Berliner auf polnischen Märkten

Fang das Schnäppchen

In der Vorweihnachtszeit ist in polnischen Grenzstädten die Hölle los. Berliner Schnäppchenjäger fallen auf den Weihnachtsmärkten ein.

Berlin ist eine polnische Stadt, eine polnische Hauptstadt. Lebt ein Pole nicht in Polen, weil er in Polen nicht leben kann, dann lebt er in Berlin. Darum leben fast alle Polen in Berlin.« In dieser Passage aus dem Kursbuch 137, »Berlin. Metropole«, ist das Ressentiment gegen polnische Berlin-Besucher bzw. -Bewohner prägnant formuliert. Dabei finden sich diejenigen, die permanent einen Zustrom von außen halluzinieren, selbst gelegentlich zu einem Strom zusammen. Der Regionalexpress von Berlin nach Frankfurt an der Oder ist in der Vorweihnachtszeit voll mit Berliner Schnäppchenjägern, die in Polen ihre Weihnachtseinkäufe machen wollen.

»Seit unsere Kinder nicht mehr an den Weihnachtsmann glauben, fahren wir jedes Jahr gemeinsam zum Weihnachtseinkauf nach Slubice«, sagt Karin Wolf aus Berlin-Kreuzberg, die mit ihrem Mann und drei Kindern im Zug sitzt. 40 Mark kostet das Wochenendticket für die ganze Familie. Damit die Investition sich lohnt, muss ordentlich eingekauft werden. Der jüngste aus der Familie, der achtjährige Tobias, wünscht sich Digimonfiguren und irgendwas mit Harry Potter. Seine älteren Schwestern wollen nach modischen Pullovern gucken. »Die Pullover und T-Shirts vom vorigen Jahr passen nicht mehr. Sind eingegangen, und ich bin gewachsen«, erzählt die elfjährige Julia. Sie ist will auch einem neuen Katzenkorb.

Vom Bahnhof Frankfurt fährt ein Bus zur Oderbrücke, die die Schnäppchenjäger zu Fuß passieren müssen. In der Warteschlange steht eine Skatrunde. Eine Frau, die eine dünne Jacke trägt, sucht frierend ihren Reisepass. Die Jacke sei kein Problem, erzählt sie. In Polen will sie eine neue kaufen. Slubice heißt die Grenzstadt am anderen Oderufer. Hier florieren die Tankstellen und Friseure, die Bäcker und Copyshops, in denen die Frankfurter die Waren billiger bekommen als westlich des Flusses. In der Vorweihnachtszeit fahren sie seltener nach Slubice als sonst. Denn man muss ewig am Grenzübergang warten, zwischen Reisegesellschaften aus Magdeburg, Göttingen und vor allem Berlin.

Vom anderen Oderufer aus fahren polnische Kleinbusse direkt auf den Markt. Eine Mark kostet die kurze Passage pro Person, und der Fahrer fährt los, wenn der Bus voll ist. Um nicht zu sagen: vollgestopft. Für Zbiegnew Nowak, den polnischen Fahrer, ist es ein lohnendes Geschäft, die Deutschen auf den Markt zu kutschieren. Wenn nicht gerade Vorweihnachtszeit ist, arbeitet er bei einem Bauern, 80 Kilometer landeinwärts. Eine trostlose Gegend, in der die Telefonzelle vor der Kirche der einzige Kontakt zur Welt ist. Es gibt viele Arbeitslose. Poznan, die nächste Großstadt, in der die Wirtschaft floriert, weil es Touristen gibt, ist weit. Vor vier Jahren kam er auf die Idee, im November und Dezember die deutschen Schnäppchenjäger zu transportieren. An den Wochenenden muss er nicht auf Fahrgäste warten. Acht oder neun kann er in seinen Wagen hineinstopfen.

Die Verkaufsstände auf dem Markt sind parzelliert und überdacht. Die angebotene Kleidung ist dieselbe Massenware, die man auch auf den Berliner Wochenmärkten erstehen kann. Kultfiguren wie Harry Potter, Ash, Diddl und Arielle zieren T-Shirts und Leggins. Keine modebewusste Warschauerin würde diese Sachen kaufen, deren Nähte sich rasch auflösen und die nach dem zweiten Waschen eingehen. Auf dem Markt treffen sich die Modernisierungsverlierer von beiden Seiten der Oder: Deutsche, die billig einkaufen müssen, und polnische Dorfbewohner, die im Winter ohne die Schnäppchenjäger arbeitslos wären.

