Die Büroklammer

Eine Erzählung

Es war im Juli 1973 kurz vor der Ausrufung der Republik, aber ich will hier nicht ins Detail gehen. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die keinen was angehen, und im Prinzip ging es auch nur darum, dass meine Frau einen anderen liebte, und mein Freund Hubert gesagt hatte:

»Pit, kein Deutscher ist untenrum so sauber wie die Männer im Maghreb.«

So kam ich nach einer kleinen Reise durch diverse orientalische Hauptstädte wie Rabat, Algier, Tunis, Istanbul und Teheran, wo die Knaben mir ohne große Scheu oder finanzielle Aufwendungen gezeigt hatten, warum so viele Männer ihre Frauen eigentlich nur noch zur Fortpflanzung und für die Hausarbeit benötigen, auch in dieses Büro der Ausländerpolizei im europäischen Viertel von Kabul und tat, was man mir geraten hatte. Ich legte, bevor ich das Hotelzimmer verließ, zehn US-Dollar in meinen Reisepass und reichte ihn einem Polizeichef, der eine goldene Aura hatte wie die Mutter Gottes mit dem Ofenschirm.

Es gab damals in Afghanistan kein nennenswertes Problem, das sich nicht mit einer Hand voll Dollar lösen ließ, nicht wie heutzutage, wo man sich wegen vierzig Tonnen Heroin und einer Pipeline gegenseitig die Hochhäuser und Lehmhütten zerdeppert, und diese Auffassung vertrat offensichtlich auch der Beamte, dem ich nun gegenübersaß.

Er schob eine Hand in die Jackentasche, holte einen Foulard hervor, schüttelte ihn, und als er ihn wieder fältelte, waren meine zehn Dollar weg. Ich war baff, musste aber zugeben: Der Trick passte zu seiner Erscheinung. Er war schlank und groß, glatt rasiert, hatte schwarzes straff gekämmtes Haar und trug einen eleganten hellen Zweireiher.

Was ich sagen wollte: Das Kabul, das ich kannte, war liberal, weltoffen und scheinbar konfessionslos. Man musste nur aufpassen, dass man keinen Durchfall kriegte, und etwas störend waren auch die Alpenlandschaften, teils winterlich weiß, teils sommerlich blühend, vor einer Jungfrau und einem Watzmann mit Matterhorn, die in allen Ämtern, Hotels und Gaststätten hingen. Vermutlich bezahlte irgendein Tiroler sein täglich Dope mit großen Fotos von der Heimatfront.

Aber sonst alles easy. Die Frauen waren unverschleiert, die Männer hatten knackige Ärsche und gute Manieren, und in den Schaufenstern saßen die Delikatessenhändler und verkauften apfelgroße Haschischklumpen. Meine größte Ausgabe war das zuckersiruptriefende Backwerk, das jedermann aß, damit das Dope noch besser dröhnte. Wir, das waren schätzungsweise zehntausend Mädchen und Jungens, die Community, wie uns die Illustrierten in den imperialistischen Staaten nannten, die meisten aus Westeuropa, aber die relativ stärkste Gruppe waren doch die Amis, die man daran erkannte, dass sie vom Buddhismus schwärmten und immer einen Gedichtband und eine Kladde dabeihatten, wo sie andauernd was reinschreiben oder reinkleben mussten.

Das hätte ewig so weitergehn können, wenn Präsident Nixon nicht den Befehl unterzeichnet hätte, den Vetter des Königs, einen General namens Daud Khan zu unterstützen und König Sahir Schah zu stürzen, der gerade auf Ischia Badeurlaub machte. Sahir Schah war Neutralist während Daud Khan mehr auf der Linie von Henry M. Broder lag, also: »USA-Hurra!« Die Amis verschwendeten ihre Dollars deshalb lieber an Broder Daud. Sie hatten gerade Indochina verloren und brauchten dringend ein Aufmarschgebiet an der Südflanke der Sowjetunion. Die deutschen Baufirmen bauten die Autostraßen und Raststätten entlang der Nordgrenze und die Amis die Militärflughäfen.

