. Dachte nach. Und schließlich verstand er, warum sie mit den Fremden gehen musste. Dennoch verlangte er -

(VORSPULEN)

Wenige Tage, nachdem die Greg Tate mit vier Besatzungsmitgliedern, die sämtlich wohlbehalten waren, wieder am Sammelpunkt der Galaktiker eingetroffen war, empfingen sämtliche galaktische Sender auf den Schiffen am Rande der Großen Leere ein Hyperfunksignal mit einer großen Menge Daten.

Es handelte sich um ein Musikstück mit dem Titel Passacaglia Opus 1. / Bearbeitung nach Anton von Webern / von Cordula Späth IV.

(AUSSCHALTEN)

Ein ziemlicher Kitsch, diese Erfahrung, dachte Georg leicht angesäuert, und dazu noch unlogisch: Woher kam die Waffe? Außerdem hatte er sich irgendwie ein bisschen mehr Action erhofft. Tja, neue Medien. Vielen Dank.

Zehnte Möglichkeit

Ich möchte zeigen, dass der Begriff des Sichvorstellens, Sich-vor-Augen-Führens oder Sehens ein rechtmäßiger und nützlicher Begriff ist, aber dass er nicht die Existenz von Abbildern nach sich zieht, die wir betrachten, oder von Galerien, in denen solche Abbilder vorübergehend hängen. Grob gesprochen: Vorstellungen kommen vor, aber Vorstellungsbilder werden nicht gesehen. Melodien gehen mir im Kopf um, aber es werden keine Melodien gehört, wenn sie mir dort umgehen. Gewiss ist einer, der sich sein Kinderzimmer vorstellt, in einer gewissen Weise jemandem ähnlich, der es sieht, aber die Ähnlichkeit besteht nicht darin, dass er wirklich ein wirkliches Abbild seines Kinderzimmers ansieht, sondern darin, dass er das Kinderzimmer selbst wirklich zu sehen scheint, während er es nicht wirklich sieht. Er ist nicht der Beschauer einer Imitation seines Kinderzimmers, sondern er ist die Imitation eines Beschauers seines Kinderzimmers.
Gilbert Ryle; Der Begriff des Geistes

Elfte Möglichkeit

Nach der Arbeit stand Georg in der Kneipe. Er hatte gehofft, das Schaf dort anzutreffen, aber es waren nur die üblichen Leute da - Hirnchirurgen vom Guten Weißen Berg, Ex-Theologinnen, Nullen, Tote, Journalisten, Satirikerinnen, ein paar Angestellte beim städtischen Brückenbau, ein paar Lügner, alles Leute, mit denen er sich nicht unbedingt unterhalten mochte. Einer von den Toten verwickelte ihn dann doch in ein Gespräch, und während es zwischen ihnen beiden während zahlloser Biere so hin und her ging über Gift und Galle, Kriege und neue Musik, dachte Georg, warum habe ich dagegen nichts unternommen, als es noch Zeit war, dass mein Leben in so einen blöden Kram ausartet, so eine verhangene Routine mit Schleim und Speiübelkeit, oder wie geht das überhaupt vor sich, gestern war ich noch eine vernünftige Romanfigur, heute bloß ein verängstigter Trottel unter Millionen allein in dieser Stadt, und werweißwievielen anderswo. Georg hörte sich selbst zu seinem toten Gegenüber sagen: »Diese Stadt hat ein Problem, und das sind nicht die Matrizen. Vielleicht sollten wir ein bisschen weniger achtlos mit... mit allem umgehen.«

Der Tote lachte laut auf. Er prustete: »Ein bisschen weniger achtlos! Wie schön! Wie wunderschön! Weißt du, wie man das nennt? Das nennt man Litotes, mein Sohn! Untertreibung durch harmlose Nennung der Verneinung des Gegenteils des Gemeinten! Klassische rhetorische Figur, mein Junge! Glänzend! Wie sagtest du, war dein Name?«

Georg schüttelte den Kopf und lachte etwas gezwungen mit.

