Theorie & Praxis IV

Saubere Sache

Treiben Sie Sport? Rasieren Sie sich regelmäßig im Gesicht, unter den Achseln, an den Beinen oder sonstwo? Bemühen Sie sich um ein »angenehmes Äußeres«? Warum eigentlich? Nein, das ist nicht der wirkliche Grund. Machen Sie sich nichts vor. Ein wenig mehr Ehrlichkeit stünde auch Ihnen gut zu Gesicht. Ich nenne Ihnen die tatsächlichen Gründe: Weil Sie Ihren während Ihrer umtriebigen Jugend mit allerlei Drogen und klebrigem Junk Food achtlos heruntergewirtschafteten Körper schamlos über sein tatsächliches Alter belügen wollen. Weil Sie eitel sind. Und weil Sie sich insgeheim dafür schämen, noch immer nicht Vollmitglied im Club der Neuen Mitte zu sein, wo außer kleinen Hanteln auch große Schampusflaschen gestemmt werden. Geben Sie es doch zu.

Täglich bestaunen Sie voller Ehrfurcht und mit schlechtem Gewissen die austauschbaren Arno-Breker-Geschöpfe, die Sie auf den Hochglanzwerbeplakaten da draußen abgebildet sehen, und nichts beeindruckt Sie mehr als der mit Duftwässerchen getränkte und sonnenbankgebräunte Android mit Seidenkrawatte.

Kurz: Sie wollen, wie alle anderen auch, ein wandelnder Hohlraumorganismus mit Dauergrinsegesicht und gestähltem Waschbrettbauch oder wahlweise Silikonbrüsten sein, weil man Ihnen lange genug eingeredet hat, dass so die Krone der Schöpfung aussieht. Dabei werden Sie nie so aussehen.

Ich jedenfalls brauche den ganzen Fitnessmumpitz nicht. Ich habe eine weit fortschrittlichere Einstellung zu meinem Körper. Denn ich habe mich nicht nur gewöhnt an den üppigen amorphen Gewebesack, der bei mir neckisch und verspielt über die pelzige Schambehaarung lappt, sondern ich bin stolz auf ihn. Die Menschen müssen nicht alle identisch sein. Es muss auch Individualität geben. Lassen Sie sich das gesagt sein.

Im übrigen rasiere ich mich auch schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Mehr noch: Ich lasse sogar bewusst die Haare wachsen, die seit einiger Zeit aus meinen Ohren sprießen. Meine Freundin sagt, der Bart würde kratzen. Natürlich hat sie, wie üblich, nicht die geringste Ahnung, worum es hierbei geht. Bärte müssen kratzen. Das ist ihre Bestimmung. Dafür sind sie da. Ein aalglatt geschabtes Kinn hingegen ist meist nur das äußerliche Anzeichen innerer Gleitcremehaftigkeit. Gerade die uneingeschränkt Stromlinienförmigen, Angepassten, Wendigen und Willenlosen nämlich sind es, deren sauber gemähte Wangen sowohl an den Glanz als auch an die Widerstandslosigkeit eines Babypopos gemahnen. Weil schon in ihrem Gesicht nichts Widerstand leistet, leistet auch in ihrem Kopf nichts Widerstand. Man sehe sich einmal den einen oder anderen Bundesminister an. Oder etwa die Rechtsextremen, von denen einige ihre Bartlosigkeit sogar bis auf ihren Schädel ausgedehnt haben. Bedarf es da noch weiterer Beweise? Der wild wuchernde Bart hingegen steht schon seit je sinnbildlich für bewusst gewähltes und gelebtes Außenseitertum. Ich sage nur: Karl Marx, Sigmund Freud, Räuber Hotzenplotz, Alice Schwarzer, Reinhold Messner. Daher appelliere ich: Seid Bärte, nicht Rasiercreme im Getriebe der Welt!

Vor acht Tagen habe ich einen notwendigen Entschluss gefasst, der in diesem Zusammenhang als mindestens wegweisend, wenn nicht gar bahnbrechend bezeichnet werden kann, und der mich darin bestärkt hat, auf dem steinigen Pfad der gesellschaftlichen Totalopposition weiterzuschreiten: Ich wasche mich nicht mehr. Seither fühle ich weitaus stärker noch als zuvor, wie die Gesellschaft der Gleichgeschalteten mich ausschließt. Ab morgen lasse ich beim Sex die Socken an. Ha, man wird mich noch kennen lernen!