Das war grob gesagt die kurz bevorstehende politische Situation an jenem heißen Vormittag im Juli 1973, was man jedoch erst hinterher erkannte. Jeden Tag wurden ein paar von uns zur Ausländerpolizei bestellt, um irgendwelche albernen Fragen zu beantworten, aber keiner ahnte, dass der Chef der Ausländerbehörde rasch noch ein paar Mal mit dem Foulard wedeln wollte, bevor er Flügeladjutant bei einem drittklassigen CIA-Agenten wurde.

Er rückte also das Protokoll meiner belanglosen Aussagen zurecht, das auf seinem Schreibtisch lag, nahm mit rechts die linke obere Ecke des Protokolls zwischen Daumen und Zeigefinger und versuchte mit links hineinzustechen. Es waren drei Blätter, und ich begriff trotz meines bedröhnten Zustands, dass er sie zusammenheften wollte. Ich hatte mir eben noch in dem versifften Wasserpfeifenteeschuppen auf der anderen Straßenseite die Schuhe putzen lassen und dazu ein halbes Gramm Schimmelafghanen reingezogen und war stoned wie eine Strandhaubitze.

Vor dem Beamten stand eine Zigarettenschachtel aus Blech ohne Deckel, und in der Schachtel lagen die in Afghanistan üblichen Stecknadeln. Sie hatten bunte Glasköpfe. Das Papier hingegen war gelblich, irgendwie länger als unser DIN-A4-Papier und per Hand beschrieben. Er steckte die ganze Hand in die Dose und fingerte darin herum, holte eine Stecknadel heraus, betrachtete sie, indem er die dunkle Hornbrille abnahm und die Nadel dicht vors Auge hielt, schüttelte den Kopf, legte die Nadel zurück in die Dose und wühlte wieder darin herum, als käme es darauf an, die richtige Nadel zu finden. Ob er die Farbe betrachtete oder die eventuell stumpfe Spitze oder die Krümmung der Nadel war nicht ersichtlich.

So ging das eine Weile in orientalischer Gelassenheit, und ich spürte, wie sich mein Kopf mit Stecknadeln füllte, die mir von innen in die Schädeldecke pieksten, weil er mit seinen langen gelben Fingern in meinem Hirn wühlte, und seine Fingerspitzen bluteten aus hundert winzigen Stichwunden. Noch Jahre später träumte ich von einem Haufen Stecknadeln, der von weitem aussah wie ein Heuhaufen, und jemand wühlte mit zwei großen blutenden Händen in dem Stecknadelberg und suchte nach einem getrockneten Grashalm und mein unschuldiges Hirn färbte sich leuchtend rot. Das Blut lief strahlend durch meine schneeweißen Gehirnwindungen.

Kurz: Es machte alles einen ungemein metaphysischen Eindruck. Filigrane Ornamente verzierten meine obskuren Wahrnehmungen: Die schneebedeckten Alpengipfel vor blauen Himmeln an den Wänden, die satten Matten, auf denen wohlgenährte Kühe weideten, die Blechschachtel mit den Stecknadeln, das olivgrüne Feldtelefon mit dem Bundesadler auf dem Rauchtisch am Fenster, das Tropfen des Trinkwasserbehälters. Jeder noch so leise Laut entwickelte einen unterirdischen Hall, und alle Bewegungen tendierten geschwindigkeitsmäßig gegen Null.

Die Spiritualität des Ostens verlieh selbst den niedrigsten Gegenständen eine strahlende Tiefe. Der Kerl im schwarzen Frack an der Wand hatte eine Aura wie ein byzantinischer Heiliger. Die Reproduktion des Fotos des Königs des Landes hing in mehrfacher Ausfertigung an der Wand hinter dem zukünftigen Flügeladjutanten. Ich erkannte einige der wichtigsten Repräsentanten der westlichen Werte: Papst, Lübke, Elisabeth II., Breschnew, Mao, Indira Gandhi, Hirohito. Ich deutete ihre Anwesenheit als Hinweis auf die Vielfalt der Nationen, die in diesem Zimmer ihren Reisepass über den Schreibtisch schoben.