Zwölfte Möglichkeit

Ob diese Stadt so ganz wahr sein kann? Vielleicht ist sie eine Sandburg. Eine sehr komplizierte. Ich mag diese Stadt, doch, wirklich, ganz ehrlich, und mag der Teufel wissen, warum. Im Sturz durch Raum und Zeit. Auf Feuerrädern über Brücken Richtung Zukunft durch die Nacht, aber was weiß denn ich. Diese Stadt ist ausgedacht. Bloß gut, dass ich nicht die Verantwortung trage, d.h. nicht derjenige bin, der sie sich ausgedacht hat.

Hallo. Hallo, Mädels. Hi, Fans. Tach, Dweebs, Feebs und Weenies. Ich grüße euch alle. Viva liebt dich. Ich sagen, das ist nicht sehr beliebt. Alle Musikjournalisten machen das aber, nur weiß die Leserin und der Leser dann natürlich, dass sie es nicht wirklich so meinen, darum ist es dann okay. Sie meinen nicht sich, sie meinen: so ein typisches, klassisches, bestens unterrichtetes Ich, als Hohlform von Dingsbums und Fitze Fitze Fatze, so ein Bündel Ohren und Scheiße und Probleme. Lauter Kram, den es gar nicht gibt. Alles Pantomime, aber wie man auch noch den Pantomimen selber pantomimisch darstellen kann, ohne dabei verrückt zu werden, das hat mir nie eingeleuchtet. Ich bin für viele Sachen zu blöd. Zum Beispiel die Unterhaltungselektronik: Warum wird die so schnell besser, während sonst so schnell überhaupt nix besser wird? Stand der Produktivkräfte und so, ne? Wahnsinn. Da kann man dann ganz viel erklären den lieben langen Tag. Zum Beispiel diese Kristalle, auf denen dann so blöde Science-Fiction-Spielchen / Filmchen oder Gedichte von Wallace Stevens drauf sind. Toll, was da für Datenmengen drauf gehen, auf so einen Kristall. Eine sehr lange und komplexe Theorie erklärt das alles, wie das geht, Fremdatome in so einem Kristall, Lichteinfall durch Interferenzmuster, Diffusion oder Drift, freigesetzte Ladungen, beweglich und unbeweglich (mit entgegengesetztem Vorzeichen), und dann die Technologie zum Abspielen: Linse, Phasenmodulator, Referenzstrahlen... sehr bewundernswert. Trotzdem zahlt die Krankenversicherung die Zahnsteinentfernung nicht mehr. Da stimmt doch was nicht! Aber echt! Es wird viel geredet, und einen Haufen davon verstehe ich nicht, keinen Meter, keine Chance. Gott sei Dank. Die meinen alle alles nicht so. Kenne ich auch als freier Autor. Wenn man es so meint, wird es rausgekürzt von dem Redakteur in dem Heft. Ich habe lange gebraucht, bis ich nicht mehr jede Ablehnung einer Plattenbesprechung, an der ich vier Tage geschuftet hatte, als persönlichen Angriff empfand. Noch länger, bis ich einfach fast (wichtig: fast!) keinen Bock mehr hatte, irgendwas zu schreiben, wenn es keine Songtexte waren. Mir das auch noch aufzuhalsen, dieses Vermitteln zwischen der Welt der Musik, die ich in meinem Kopf hören