Drogen und Prostitution in Kolumbien

Eine Line zwischen den Vorlesungen

Kolumbien ist nicht nur der größte Kokainexporteur der Welt, in allen sozialen Schichten werden Drogen auch konsumiert. Die Hilfsorganisation Renacer versucht, jugendliche Abhängige von der Straße zu holen und ihnen eine Ausbildung zu ermöglichen.

Marcella legt die Stirn in Falten. Eigentlich wartet sie auf Kunden. Doch nun stößt sie sich mit dem Fuß von dem Laternenpfeiler ab, an dem sie lehnte, und wendet sich zum Gehen. Sie hat zwei Sozialarbeiter in der Menschenmenge vor der Diskothek »La Escollera« ausgemacht, und denen will die 16jährige nicht unbedingt begegnen. Doch es ist zu spät. Die beiden haben sie entdeckt und kommen auf die minderjährige Prostituierte in den silbernen Hot Pants und den schwarzen Stiefeln zu. Marcellas Miene verfinstert sich. »Was wollt ihr denn«, ruft sie. »Lasst mich in Ruhe, verderbt mir nicht das Geschäft!« Unbeeindruckt kommt Quelis Rodriguez näher, während ihr Kollege sich im Hintergrund hält. Sie weiß nur zu gut, dass sie bei Marcella, die in Cartagenas Vergnügungsviertel La Mona heißt, die Berauschte, nicht landen kann. Aber Rodriguez will von Marcella ein paar Informationen haben.

Marcella nimmt so ziemlich alles, was in Cartagena, der alten Kolonialstadt an der kolumbianischen Karibikküste, an Drogen in Umlauf ist - Kokain, Barbiturate, Ecstasy. Die Hafenstadt ist eine der wichtigsten Drehscheiben des kolumbianischen Drogengeschäfts. Von hier aus wird ein beträchtlicher Teil des Kokains in die klassischen Konsumentenländer Europas und Amerikas geschmuggelt.

Doch Kolumbien ist nicht nur Drogenexporteur. Über Cartagena gelangt Ecstasy ins Land, erklärt Quelis Rodriguez. Die 28jährige arbeitet seit drei Jahren für Renacer, eine private Hilfsorganisation, die nicht nur versucht, minderjährige Prostituierte von der Straße zu holen, sondern auch Drogentherapien anbietet und sich in den Drogenpräventionsarbeit engagiert.

»Drogenkonsum und Prostitution sind kaum voneinander zu trennen, sind wie die beiden Seiten einer Münze«, sagt Rodriguez. »Häufig werden Minderjährige erst mit Drogen gefügig gemacht. Und mit der Abhängigkeit beginnt ein Teufelskreis, aus dem die Jugendlichen ohne Hilfe nicht mehr herauskommen.« Ihr Job ist es, nach Minderjährigen Ausschau zu halten und den Kontakt zu ihnen aufzubauen. Das geschieht über kleine Geschenke. Heute haben Rodriguez und ihr Kollege Wilson Montaño kleine Schreibblöcke und Stifte dabei. Normalerweise sind es Kondome, aber die sind gerade aus - Nachschubprobleme.

Verächtlich blickt Marcella auf den Block und lässt ihn in ihrer kleinen Handtasche verschwinden. »Fünf Mädchen aus Pereira sind in Boca Grande angekommen«, erzählt sie Rodriguez. Pereira ist eine Stadt in der kolumbianischen Kaffeeregion, Boca Grande ist die Vergnügungsmeile Cartagenas. Hier sind die internationalen Hotels, Discos und Bars, deshalb ist hier immer etwas los. Hier residieren die Touristen aus Kanada, den USA und Italien, die im recht sicheren Cartagena ihren Strandurlaub verleben. Vor allem in den Discos bahnen Mädchen wie Marcella den Kontakt zu ihren Freiern an. Am Tresen oder auf der Tanzfläche werden erste Blicke getauscht und der Rest ergibt sich dann recht schnell.

Marcella stammt aus Medellín und geht seit anderthalb Jahren auf den Strich. Sie hat es auf US-Amerikaner und Italiener abgesehen, und mit den 50 Dollar, die sie für eine Nummer verlangt, kann sie ihre Sucht problemlos finanzieren. Das Gramm reines Kokain kostet weniger als fünf Dollar und Basuco, die mit Tabak versetzte kolumbianische Variante von Crack, nicht einmal die Hälfte. Vor allem die älteren Prostituierten halten Rodriguez auf dem Laufenden. Von Marcella wurde sie bisher immer abgewimmelt, der Einladung, ins Zentrum von Renacer zu kommen, ist sie nie gefolgt.