Die Repräsentanten wechselten, nicht aber der König. Er hatte eine riesige Nase, deren Spitze nach innen gebogen war, wie ein Papageienschnabel, und er trug einen Frack und eine breite bunte Ordensschleife - war also keines dieser zottelbärtigen Darmolmännchen in langen weißen Nachthemden mit Teewärmer auf dem Kopf, wie man sie heute im Fernsehen als Inkarnation des ewigen Antisemiten vorgeführt kriegt. Sahir Schah war offensichtlich ein reiselustiger König, aber warum er so viel reiste, begriff ich erst Jahre später. Es ist immer besser, man besucht die anderen, als dass die anderen kommen, vor allem, wenn man Vorsteher eines armen Landes ist, das eine gewisse geostrategische Lage hat.

Ein kurzer Schrei unterbrach meine leuchtenden Traummuster. Der Beamte hatte sich in den Finger gestochen und fluchte leise. Er hielt seine eine Hand mit der anderen fest und stöhnte wie ein Schwerverletzter. Langsam tropfte Blut auf das Protokoll und bildete einen Fleck, der sich rasch vergrößerte. Er verrenkte den Arm mit der unverletzten Hand, schob sie in die Jackentasche und holte wieder den Foulard hervor. Der Amtsdiener, der an der Tür stand und bislang ins Nichts geblickt hatte, zuckte, lief eilig über den knarzenden Fußboden, holte ebenfalls ein Tuch aus der Tasche und begann alsbald seinen Chef zu verbinden.

Der Akt dauerte eine Weile, und ich sah den beiden aufmerksam zu. Sie erinnerten mich an Stan Laurel und Oliver Hardy, und das bewies mir: Der interkulturelle Dialog ist möglich, wenn man ihn nur mit den richtigen Mitteln führt. Ich griff in die Tasche meines Albert Schweitzer-Anzugs, der einst weiß war und nun in den gedämpften Farben des Orients leuchtete. Unter Sonnenblumenkernen, Shitkrümeln und Zetteln ertastete ich eine echt deutsche Büroklammer, die mir stets in die Hände fiel, wenn ich etwas suchte.

Ich nahm den Fetisch zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt ihn dem Beamten entgegen. Er schien mich nicht zu verstehen. Sein stoischer Blick wanderte von seinem umwickelten Zeigefinger zum langsam trocknenden Blutfleck, zu meiner erhobenen Hand mit der deutschen Büroklammer, zum Protokoll, in dessen linker oberer Ecke noch die Stecknadel steckte, zum Finger, der eben noch geblutet hatte, zum langsam trocknenden Blutfleck, zu meiner erhobenen Hand mit der deutschen Büroklammer, zum Protokoll, in dessen linker oberer Ecke noch die Stecknadel steckte etc.

Er verstand mich nicht. Die Einsicht, dass ihm das kleine Malheur mit einer deutschen Büroklammer nicht passiert wäre, lag außerhalb seiner Reichweite, und schlagartig begriff ich, dass der Prozess der Zivilisation sich vor allem an winzigen Gegenständen entlanggehangelt hatte. Der Chef der Ausländerbehörde war ein primitiver Mensch geblieben, ein Exemplar einer Gattung, die irgendwann in ihrer Geschichte den entscheidenden Schritt von der Stecknadel zur Büroklammer nicht vollzogen hatte. Daran änderte der europäisch geschnittene, elegante Maßanzug nichts und nicht das ausrangierte Feldtelefon der Bundeswehr, nicht des Königs Frack und nicht die Sitzgarnitur am Fenster, die eindeutig aus britischen Kolonialbeständen stammte.

Heute scheint mir, fast dreißig Jahre nach jenen Vorgängen, dass auch ich jenen Vormittag in Kabul damals nicht in seiner vollen Bedeutung ermessen hatte. Eine Menge sozialer und sonstiger Erfahrungen war nötig, um das Wesen der drei Stufen zu erkennen, die die Methodik des Heftens von Papieren in Büros und Ämtern im Laufe ihrer fortschreitenden Entwicklung zu durchlaufen hatte, und zu begreifen wie sich in diesen drei Mitteln die Archaik des Heftens einerseits, der übertriebene Maschinenwahn der zur technischen Hybris neigenden neuen Welt andererseits und der quasi gesunde Mittelweg der deutschen Bürotechnik widerspiegeln.