CDs mit Hits aus den Charts liegen ebenso aus wie Videokassetten mit den aktuellen Disneyfilmen. Auf Deutsch. Polen kommen nicht zum Einkaufen auf diesen Markt. Man bezahlt in Mark. Das erspart den Kunden den Weg zur Wechselstube. Polnisch hört man allenfalls, wenn sich der Verkäufer vom Spielzeugstand bei seinem Standnachbarn vom Imbiss einen Kaffee oder Glühwein holt. Nur die Korbwaren oder die original polnische Dauerwurst lassen erahnen, dass man in Polen ist, aber in einem Stück Polen, das mit dem Rest des Landes nicht viel gemein hat. Hier ist alles für die Deutschen eingerichtet.

T-Shirts, Sweatshirts und Leggins mit Digimon- und Pokemonfiguren - der kleine Tobias freut sich über das große Angebot mit seinen Lieblingen. Zwar gibt es das alles auch auf Berliner Wochenmärkten oder in S-Bahn-Unterführungen. Aber hier in Polen sitzt seinen Eltern das Geld lockerer. Am Spielzeugstand darf er sich ein Weihnachtsgeschenk aussuchen. Tobias entscheidet sich für ein Puzzlespiel mit 200 Teilen. Das gibt es für zehn Mark. In Berlin würde es 17 Mark kosten, meint seine Mutter. Dasselbe Spiel ist ein paar Meter weiter, in einem Supermarkt, in dem die Bürger von Slubice einkaufen, für sieben Mark zu haben. Aber dorthin fahren die Deutschen nicht.

»Wolltest du nicht schon lange eine neue Küchenuhr kaufen?« Karin Wolf steht am Keramikstand und willigt in den Vorschlag ihres Mannes ein. Es gibt Uhren in der Form von Blumensträußen und Gießkannen. Statt aus Keramik sind sie aus bemaltem Gips. Die berühmte polnische Keramik wäre zu teuer für die deutschen Kunden. Selbst die Lebensmittel sind billig und für ihre Herkunft interessiert sich niemand. Wer beim polnischen Biobauern kaufen will, muss einige Kilometer landeinwärts fahren.

Die Frau aus der Skatrunde hat ihre neue Jacke gleich angezogen. Nur 90 Mark hat sie gekostet. Zu Hause hätte sie eine solche Jacke zwar auch bekommen, aber 30 Mark mehr hinlegen müssen, da ist sie sich ganz sicher. Zu Hause, das ist in Potsdam. Zu DDR-Zeiten sei sie auch gern zum Einkauf nach Polen gefahren, erzählt sie. Bis 1980, dann ging das nicht mehr. Bis zu diesem Jahr zogen Trödelbasare in Polen DDR-Touristen und -einkäufer magisch an. Damals waren es jedoch nicht die niedrigen Preise, derentwegen man nach Polen fuhr, sondern die Produkte, die es in der DDR nicht zu kaufen gab. Selbst geschneiderte und gefärbte Blusen, Haarspangen in allen Größen, handbemalte Ketten aus Holz und Glas, originell verarbeitete Ledertaschen und Schuhe. Wer heute nach Polen zum Einkauf fährt, fragt nicht nach Handarbeit.

Am Marktausgang trifft sich die Skatrunde vollgepackt neben dem Parkplatz der Kleinbusse. Auf dem Rückweg passen nur noch vier Leute in den Wagen. Die vielen Einkaufstüten und neu gekauften Bastkörbe müssen schließlich irgendwo verstaut werden. Als die Schnäppchenjäger an der Oderbrücke auf die Passkontrolle warten, färbt die Sonne den Himmel über dem Fluss gelb. Auf den Oderwiesen der polnischen Seite gehen Familien spazieren und füttern Enten. Aber in den Warteschlangen an der Grenze hat kaum jemand einen Blick für die Landschaft. Kalte Feuchte steigt auf, die Skatrunde ist froh, als sie durch die Passkontrolle kommt.

Familie Wolf aus Berlin-Kreuzberg war einen Tag lang in Polen. Sie hat weder eine Ahnung von dem Modernisierungsschub bekommen, den polnische Städte in den letzten Jahren erfahren haben, noch ein polnisches Dorf gesehen. Aber wie Polen und seine Bewohner sind, das glaubt sie jetzt zu wissen.