Dieses Anlaufzentrum ist in einem alten Kolonialbau außerhalb der Stadtmauern untergebracht, im Barrio Getsemaní. Luis Enrique kommt täglich hierher. Vor drei Monaten hat Wilson Montaño, der Direktor der Einrichtung, den 15jährigen angesprochen. Luis Enrique fasste Vertrauen und besucht die Einrichtung seither regelmäßig. Täglich verbringt er ein bis zwei Stunden mit der Psychologin und redet über sein bisheriges Leben. »Für mich war es vollkommen normal, meinen Körper zu verkaufen«, sagt er. »Ich brauchte Geld für Basuco. Jobs sind hier ziemlich rar und schlecht bezahlt; also bin ich auf den Strich gegangen.« Den Entzug hat er mittlerweile hinter sich. Seit drei Wochen ist er clean und hat gerade mit einer Ausbildung bei Renacer begonnen. Er will für Touristen kochen, statt mit ihnen ins Bett zu gehen, wie in den beiden Jahren zuvor.

Luis Enrique ist Halbwaise. »Meine Mutter ist seit einigen Jahren tot und mein Vater trinkt, so hat es keinen interessiert, was ich gemacht habe und woher ich mein Geld hatte.« Enrique hat kein Problem, über seine Vergangenheit zu reden, er sagt, dass es ihm helfe, über sich selbst nachzudenken. Ein wichtiger Schritt, um dem Kreislauf von Drogenkonsum und Prostitution zu entkommen, konstatiert Montaño.

Doch Drogenkonsum in Kolumbien ist kein Armutsphänomen. »Das Problem ist eng verknüpft mit den sozialen Konflikten. Die bringen die Leute aus dem Gleichgewicht«, sagt Augusto Pérez Gómez, der Direktor von Rumbos (»Wege«), dem nationalen Drogenpräventionsprogramm. Die Flucht aus dem tristen, von Gewalt und Kriminalität geprägten Alltag, hält er für eines der zentralen Motive des steigenden Drogenkonsums. Dies gilt nicht nur für die verarmte Bevölkerungsmehrheit, sondern auch für die Angehörigen der kleinen Oberschicht. Dort findet sich nach Rumbos Schätzungen die höchste Konzentration von Drogenkonsumenten. Das Rumbos-Programm wurde vom amtierenden Präsidenten Andrés Pastrana initiiert und am 26. Oktober 1998 der Öffentlichkeit vorgestellt. Seitdem hat sich Pérez einen Überblick über die im Land tätigen Präventions- und Hilfseinrichtungen verschafft und auch in Cartagena vorbeigeschaut.

Bisher erhielten die Hilfsorganisationen wenig Unterstützung von der Regierung. Renacer ist eine der größten Institutionen dieser Art in Kolumbien. Sie hat ihren Hauptsitz in Bogotá und Dependenzen in Cartagena und Barranquilla, finanziert sich größtenteils aus Spenden, die vor allem aus Spanien und England kommen. Mittelfristig soll sich das ändern, wünscht Pérez. Drogenprävention soll zu einem festen Bestandteil der Regierungspolitik werden.

Gute Vorsätze, sagt Wilson Montaño, aber nicht mehr. Er ist skeptisch. Lange Jahre wurden die steigenden Konsumentenzahlen ignoriert und als übertrieben abgetan. »Drogenkonsum galt als ein Problem der reichen Staaten«, so Montaño. »Hier werde nicht konsumiert und die armen Bauern bauten die Kokapflanze nur für den Export an, das war jahrelang die Beschwichtigung, die von offizieller Seite zu hören war.« Den politisch Verantwortlichen ging es allein darum, das Angebot zu kontrollieren, das Problem der steigenden Nachfrage wurde vernachlässigt.

Alles in allem liegt die Zahl der Konsumenten harter Drogen in Kolumbien nach Schätzungen der Rumbos zwischen 200 000 und 400 000. (Zum Vergleich: die deutsche Drogenbeauftragte geht bei der doppelten Bevölkerungszahl von rund 150 000 Abhängigen aus.) Und es ist nicht nur Kokain, das konsumiert wird. Da seit einigen Jahren verstärkt Klatschmohn in Kolumbien angebaut wird, steigt auch die Zahl der Heroinkonsumenten beständig.

Außerdem sinkt nach Angaben der Rumbos das Einstiegsalter der Drogen-User. Etwa zehn Prozent der Befragten zwischen zehn und 24 Jahren haben Erfahrungen mit dem Konsum illegaler Drogen. Und unter den Studenten sieht es nicht anders aus. »Kokainspuren in den Toiletten der Universitäten sind keine Seltenheit«, sagt Pérez, der bis 1998 an der Universität von Bogotá Psychologie lehrte und die Situation dort besonders gut kennt.