Der nette Ausländerbeamte von Kabul, dem ich im Hochsommer 1973 gegenübersaß, war einer archaischen Zeit verhaftet, in die er zurückfallen musste, solange er seine Protokolle mit Stecknadeln zu heften versuchte. Er musste, es war unvermeidlich, eines nicht so fernen Tages in die Neuzeit gebeamt werden - oder besser ausgedrückt: gebombt.

Das Verhältnis von Stecknadel und Büroklammer wurde mir in seiner Tragweite bewusst, als ich mich kürzlich meiner Anfänge als Büroangestellter erinnerte.

Im Spätsommer 1957 heuerte ich als Salesman bei einer in Frankfurt am Main ansässigen Sales Company an, deren President ein gewisser Frank J. Wannemaker war, den alle nur Frank nannten. Frank stammte aus dem katholischen Milwaukee am Westufer des Michigansees im Bundesstaat Wisconsin, einem Teilstaat der USA. Rechts vorne am Fenster saß Frank, links von ihm seine Sekretärin, die schöne Sylvia, dahinter meine Sekretärin, die nicht so reizvoll war, und dahinter ein Bürogehilfe namens Krause, der bei Walter Höllerer Germanistik studierte und Gedichte im Stil von Ungaretti schrieb. Ich saß hinter dem Präsidenten und war quasi seine rechte Hand. Ich durfte seine Privatpost öffnen, seine Kontoauszüge und Scheckbücher abgleichen, seine Miezen abwimmeln, wenn er schon ein Date hatte, und, wenn er verreist war, als Nachtportier in seinem Schlafzimmer übernachten, das neben dem kleinen Büro lag.

Es war diese Swan Sales Company, in der ich meine mitteleuropäische Unschuld verlor und in größter Kürze zum Weltmann und Anhänger nordamerikanischer Lebensart reifte. Ein halber Tag genügte, um mir die Inferiorität des deutschen Menschseins vor Augen zu führen.

»I'm Joe«, sagte der Lagerist, als ich den Keller betrat, und wischte sich mit dem Handrücken etwas Rührei vom Mundwinkel, »but just call me Hey-Joe like everybody does in this fuckin' office.« Hey-Joe trug einen verwaschenen Overall, eine Art Taucherbrille und war so dürr wie die Schnapsbrenner von Jack Daniels im Wald von Tennessee. Sein zweiter Satz lautete: »Have a look at our items.« Dabei deutete er auf eine Menge voll gestopfter Regale. Hey-Joe war nach der Army eine Weile durch Europa getrampt, und Frank hatte ihn in den Keller zu den Samples gesteckt, weil er als einziger in der Firma ihre Bedeutung kannte.

In Joe's Reich sah ich Gegenstände, die ich nie zuvor gesehen hatte, und mit jedem Gegenstand, den er aus dem Regal nahm, wurde mir bewusst, und wenn es ein elektrisches Brotschneidemesser war, was der Mensch alles brauchte, um zu leben wie ein Mensch, und schlagartig wurde mir klar, warum die Amis sich für höhere Wesen hielten. Sie schauten sich unsere Läden und Kaufhäuser an und mussten erkennen, dass wir auf einer sehr viel niedrigeren Zivilisationsstufe vegetierten als sie. Wir dämmerten dahin ohne Dampfbügeleisen und Barbecue-Sets, ohne Dampfdrucktöpfe und Küchenmaschinen aller Art.

Fortan packte ich einmal die Woche unsere Samples in unseren grünen Opel Kapitän und fuhr mit Mr. Schuster, unserem Vice-President, der sein Büro im Wohnzimmer hatte, durch Westdeutschland, um den Einkäufern großer Warenhäuser alles das anzupreisen, was heute zweifelsfrei zum Wertekanon der freien Welt gehört. Ja, ich gestehe, wenn unsere Supermärkte heute bersten vor nützlichen Gegenständen für alle Sparten des täglichen Lebens, so war ich einer der ersten, die für ihren Import aus den USA sorgten. Wir rasten durch Länder und Städte, zeigten den Einkäufern unsere Items und für alles, was sie fortan bei den Herstellern kauften, erhielt President Frank J. Wannemaker fünf Prozent und ich netto siebenhundert Mark im Monat.