konnte, und der Welt da draußen, wo niemand diese Musik gehört hat (ich hab auch lange gebraucht, bis ich kapiert habe, dass die da draußen diese Musik gar nicht hören wollen, na also, verdammt nochmal), das war so idiotisch und außerdem opportunistisch (wie wenn man als heterosexueller Bock einem Mädchen nachstellt, nicht weil man mit diesem Mädchen die Wunder der Liebe erleben will oder sowas, sondern weil man glaubt, die könnte man leicht rumkriegen. Habe ich nur zweimal gemacht, als ganz junger Hirsch, naja, oder Bock, und da gab es zu Recht auf die Fresse für). Jetzt schreibe ich hauptsächlich nur noch Texte, die ich dann singen kann. Das ist die Lösung. Da muss ich nicht mehr denken: Was werden die Leute denken? Denn ich kann sie nicht hören, wenn ich ins Mikrofon schreie. Da können sie denken und reden, was und so viel sie wollen. Die Leute wollen's nicht hören, ist ihr gutes Recht, aber ich will hören und singen. Jetzt geht es mir echt viel besser. Ich liege in meiner nicht besonders großen Wohnung in der Nordstadt auf einem großen Bett, das mir nicht gehört, das ich aber behalten darf, und höre eine schöne Schallplatte, während ich diese Wörter hier denke, die komischerweise jemand lesen kann, obwohl ich sie nicht aufschreibe, aber das macht dann irgendwo ein Schriftsteller für mich. Das muss ich gar nicht selber machen. Die Jalousien sind ein Stück runtergelassen, aber genug Licht fällt noch ins Zimmer. Nachher werde ich Fernsehen gucken, Talkshows, heute sind zwei Schafe bei Hans Meiser unter den Gästen. Ich mag Talkshows mit Schafen. Besser als mit Rindern. Rinder sind ja manchmal echt voll wahnsinnig. Das muss nicht sein. Gut, Talkshows mit Amseln sind noch ganz okay. Gute Musik. Trotzdem: Ich möchte selber nicht mit einer Amsel Musik machen. Ich hätte aber gern ein Schaf in meiner Band, weil die so clever sind, wir haben auch Anzeigen aufgegeben, aber die Schafe in Borbruck wollen scheint's nicht Musik mit uns machen. Meine Band ist schon toll. Wir sind wie professionelle Gangster. So wie Bankräuber immer kollektiv eine Menge Szenarios und Raumaufteilungen und Sicherheitsschaltpläne im Kopf haben, wenn sie ihren Bankraub planen, so haben wir kollektiv immer Musik oder einen Auftritt oder manchmal, wenn wir ein Studio kriegen und einen Produzenten und einen kleinen Vertrag, sogar eine Platte in unseren Köpfen, in unserem Kopf. Das ist so geil, ich wollte das immer. Die ganze andere Scheiße, wie Musikjournalismus usw., wovon ich dachte, das gehört dazu, oder man kann sich so Kontakte aufbauen und alles diese Scheiße, das war so hinderlich. Ich hätte von Anfang an dabei bleiben sollen, dass es ein Mist ist, wenn es nicht ein neues Lied machen hilft.

