Terry Zwigoffs »Ghostworld«

Verramschte Existenz

Ludger Blanke und Christian Petzold sprechen über Terry Zwigoffs Comicverfilmung »Ghostworld«

Christian Petzold: Die beiden Mädchen reden ununterbrochen, über sich, wie sie sich unterscheiden können. Da wird ja die ganze Zeit Distinktionsarbeit geleistet, von Enid vor allen Dingen, sie versucht, immer etwas anderes darzustellen, die Codes zu beherrschen. Obwohl ihr Körper ihr noch gar nicht richtig gehört, versucht sie zumindest das, worin sie ihren Körper kleidet, zu beherrschen, Subjekt ihrer Codes zu sein. Sie färbt ihre Haare. Wird zu einem Meta-Retro-Punk. Als das schiefgeht, geht sie wieder nach Hause und ändert den Code. Da gibt es ein Aufbegehren gegen diese Bewusstlosigkeiten wie Fernsehgucken, Familienleben, die Regeln, die einen beherrschen, angezogen werden und nicht sich selber anziehen - das Thema des Comics und des Filmes.

Aber dieses ganze Gerede über die Codes ist im Comic in den wahnsinnig großen Sprechblasen drin. Im Unterschied zum Kino werden das Sprechen und die Bilder nicht gleichzeitig wahrgenommen. Die Sprechblase ist die Erzählung, die Bilder sind nicht nur Statthalter der Erzählung. Die strahlen fast eine stilllebenhafte Ruhe aus, was Uncodiertes. Sprache codiert, die Bilder codieren nicht. Durch diesen Zwiespalt ist der Comic von David Cloves viel trauriger als der Film von Zwigoff. Das gibt es ja im Film nicht, so komische Stilllebensequenzen, wo jemand nur die Straße entlang geht und nur die Musik da ist. Ich bin auch in einer Kleinstadt aufgewachsen, und hat man sich nicht immer eine Bushaltestelle gewünscht, wo irgendwann ein Bus hält und man rausfahren kann?

Ludger Blanke: Na ja, die Stadt hier ist irgendwie auch L.A. Das heißt, die Stadt, in die man fahren kann mit dem Bus, wird ganz bestimmt genauso aussehen wie die Stadt, aus der man gerade abgehauen ist. Da gibt es ja in diesem Film kein Bild davon, dass es irgendwo anders wäre. Die Stadt ist unendlich in diesem Film.

An dieser merkwürdigen Bushaltestelle sitzt der alte Mann jeden Tag und wartet auf den Bus, aber die Buslinie ist schon längst eingestellt. Alle wissen das. Enid geht irgendwann zu ihm und sagt: »Hören sie, das macht keinen Sinn, hier zu sitzen, denn der Bus kommt hier nicht mehr vorbei. Die Buslinie ist längst eingestellt.« Und dann sagt der Mann mit starren Blick nach vorne und ein wenig böse: »Das glauben auch nur Sie!« Das ist ein so unglaublich schockierender Satz für Enid. Weil sie ahnt, das es stimmen könnte. Dass sie irgendein Geheimnis nicht kennt, von dem alle anderen wissen. Weil es dann ja auch stimmt, der unheimliche Bus kommt tatsächlich irgendwann, und zum Schluss setzt sie sich sogar selbst auf die Bank. Sie, die über alles immer so genau Bescheid weiß.

Petzold: Es gibt nicht mal die Idee, dass es außen noch etwas gibt, das einer Bewerbung würdig wäre. Der Film lässt Enid immer tiefer in eine fürchterliche Einsamkeit fallen. Er baut eine Dramaturgie der Schleifen, das sind immer Gänge, Rundgänge. Thora Birchs Gang: der erhobene Kopf, der Winkel, in dem sie sich leicht vorbeugt und ihren Körper hinterherzieht. Ein Mädchen, dem der Körper noch gar nicht folgt in die Richtung, in die der Kopf will. Sie klappert die Geschäfte ab wie in einer riesigen Mall. Und dann, das noch zu den Codes, ist jeder Laden ein Retroladen.

Blanke: Stimmt, alles kommt einem wahnsinnig alt und gebraucht vor.

Petzold: Die sind erst 18 und sind schon alt. Das ist das Brutale. Alle sind umgeben von Flohmarktartikeln. Es gibt nichts Neues. Alle sind Ramschexistenzen. Aber dann, wenn die Mädchen auf diesen kleinen Nachbarschaftsflohmarkt gehen und den Mitbewohner von Seymour nach diesem hässlichen ausgestopften Mungo, der mit einer Schlange kämpft, fragen, ist er nicht zu verkaufen. Da wird dann dieser Gegenstand anscheinend auch für einen selbst wieder wertvoll. Man braucht das Begehren von jemand anderem, um den Wert des eigenen wieder zu finden.

Blanke: Das war aber auch eine weise Verweigerung. Die sagt: Auch dieser ausgestopfte Mungo wird dich nicht retten. Da ist kein Glaube an irgendeinen Sinn oder überhaupt eine Ökonomie des Tausches noch vorhanden.

