»Kein Schlussstrich«

Ein Gespräch mit der Philosophin Bozena Uminska über die Vergangenheitsbewältigung in Polen

Welche Parteien oder Politiker haben sich bislang zu Jedwabne geäußert?

Präsident Aleksander Kwasniewski (SLD) und Premierminister Jerzy Buzek (AWS) haben unmissverständlich erklärt, sich für Jedwabne entschuldigen. Einer der Führer der ZChN (Christlich-Nationale Vereinigung), Michal Kaminski, fuhr hingegen nach Jedwabne und vergewisserte sich dort, dass die Polen mit diesem Verbrechen nichts zu tun gehabt hätten und es die Deutschen gewesen seien. Bezeichnenderweise reisten Kaminski, ein Redakteur der Zeitung Zycie (Leben), und ein weiterer Abgeordneter der Rechten vor einiger Zeit nach London, um Pinochet zu besuchen. Damals war noch unklar, ob er von der britischen Regierung an Spanien ausgeliefert würde. Kaminski schenkte Pinochet bei dieser Gelegenheit ein religiöses Halsgehänge, ein Symbol der Ritterlichkeit und des christlichen Glaubens. Eine symbolische Geste, in der sich Faschismus mit der polnischen, katholischen Traditionen verbindet.

Die Debatte um Jedwabne spielt sich also vor allem zwischen der Rechten und der Linken ab. Außerdem haben sich wohl alle Zeitschriften in Polen mit dem Thema befasst. Die Fakten über das Pogrom in Jedwabne waren zwar bereits vorher einer kleinen Anzahl Menschen bekannt, aber erst das Buch von Gross führte zu einer breiten Debatte, die bis heute anhält. Wesentlich ist dabei auch, dass das Buch zunächst in den USA herausgekommen ist, die Debatte also von Beginn an eine internationale Dimension hatte.

Ist die Entschuldigung Kwasniewskis nur ein Versuch, einen Schlussstrich unter die ganze Debatte zu ziehen?

Ich denke, dass Kwasniewski die Bedeutung dieser Angelegenheit für die polnisch-jüdischen Beziehungen klar ist, und er nicht um Verzeihung bittet, um einen Schlussstrich zu ziehen. Wie sollte so ein Schlussstrich, ein solches Ende auch aussehen? Schließlich sehen intelligente Leute, dass dies der Anfang der polnisch-jüdischen Auseinandersetzung ist, und ich bin der Meinung, dass Kwasniewski intelligent ist - mal ganz unabhängig von politischen Sympathien.

Läuft die Auseinandersetzung ausschließlich auf der Ebene der »hohen Politik« bzw. in den Feuilletons, oder hat sie auch eine alltägliche Dimension?

Nach meiner Auffassung wird seit zehn Jahren einer der grundlegenden polnischen Kriegsmythen beschädigt: dass die Polen hilflose Zeugen der Vernichtung der Juden gewesen wären. Und dass sie selbst ebenso gelitten hätten wie die Juden. Gegen diese Mythen spricht auch, dass sie zum einen nicht immer hilflos, sondern sogar häufig mit dem Tod der Juden einverstanden waren und willige Helfer der Deutschen wurden. So wie etwa die so genannten Szmalcownicy oder Denunzianten. Den Lesern der Gazeta Wyborcza (1) fiel es vor einigen Jahren schwer, zur Kenntnis zu nehmen, dass während des Warschauer Aufstandes des Jahres 1944 - also nicht des Ghettoaufstandes des Jahres 1943! - Polen, die zur Armia Krajowa gehörten, zur polnischen Heimatarmee, Juden erschlugen.

Jedwabne ist ein weiteres Symbol und, wie ich denke, ein sehr schmerzhaftes, weil man hier ebenfalls zur Kenntnis nehmen muss, dass Polen Juden ermordeten. Und selbstverständlich bin ich der Ansicht, dass es im Grunde nicht von Bedeutung ist, ob die Deutschen sie dazu ermunterten, denn es waren schließlich Polen, die es taten.

Spielen polnische Selbstbilder bei der Debatte eine Rolle bzw. werden nationalistische und antisemitische Muster reproduziert?

Das größte polnische Problem ist eine gewisse Selbstzentriertheit, und dass dieser Egoismus es nicht erlaubt, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, auf kein anderes Leiden, nur auf das eigene. Dieser Egoismus ist eine Spielart des hierzulande recht verbreiteten Nationalismus. Selbstverständlich facht die Diskussion um Jedwabne diesen Nationalismus an. Sie holt auch antisemitische Stereotype an die Oberfläche, besonders das von der »Judenkommune« (Zydokomuna) (2). Entsprechend behaupten rechte Historiker wie z.B. Tomasz Strzembosz (3), dass Polen Juden aus Rache dafür ermordeten, dass diese mit den Sowjets zusammengearbeitet hätten. Und sowieso hätten eigentlich nicht die Polen, sondern die Deutschen mittels polnischer Handlanger gemordet.