Alles, was nicht dazu beiträgt, ein neues Lied zu machen, ist bloß Mist. So simpel ist das, man glaubt es kaum! Aber wahr!

Manchmal ergehe ich mich in seltsamen Vorstellungen. Manchmal sehe ich von oben und innen (gleichzeitig) diese ganze Stadt, diese ganzen Brücken auf einmal, und dann rot markiert, wie stecknadelkopfgroße Leuchten, unter den schwarzen Ameisen, die hier als Menschen rumlaufen, sehe ich diese roten Ameisen, die nur an irgendeine einzige Sache denken, wenn sie überhaupt denken. Die so sind wie ich. So wie ich immer, auch wenn ich nicht an die Musik denke, auf die Musik hin denke, so denken diese Leute vielleicht dauernd an Sex (ist natürlich auch ein prima Thema für Songs, aber schwierig), oder dauernd an Geld (für mich: eine Möglichkeit, mehr Lärm zu machen) oder an einen Roman über Borbruck, in dem alles steht. Georg Wilhelm Friedrich Vivazuschauer denkt wohl andauernd an sein Schicksal, was immer das eigentlich Seltsame ist, ich hab' es nie kapiert. Die Päpstin denkt auch immer nur an Eines oder auf Eines hin, das sieht man ihr an. Nicht, dass ich sie je aus der Nähe gesehen hätte, aber man sieht es halt, im Fernsehen, auf Fotos, das wissen alle. Es ist sogar so, dass, wenn ich jemandem, der mich nicht versteht, erklären soll, wie das ist, nur an eine Sache zu denken, dass ich dann als Beispiel immer die Päpstin bringe, und die meisten das sofort verstehen, obwohl sie sich dann in die argumentative Scheiße reiten, wenn sie daraufhin behaupten, das sei doch kein Beispiel für eine Theorie, sondern normal bei 'ner Päpstin, das sei ihr Beruf, sie sei eben ständig komplett religiös drauf, und deshalb müsse das noch lange nicht bei Leuten so sein, die unabhängig von ihrem Beruf immer nur an Eines denken. Ich glaube, das Argument ist aus zwei Gründen nicht geeignet, meine Theorie, dass es eben diese anderen Menschen gibt, die immer nur an das Eine denken, diese one-track-minds, diese kriegerischen roten Ameisen, zu widerlegen. Erstens ist es doch blöd, zu sagen, sie denkt immer an Religion, weil sie Päpstin ist. Höchstens umgekehrt wäre das sinnvoll - also wenn, dann ist sie unter anderem deshalb Päpstin, weil sie immer an Religion denkt. Aber ich glaube das nicht. Ich glaube das wirklich nicht. Ich glaube nämlich vielmehr, naja..., also: Der zweite Grund, warum das Argument Scheiße ist, ist der, dass diese Leute sich die Päpstin nie genau angeguckt haben. Dieses Wissen um den Mund. Die grünen Augen. Das Ganze. Die denkt nämlich gar nicht an Religion. Ich weiß nicht, woran sie denkt, ich weiß, sie denkt immer nur an Eines, aber es ist nicht Religion. Vielleicht, glaube ich manchmal, vielleicht ist es sogar Musik, wie bei mir. Aber das kann nicht sein. Vielleicht (denke ich, wenn ich einen Trip geschmissen habe) denkt sie auch an alles, und das ist dassselbe, wie an Eines zu denken. Also nicht an Vieles, sondern an alles. Dann ist sie die Königin der roten Ameisen. Wahrscheinlich stimmt das. Aber es gibt noch eine zweite Möglichkeit: dass das Eine, an das sie denkt, der Gedanke ist, an nur Eines zu denken. Verstehst du? Ist ganz schön deeper Scheiß, das gebe ich zu, aber..., eben: Der Gedanke, an Eines zu denken, ist das Eine, an das sie denkt. Meta-Ebene, sagen sie an der Uni dazu. Wobei, nicht ganz Meta, denke ich. Eher so wie ein Kanon in der Musik. Vielleicht spinne ich auch, in der Tat, wenn ich an das denke, woran ich denke, wenn ich an die Päpstin denke. Man kann viel über diese Frau nachdenken. Viele BorbruckerInnen machen das bestimmt oft. Vielleicht machen es aber auch nur die, die sonst immer nur an Eines denken. Vielleicht machen sie das dann zum Abschalten, so wie ich: Wenn sie nicht an ihr Eines denken, denken sie an Ihre Heiligkeit Coda Code. Die Roten Ameisen denken an die Königin, an ihre Königin. Ist schon eine vollkommen wahnsinnige Stadt, die wir da haben. Ich bin gern hier, obwohl das vielleicht von diesen CD- und Computer-Maschinen kommt und von den Holoplayern, die man hier kaufen kann, von der ganzen Unterhaltungselektronik eben, die ich gerade noch kritisiert habe (Meikl, mein Gitarrist, hat die Theorie, dass uns diese Maschinen nicht nur lesen, sondern auch beherrschen, kontrollieren und verblöden. Unser Drummer glaubt dasselbe vom Fernsehen. Wenn sie nicht über Musik reden, reden sie darüber. Also nicht dauernd, aber manchmal). Ich lebe gern hier, obwohl ich vielleicht gar nicht beurteilen kann, ob ich gern in Borbruck bin, weil ich etwas anderes ja gar nicht kenne. Nie woanders war. Na und.