Petzold: Ich hab' den Eindruck, die Leute machen nicht einen Flohmarkt, um Geld zu verdienen, sondern um ihr Leben auszustellen. So wie Enid das hässliche Kleid dann doch nicht verkaufen will und sagt: »Darin bin ich entjungfert worden.« Obwohl das wahrscheinlich nicht mal stimmt. Alle hocken auf den Bürgersteigen mit ihrem Ramsch und tun so, als ob sie was verkaufen, stellen im Grunde aber sich selbst aus. Das ist wie eine Autobiografie, die sie da aufbauen. Das ist genau der Grund, warum ich nicht auf Flohmärkte gehen kann.

Blanke: Wenn dann trotzdem was gekauft wird auf diesem Neighbourhood-Sale, beginnt damit gleich eine Liebesgeschichte. Alle sind auf der Suche nach Liebe, aber alle wissen, dass in der Liebe nix zu holen ist. Kein Trost, kein Glück. Das ist eigentlich genauso aussichtslos, wie nach Reggaemusik zu tanzen. Oder übertreibe ich jetzt? Diese Verzweiflung mit der Thora Birch die missverständliche Punkfrisur wieder zurückfärbt in Schwarz, ist das nicht ein großes Unglück, diese Unmöglichkeit sich in diesen Ebenen von authentischen Jugendstilen und deren ironischen Wiederkünften zurechtzufinden? Und wenn man sich einmal darauf eingelassen hat, auf diese Codes, dass die Farbe der Haare und der Schnitt des Kleides was bedeuten, dann gibt es ja kein Zurück. Außer um einen Berg in Tibet zu wandern.

Petzold: Aber das Tolle ist, dass alle schlau sind. Keiner dieser Figuren muss man irgendwas erklären, die wisssen alle wahnsinnig viel. Seymour weiß alles, weiß genau, was einen Neurotiker zum Sammler macht. Der weiß ganz genau Bescheid über sich. Ich glaube, dass sogar die Vollidioten wissen, dass sie Vollidioten sind.

Blanke: Davon hat aber niemand was. Enid ist klug, schlagfertig, begreift alles, kann alles lesen. Aber das rettet sie nicht. Sie kann nicht gerettet werden durch ihren Durchblick.

Petzold: Was auffällt ist, dass alle Leute in diesem Film reden können und dass die Rede die Gegenstände nicht nur bedeutet, sondern auch ersetzt. Die Kunstlehrerin reißt versehentlich eine dieser Drahtskulpturen herunter, kann aber gleichzeitig darüber reden. Es geht also immer nur um das Reden.

Blanke: Enid, die Eloquenteste von allen, sagt trotzdem einmal: »Darüber, was wirklich in mir vorgeht, kann ich nicht reden.« Da macht der Film ja nicht wirklich einen Unterschied. Das Reden ist genau so alt wie die Dinge, der Apparat der Beschreibung genauso nicht mehr möglich, ein Ramsch wie das Beschriebene. Aus dem Widerstand der Dinge gegen ihre Beschreibung entstehen sonst Komödien, und »Ghostworld« sieht ja auch wie eine aus und ist manchmal auch sehr lustig. Aber im Grunde ist hier dieser Widerspruch aufgehoben. Hier liegen der Gegenstand und das Sprechen auf demselben Grabbeltisch.

Petzold: Im Kunstunterricht zeigt Enid ein Bild und sagt: »Ich weiß nicht, was das bedeuten soll.« Da sagt die Kunstlehrerin: Dann ist es auch kein Kunstwerk. In dem Augenblick aber, in dem sie in der nächsten Stunde ein Plakat, das sie nur gefunden hat, mit einem Diskurs versieht, ist das so großartig, dass ihr sofort ein Stipendium angeboten wird. Wir sprechen dieselbe Sprache, also nehmen wir dich auf.

Blanke: Aber sie glaubt nicht daran. Enid ist so clever, dass sie locker ein Tortenstück aus dem Diskurs über Political Correctness herbeizitiert. Der Film macht hier ein paar Witze über den Kunstbetrieb, da wird eine Verzweiflung von Enid miterzählt , aber irgendwie auch die Bitterkeit des Comiczeichners Cloves gegenüber dem Kunstbetrieb. Aber gibt es in dieser Schwärze so was wie Hoffnung? Eine Möglichkeit des Glücks?

Petzold: Leider ist hier auch Sex eine irgendwie eklige Sache. Zum Schluss hat man das Gefühl, und das ist dann wirklich bitter, dass ihr auch die Wörter nicht mehr wirklich gehören.

Blanke: Sie geht doch irgendwann mit Seymour in diesen Pornoladen rein, und findet alles großartig und staunt über die Kunden und sagt begeistert: Alles Perverse! Was man bei Enid ohne weiteres auch auf den Rest der Gesellschaft außerhalb des Pornoladens beziehen kann. Sie holt dann irgendeine Onaniervorrichtung aus einem Karton und fragt: »Wer fickt denn sowas?« Auch diese Frage bezieht sich dann auch auf alle anderen Dinge in diesem Film. Wer fickt denn die? Wer kann denn eine auch nur destruktive Leidenschaft dafür entwickeln? Für Retrofiftiescoffeeshops, für Splattermovies. Sie hat diese absolut tödliche Hipstercoolness einer 17jährigen, die ganz genau sieht, was auf sie zu kommt.

»Ghostworld«, USA 2000. R: Terry Zwigoff, Start: 18. Oktobe