Statt einen Kaffee zu trinken, sei die Line zwischen den Vorlesungen mittlerweile durchaus üblich, und die Dealer warten nach Angaben von Pérez um die Ecke in den Copyshops und den kleinen Imbissen von Bogotá. In der Altstadt residieren mehrere private Universitäten, Sprach- und Oberschulen. Täglich strömen einige Zehntausend Studenten in das oberhalb des Parlaments, des Präsidenten- und des Justizpalastes liegende Areal.

Studenten, Professoren, Lehrer, Journalisten, Gemeindevertreter, aber auch Haus- und Marktfrauen will Pérez mit seiner Aufklärungskampagne erreichen und für die Prävention gewinnen. Geeignetes Informationsmaterial, Broschüren, Radiospots, eine interaktive CD-Rom für Jugendliche, ein Buch für Eltern, Videos und einige Studien wurden in den letzten beiden Jahren hergestellt. Doch auch Straßenkinder, von denen viele Klebstoff schnüffeln, Prostituierte oder Häftlinge sollen nicht vernachlässigt werden, so Pérez. Allerdings fehlt es an qualifiziertem Personal und an Mitteln.

Für Montaño ist das ein entscheidender Mangel. »Ohne zusätzliche Mittel für die Ausbildung und für den Ausbau bestehender Einrichtungen treten wir auf der Stelle«, sagt er. »Der Bedarf ist enorm und unsere Arbeit wird nach wie vor oft ignoriert.« Gerade die Unterstützung der lokalen Behörden sei bescheiden. Derzeit fehlt es wieder einmal an Kondomen, deswegen sei es schwieriger, Kontakt zu den jugendlichen Prostituierten aufzunehmen, schildert er die aktuelle Situation in Cartagena.

Dabei hat Renacer einiges vorzuweisen. Allein in Cartagena werden 60 Jugendliche betreut, in Bogotá sind es über 80 und in Barranquilla, einer Stadt hundert Kilometer nördlich von Cartagena, weitere 40. In allen drei Städten gibt es ein ambulantes Zentrum als Anlaufstation für Jugendliche, wo ärztliche und psychologische Hilfe, eine warme Mahlzeit, bei Bedarf Kleidung und ein Bett angeboten werden.

Entscheiden sich die Jugendlichen für eine Therapie, werden sie im hogar permanente, einer Art Herberge, untergebracht. Sie ist räumlich von der Anlaufstelle getrennt und liegt außerhalb der Stadt, im Fall Cartagenas in einem kleinen Örtchen namens Tubacó. Fünf Häuser für jeweils zwölf Jugendliche umfasst das parkähnliche Areal.

Hier wohnt Luis Enrique, und es gefällt ihm gut, auch wenn seine Therapie nicht ohne Schwierigkeiten verlaufen ist. »Einmal bin ich weggerannt, direkt durch die Tür. Ich wollte aufhören, konnte nicht mehr. Doch dann bin ich wiedergekommen.« Andere flüchten heimlich, klettern über die Mauer des Gartengrundstücks und nehmen sich eine Auszeit.

Die meisten kehren jedoch wieder zurück und machen weiter - so wie Walter. Er hat die fünfte und letzte Etappe des Reintegrations- und Therapieprogramms abgeschlossen. Er hat eine Ausbildung als Friseur absolviert und ist der erste Jugendliche, der aus dem hogar permanente von Renacer in Cartagena entlassen wird. »Für ihn beginnt nun der schwierigste Teil, er muss sein neues Leben gestalten«, sagt die Psychologin Meya Alvárez auf dem Abschiedsfest zu seinen Ehren.

Walter will einen Friseursalon aufmachen, und seine Mutter unterstützt ihn dabei. Der Rückhalt der Eltern ist besonders wichtig für die Jugendlichen, und Renacer bemüht sich, die Eltern in die Therapie zu integrieren. Eine Familientherapie ist oft der Schlüssel zum Erfolg, sagt Rodriguez, die auch erschienen ist, um Walter zu verabschieden. »Es gibt viele Minderjährige, die von ihren Eltern geschlagen wurden und dann von zu Hause weggelaufen sind. Oft wussten sie sich dann nur mit Drogen und Prostitution zu helfen«, erklärt sie. Ist das Verhältnis zu den Eltern wieder intakt, machen viele der Jugendlichen schnell Fortschritte.

Ob Walter den Absprung endgültig schafft, weiß auch sie nicht. Eine echte Perspektive in diesem vom Bürgerkrieg zerrütteten Land kann auch Renacer nicht bieten. »Aber«, sagt Rodriguez, »die Ausbildung ist immerhin ein Schritt in ein anderes Leben.«