Die meiste Zeit saß ich an meinem Schreibtisch, bewunderte Sylvias Büstenhalter von hinten und heftete die vielen bunten Bilderbogen zusammen, auf denen unsere aberhundert Items abgebildet waren. Nationwide advertised! Buy four, take five! Special offer, biggest sale ever seen! riefen die Druckvorlagen, die wir aus USA geliefert bekamen. Ich half, sie zu übersetzen und dem deutschen Geschmack anzupassen, neu zu drucken und zu Konvoluten zusammenzuheften, die der Lyriker Krause eintütete und Hey-Joe zur Post trug, damit die Einkäufer erkannten, was den deutschen Verbrauchern noch alles fehlen würde, sobald sie es im Schaufenster sahen.

Zu meinen Werkzeugen gehörten Schere, Lineal, ein Klebestift (auch dies ein verblüffend neuer Gegenstand), vor allem aber ein Stapler. Ein Stapler ist ein Gerät zum Zusammenheften loser Blätter, und wir Heutigen nennen es Tacker. Er war bereits 1957 die höchste Steigerungsform der Stecknadel des Chefs der afghanischen Ausländerpolizeibehörde des Jahres 1973. Nie zuvor hatte ich einen solchen Gegenstand gesehen, aber erst heute weiß ich, warum er typisch nordamerikanisch ist und nicht, wie mir damals schien, unserer Büroklammer so meilenweit überlegen, wie diese einer afghanischen Bürostecknadel, sondern letztlich sogar unterlegen.

Nur eine maschinenbesessene Nation konnte auf die Idee kommen, für eine so einfache und ohne Mühe zu besorgende Aufgabe wie das Zusammenheften von Papieren, eine Maschine zu erfinden, die nichts Anmutiges, Melodisches oder sonstwie Kulturschönes besitzt und im Übrigen sich eher als Folterwerkzeug eignet denn als Büromittel.

Wer jemals einen untergeordneten Bürogehilfen beim Zusammentackern von Schriftstücken in hoher Auflage beobachtet hat, wird mir Recht geben. Die Arbeit mit dem Stapler alias Heftgerät reduziert den Menschen auf einen stupiden seelenlosen Roboter: Papier ergreifen, seitlich aufstucken, in den Tacker schieben, draufhauen, TACK!, auf den Stapel legen, Papier ergreifen, seitlich aufstucken, in den Tacker schieben, draufhauen, TACK!, auf den Stapel legen und so weiter.

Stundenlang dröhnt das Tack! Tack! Tack! durch die Büroräume, vollführt der Tackerer mit dem Tacker die fünf immergleichen Handbewegungen auf kleinstem Raum. Augenleiden, Wirbelsäulenschäden, Taubheit, Plattfüße, Durchblutungsstörungen in den Beinen, Arthrose und Arthritis in nahezu allen Gelenken, vom Knie bis zu den Nackenwirbeln, sind die unvermeidlichen Folgen dieser unnatürlichen Tätigkeit, die nur deshalb keiner bemerkt, weil die Verblödung schon früher eintritt.

Ich habe meine Strafe für die Verbreitung von Dampfbügeleisen, gesalzenen Peanuts in Dosen, elektrischen Brotmessern und Geldscheinklammern für die Gesäßtasche aus reinem Sterling-Silber schon in den fünfziger Jahren verbüßt: Ich habe drei Jahre lang Prospekte getackert.

Sicher: Getackerte Konvolute halten besser, sofern sie nicht dicker sind als die verwendete Heftklammer. Doch eben diese Haltbarkeit wird sich sogleich als Nachteil erweisen, dann nämlich, wenn man das Konvolut wieder entheften will oder muss. Was sich bei Verwendung der deutschen Büroklammer als unbedeutende Operation erweist, setzt beim Stapler ein zweites Gerät voraus, für das es nicht einmal einen eigenen Namen gibt - auch dies eine typisch nordamerikanische Idee. Man erfindet eine Maschine, um etwas zu bewerkstelligen, was man mit vorhandenen Mitteln sehr viel einfacher anstellen kann, und zwingt den User zugleich, eine zweite Maschine zu erwerben, um den Schaden rückgängig zu machen, den die erste Maschine anrichtet.

