Truckstoplizards

J.T. Leroy überschreibt seine desolate Kindheit mit Privatmythen.

»Echt anmutig sehen sie aus, all die Bordsteinprinzessinnen von Glad, die nur feinste Seide aus China, zarteste Spitzenwäsche aus Frankreich und geilstes Leder aus Deutschland auf der Haut tragen. Wenn man den Penisknochen des Waschbären nicht sehen würde, den sie um den Hals tragen, und wenn man nicht wüsste, was er bedeutet, käme man nie drauf, dass es sich um Jungs handelt.«

Um minderjährige Jungs vor allem. Der sanfte, gerechte und auch noch barmherzige Indianer-Lude Glad hat seine »Truckstoplizards« ausstaffiert und mit besitzanzeigendem Totem behängt, auf dass sie den Spitzenhöschen und Nylons unter den öligen Jeans tragenden Trucker-Tunten West Virginias im Führerhaus ihrer Zwanzigtonner nach einem langen Arbeitstag die nötige Bettschwere verschaffen. Also eigentlich kein Idyll, das J.T. Leroy hier beschreibt, aus der Sicht des Ich-Erzählers jedoch ist es beinahe eins.

Dem blonden 12jährigen Jungen, der in einem Motel in der Nähe herumhängt, mit einer Mutter, die als Prostituierte arbeitet und eher eifersüchtig als entsetzt mitansehen muss, wie der eine oder andere ihrer Freier gleich auch noch zu ihrem Sohn geht, erscheint Glads Ansinnen, ihn in seinen Waschbärpenis-Club aufzunehmen, als erste große Auszeichnung in seinem Leben. Als Chance, sich endlich die Achtung und Zuneigung seiner Mutter zu verdienen. Und das meint nicht zuletzt: Geld zu verdienen.

Er schminkt sich, zieht einen kurzen Lederrock an und beginnt seine Arbeit als Stricher, lässt sich sogar mit Sarah, dem Vornamen der Mutter, anreden, um ihr noch ähnlicher zu sein. Aber schon bald wird er unzufrieden. Die Karriere verläuft ihm nicht steil genug, weil Glad Rücksicht auf seine Jugend nimmt und ihn nur die harmloseren Kunden bedienen lässt.

Also brennt er durch, um sich bei Holy Jack, der heidnischen Kultstätte aller abgearbeiteten Huren, wo sich sogar verlorene libidinöse Energie wundersamerweise erneuert, segnen zu lassen, wird dort von Le Loup, einem anderen, diesmal allerdings überaus brutalen Zuhälter aufgegabelt und muss nun in dessen Schmuddelbordell arbeiten. Nach einer Weile versucht er zu fliehen, wird aber von Le Loup gestellt und grausam misshandelt.

Schließlich kann er Glad einen Hilferuf zukommen lassen, und der holt ihn dann tatsächlich wieder nach Hause. Seine Mutter hat sich allerdings in der Zwischenzeit nach Kalifornien abgesetzt, und auch ihm gelingt es nicht mehr, sich wieder einzugliedern in den Kreis der Asphalteidechsen ... Wie es weitergeht, erfahren wir vielleicht im zweiten Roman des Autors.

Leroy erzählt von dem Schrecken einer sozial randständigen Kindheit, aber er erzählt nicht anklagend oder gallebitter, wie man es hätte erwarten müssen, sondern so unbeschwert und leichthin, als ginge es ums Burgenbauen im Sandkasten. Dass es aber dennoch ein Schrecken war, der seine Spuren hinterlassen und der, wenn schon nicht sofort, dann doch nachhaltige Wirkungen gezeitigt hat, demonstriert die Biografie des Autors. J.T. Leroy, der das augenscheinlich alles selbst erlebt hat, brach irgendwann zusammen, begann eine Therapie, man legte ihm nahe, seine Kindheitserlebnisse niederzuschreiben, und daraus erwuchs dann dieser Roman, der ihm nach eigenem Bekunden das Leben gerettet hat.

Aber wie ist dieser kindlich-glättende, harmonisierende Erzählgestus zu erklären?

Sollte diese Bagatellisierung der Unzulänglichkeit des Erinnerns geschuldet sein? Verklärt sich in der nostalgischen Rückschau selbst noch die Hölle zur heimeligen Wohnstube? Oder hatte das, was Leroy widerfahren ist, seinen Schrecken irgendwann tatsächlich verloren, weil es schlicht zum Alltag gehörte? Oder aber benutzt er diesen Weichzeichner ganz bewusst, braucht er ihn mithin als eine Möglichkeit der Distanzierung, um sich überhaupt seiner eigenen Geschichte stellen zu können?

Nun, vielleicht doch eher Letzteres. So sind denn wohl auch die beinahe märchenhaften Literarisierungen zu verstehen. Leroy transzendiert die Realität, wohl auch um sie im surrealen Scherz zu bannen - oder zumindest für kurze Zeit vergessen zu machen: »Ich hörte, dass ein weißschwänziger Hirsch eine der Lizards am Haupttruckstop bestiegen und geschwängert hätte, während sie auf dem Weg zum Diner war. Es hieß, durch ihren geschwollenen Bauch könnte man deutlich kleine Rehhufe sehen. Ich behielt mein Wissen für mich, dass da ein Choctaw-Zauber am Werk war und dass das eindeutig ein Zeichen für mich war.«

Nämlich für seine baldige Rettung. Und auch die birgt noch einige mythische Gefahren: »Wir alle kennen die Geschichten von den Fahrern, die es nie über den Cheat River geschafft haben. Manche sagen, es sei der Geist all der Pioniere, die einst den ruhigen und trägen Cheat River mit ihren Planwagen durchqueren wollten, als er sich plötzlich eifersüchtig aufbäumte und ihre Zukunft unter seinen cholerischen Wellen begrub. ðDiese ertrunkenen Siedler werden nicht so ruhig daliegen und euch einfach auf die bequeme Weise rüberlassenÐ, pflegte Glad alle Lizards zu warnen, die einen Trip über die Cheat-Brücke vorhatten. ðUnd auch all die Indianer nich', die beim Bau dieser Brücke umgekommen sind.Ð ... Man kann nichts weiter tun, als beim Überqueren den Atem anhalten und hoffen, dass einen die Toten als einen der ihren passieren lassen.« Und auf diese Weise geht dann auch alles gut.

Leroy zeigt in solchen Passagen, dass er das Werk Richard Brautigans eifrig studiert hat. Auch so einer, der seine völlig desolate Kindheit immer wieder mit surrealistischen Privatmythen überschreiben musste. Zufällig ist also auch diese Erbfolge nicht.

J.T. Leroy: Sarah. Reclam Leipzig, Leipzig 2001, 184 S., DM 29,80