Sehr häufig stelle ich fest, dass sich Menschen quasi missbraucht fühlen; dass das polnische Leiden durch das jüdischen in den Hintergrund gestoßen würde, und das mögen viele Polen nicht. Mehr noch als das, können sie es überhaupt nicht akzeptieren. Umso weniger, als der »Konkurrent« die Juden sind, ein Volk, über das der polnische Diskurs unsicher, schwierig, schematisch und voller Vorurteile ist, aber besonders in letzter Zeit mitunter auch guten Willens.

Was für eine Rolle spielt die katholische Kirche?

Die Rolle der katholischen Kirche könnte man sich schlimmer gar nicht vorstellen. Der Primas Polens, Jozef Glemp spricht u.a. von »Kommunisten mosaischen Glaubens«. Selbstverständlich geht es ihm um das Muster der »Judenkommune«, aber er möchte es anders ausdrücken. Ein wirklich fürchterlicher Mensch. Er möchte sich nicht entschuldigen und steht dabei unter einem gewissen Druck; die Einstellung des Papstes macht vielleicht einen Teil dieses Drucks aus. Und es ist klar, dass er mit seinen Äußerungen antisemitische Klischees präsentiert.

Es gibt auch sehr mutige Priester, wie Musial (4) oder Czajkowski, den Primas Glemp (5) öffentlich dafür kritisiert, dass er vom Antijudaismus der Kirche spricht. Es gibt auch die Tygodnik Powszechny (Allgemeine Wochenzeitschrift), ein Organ der aufgeklärten Christen, das für Czajkowski und Musial und gegen den Primas Stellung bezieht.

Hat die Debatte um Jedwabne einen Einfluss auf die deutsch-polnischen Beziehungen?

Ich denke nicht, dass diese Diskussion etwas mit den polnisch-deutschen Beziehungen zu tun hat. Das sind verschiedene Bereiche. Im Grunde genommen geht es bei Jedwabne um ureigenste polnische Geschichte. Manche verstehen das. Nehmen wir beispielsweise die verblüffend gerechte Haltung von Leon Kieres, dem Chef des Institutes für nationales Gedächtnis (Instytut Pamieci Narodowej, IPN). Er sagte, es geht um den Mord polnischer Bürger an anderen polnischen Bürgern.

So wird selten gesprochen. Juden sieht man kaum als »polnische Bürger«, obwohl sie dies zweifellos waren und sind. Man nennt sie nicht so, weil man ihre Fremdheit betonen möchte. Genau diese Formulierung ist in Polen kaum anzutreffen: »Juden als polnische Bürger«.

Dr. Bozena Uminska ist Philosophin, Poetin, Literatur- und Filmkritikerin sowie Übersetzerin. Sie arbeitet am Fachbereich Gender Studies der Universität Warschau. Das Interview führte Franziska Bruder.

Anmerkungen

(1) Die Gazeta Wyborcza ist eine der größten polnischen Tageszeitungen.

(2) Der Begriff »Zydokomuna« stammt aus der Zwischenkriegszeit. Er zieht die Begriffe Juden und Kommunismus zusammen, indem er den Kommunismus mit den Juden assoziiert und umgekehrt.

(3) Tomasz Strzembosz ist einer der führenden Gegner Gross' in der Jedwabne-Debatte. Er arbeitet vor allem zur Geschichte der Armia Krajowa und der polnischen Pfadfinder und setzt sich offensichtlich ein für den guten Ruf Polens.

(4) Pfarrer Stanislaw Musial ist ein seit langem in Polen bekannter und engagierter Kritiker antijudaischer Positionen der Kirche. Er kritisierte z.B. die Einstellung Glemps und anderer, man könne erst dann um Vergebung bitten, wenn die andere Seite dies ebenfalls tue. Er forderte auch, dass die Kirche praktische Schritte gegen den Antisemitismus einleite, z.B. den Verkauf antisemitischer Pamphlete auf Kirchengelände unterbinde.

(5) Glemp sprach im Mai in einem Interview in der Gazeta Wyborcza von der »sehr schlechten Arbeit von Pfarrer Czajkowski, der unentwegt der Kirche Antisemitismus unterstellt«. Solche Erscheinungen von Antijudaismus habe er bislang nicht bemerken können, hingegen müsse man aber an die antipolnische Stimmung erinnern, die besonders von der US-amerikanischen Presse verbreitet werde.