Ein weiterer positiver Aspekt der deutschen Büroklammer sei nur angedeutet - der ästhetische. Schon ihre Erscheinung zeigt ihre Überlegenheit. Die Stecknadel ist nie über die Linie hinausgekommen, und einen Akzent bildet höchstens der Stecknadelkopf. Sie ist bestenfalls dünn und unhandlich. Wer je versucht hat, eine Stecknadel aufzuheben, wird mir Recht geben. Die Heftklammer ist womöglich noch unansehnlicher - ein eckiges U ohne jede Schönheit.

Wenn jemals, lange nach dem Untergang unserer Zivilisation, intelligente Lebewesen unsere Hinterlassenschaft sichten werden, werden sie ratlos die zahllosen Tackerklammern im Schutt unserer Städte zählen. Die Stecknadeln werden sie vielleicht nutzen, um sich die Fingernägel zu reinigen oder verdutzt ausrufen: »Was für winzige Hutnadeln die Damen damals hatten.« Allein die deutsche Büroklammer wird sich ihnen erschließen als vielseitiges Ausdrucksmittel und Nutzgegenstand.

In der deutschen Büroklammer vereinen sich Funktionalität und die Schönheit der klaren Form, die über sich hinausweist wie ein rätselhaftes bedeutendes Zeichen oder ein Buchstabe eines untergegangenen Alphabets, der entfernt an die Affenklammer in der modernen E-Mail-Adresse erinnert. Wer sich die Mühe macht, ihr Lineament mit einem Bleistift nachzuzeichnen, wird ihrer tieferen Zeichenhaftigkeit gewahr. Eine Scheintür tritt in Erscheinung, wie man sie aus ägyptischen Grabkammern kennt.

Aber die deutsche Büroklammer ist auch eine Erfindung des abendländischen Homo ludens, der die Komplexität der Konnotationen eines scheinbar profanen Gegenstandes liebt. Seltsame Figuren und Objekte findet die Putzfrau, wenn sie vom Sitzungstisch am Ende einer langen Sitzung die Büroklammern klaubt, mit deren Deformation die gelangweilten Sitzungsteilnehmer sich die Sitzung vertrieben haben.

Wozu Büroklammern nicht alles Verwendung finden: Zum Öffnen von Sicherheitsschlössern, als Schlüsselbund, zur Herstellung von skurrilen Kunstwerken. Ich kannte einen Mann, der ungezählte Büroklammern aneinander hängte, sodass sie riesige Trauben bildeten, die, an dünnen Schnüren aufgehängt, von Ferne an bedrohliche Bienenschwärme erinnerten, in denen der Wind, der durch die Räume strich, ein klimperndes Lied sang, wenn er die Büroklammern zum Klingen brachte.

Dies ist das Lied der Büroklammern: Vor allem die Leitidee der Anschließbarkeit, die das deutsche Denken seit alters durchzieht, findet ihren klarsten Ausdruck in der deutschen Büroklammer. Nur sie erlaubt es, Schriftstücke, und das heißt: einmal Gedachtes, rasch und ohne Aufwand auseinander zu nehmen, neu zu ordnen, in eine andere Systematik zu bringen, erneut zusammenzufügen und alsbald bei nächstem Wechsel der Paradigmen abermals rasch und ohne Aufwand auseinander zu nehmen, neu zu ordnen, in eine andere Systematik zu bringen, erneut zusammenzufügen und alsbald bei nächstem Wechsel der Paradigmen abermals rasch und ohne Aufwand auseinander zu nehmen, neu zu ordnen, in eine andere Systematik zu bringen, erneut zusammenzufügen und abermals: Lang lebe die deutsche Büroklammer! Ihr Prophet sei: Jan Philipp Reemtsma!