Ich mache hier Musik, in Borbruck.

Ich heiße Dieter Deep, meine Gruppe heißt Deep Purple und ist die allerbeste Gruppe in dieser Stadt. Aber das wissen höchstens 250 Leute. Als ich noch wollte, dass das mehr Leute wissen, war es noch gar nicht wahr. Da waren wir noch nicht die beste Gruppe der Stadt. Ich frage mich, wie herum dieser Zusammenhang gedeutet werden muss, damit er eine wichtige Wahrheit aussagt und nicht nur einen banalen Scheiß von wegen, dass man seine Kräfte bündeln muss und eine Sache richtig machen, statt viele Sachen halb.

Gerade habe ich eine Idee für einen Song, die ist wunderbar. Es wird darin darum gehen, wie großartig diese Band ist, und dann im Refrain darum, dass das, was viele Bands immer wieder von sich gesagt haben, dass sie großartig seien, es aber in all diesen Fällen nie gestimmt hat bis zu uns, weil erst wir wirklich großartig sind, und zwar einfach deswegen, weil wir nicht verrückt sind, sondern völlig normal. Im Gegensatz zu allen anderen Bands, die jemals existiert haben. Wir sind absolut vernünftig und nicht wahnsinnig. Jeder von uns weiß, was hier los ist. In Borbruck.

Also auf der Welt.

Und in der zweiten Strophe werde ich dann das Geheimnis offenbaren. Das wird irgendwas entsetzlich grotesk Albernes sein, wie zum Beispiel, dass wir in Wirklichkeit alle Außerirdische sind. Mal sehen, was dann als nächstes kommt. Lärm womöglich.

Dreizehnte Möglichkeit

Als Georg nach Hause kam, war das Schaf schon zu Bett gegangen. Die Spinnweben hatte der Wachdienst aus der Wohnung entfernt.

Vermutlich war jetzt alles prima eingesprüht, die Spinne kam bestimmt nicht zurück. Georg seufzte, setzte sich an den Küchentisch und checkte noch schnell den anderen Kristall für den Holoplayer. Das erste Gedicht, das um ihn herum aufleuchtete und in seinem Kopf gesprochen wurde, dessen Worte er schmeckte und dessen Textur ihn einhüllte, hieß

»Thirteen Ways of Looking at a Blackbird«. Die erste Strophe ging so:

»Among twenty snowy mountains, / the only moving thing / was the eye of the blackbird.«

(AUSSCHALTEN)

Nein, wirklich: das war ihm jetzt zu anstrengend, diese Lyrik, dieses Sentiment.

Georg ging ins Bad, wusch sich, kleidete sich um.

Er ging ins Schlafzimmer, schlüpfte unter die Decke und hörte das Schaf atmen. Vielleicht, dachte er verwundert, ja: Vielleicht sollte ich sogar dankbar sein, nicht nur für den Job, sondern für alles, für Mutti, für die Toten, für Litotes, wer weiß wozu's gut ist.

Dann schlief er ein.

Dietmar Dath, geboren 1970, veröffentlicht seit 1990 journalistische und literarische Texte. Von 1998 bis 2000 war er Chefredakteur der Spex. Dath hat die Romane »Cordula killt Dich« (1995), »Die Ehre des Rudels« (1996) und »Am blinden Ufer« (2000) veröffentlicht. Soeben ist sein neuester Roman »Skye Boat Song« im Verbrecher Verlag erschienen (Berlin 2000).

Lewis Trondheim, geboren 1964, lebt in Paris und ist Gründungsmitglied der Gruppe »L'Association«. Er veröffentlicht regelmäßig in Lapin. Die Illustrationen [der Printausgabe] sind mit freundlicher Genehmigung des Verlages seinem Buc