Alles wird gut

Im Büchergroßmarkt gehen die Leute ihren Leidenschaften nach.

»Härry Porter?« schnauft der alte Mann erstaunt. Er steht vor einem mit Büchern, Kassetten und Spielen viel zu voll gepackten Tisch, trägt Shorts in rotbraunem Schottenkaro und dazu ein veilchenblaues Polohemd. Augenscheinlich gönnt er sich nach dem beschwerlichen Treppenaufstieg eine Ruhepause. Seine rechte Hand stützt den sehnigen Oberkörper auf dem Becken ab, und mit tiefen Zügen saugt er die kühle Klimaanlagenluft ein. Eine Weile schaut er noch erschöpft auf das überlebensgroße Comic-Gesicht dieses gewitzt dreinschauenden und wie ein Zauberer verkleideten Jungen, bevor er langsam und etwas steif weitertrottet. Und mir fällt natürlich Porter Ricks ein, »der Porter«, wie der »Flipper«-Freundeskreis den gestrengen, aber gerechten und auch schon mal verzeihenden All-American Dad nennt. Vielleicht denkt der Alte auch gerade an ihn und pfeift in seinem Kopf die Titelmelodie nach, ein drollig-swingendes, von einem Fünfziger-Jahre-Gesangsverein intoniertes Kinderlied.

Es würde mich gar nicht wundern, wenn dieses weitläufige und immerhin dreistöckige Bücherkaufhaus das Fan-Buch zur Serie auf Lager hätte. Ich mag aber nicht danach fragen, setze mich stattdessen wieder in Bewegung und gehe vorbei an langen Tischen, auf denen offensichtlich willkürlich oder doch zumindest nach nicht einleuchtendem Muster Belletristik ausgestellt wird: einen Hard-Boiled-Krimi von Ed McBain neben einem Pop-Roman von Sven Lager, den neuen Erzählungsband von T. C. Boyle neben Douglas Couplands »Alle Familien sind verkorkst«, Gerhard Henschels Riesenbriefroman »Die Liebenden« neben einer Werkausgabe von Philip K. Dick. Gut, es ist erzählende Literatur im weiteren Sinne. Allerdings lassen die Auslagendekorateure durchaus etwas gattungstheoretische Konzilianz walten und mischen etwa auch Studs Terkels Interviewband »Gespräche um Leben und Tod« und Navid Kermanis Exegese »Das Buch der von Neil Young Getöteten« darunter. Farblich jedoch, das muss man schon einräumen, ist das alles hübsch aufeinander abgestimmt. Hier herrscht die bunte, verwirrende, überwältigende Fülle, die den Ad-hoc-Bücherkauf zur absoluten Glückssache macht.

Die Gedichtbände hat man wie überall üblich ins Lyrik-Ghetto gesperrt, in eine kleine Nische, die nicht mal so viel Platz beansprucht wie die Rubrik »Katzen« oder »Hunde« oder »Insekten«. Aber ich darf mich nicht beschweren, ich kaufe ja auch selten welche. Andererseits kaufe ich nie Bücher über Insekten, Hunde oder Katzen ...

Affektiertes Gekicher kommt nun aus einer großen runden und roten Sitzecke hinter mir, wo sich drei bauchfrei gekleidete Mädchen im Bravo-Alter etwas fläzig aufführen und in »Buffy«-Filmbüchern blättern. Ob die »den Porter« noch kennen? Oder schon?

Ich schlendere weiter zur Rubrik »Musik« und versuche den dicken Verkäufer in Jeans und leicht angeschwitztem weißen Hemd zu passieren, ohne ihn zu stören. Er sitzt auf einer Art Barhocker und liest ziemlich konzentriert in einem dicken roten Leinenband. Offenbar hat er bereits die Hälfte durch. Ein Karabinerhaken mit gar nicht so kleinem Schlüsselbund daran ist ihm aus der vorderen Hosentasche gerutscht - vielleicht sitzt es sich aber auch einfach bequemer so - und baumelt nun etwas zu klassenkämpferisch in diesem doch eher bourgeoisen Setting. Vor ihm eine Art Stehpult mit Bildschirm und Tastatur, womit er das Verzeichnis lieferbarer Bücher schnell und bequem durchkämmt, wenn es denn verlangt wird. Aber in den letzten Minuten scheint das nicht der Fall gewesen zu sein, denn der Nina-Ruge-Bildschirmschoner arbeitet an seiner Stelle - und »Alles wird gut« zieht aufreizend langsam seine Kreise. Wo sind die Katzen-, Hunde- und Insektenfreunde heute? Auf Lyrik umgestiegen? Reicht ihnen der Sportteil? Oder kümmern sie sich lieber mal ganz praktisch um ihre kleinen Schützlinge? Denn das ist ja klar, vom Lesen allein werden die noch nicht satt!

Bei der Musikparzelle. Die wird - immer noch! - dominiert von den zwei Großjubiläen der letzten Zeit: Bob Dylans laut beklatschtem Sechzigsten und Jim Morrisons eher pietätvoll begangenem dreißigsten Todestag. Aber hier in den Regalen nimmt es sich nichts, beide lassen sich mit etwa der gleichen Anzahl Bildbände, Monografien, Spezialstudien und Werkausgaben würdigen. Und von all diesen Büchern hat man noch genug auf Lager. Dabei täte es mich ja schon interessieren, was mehr verkaufte Exemplare bringt: Leben oder Tod?

Aber da bemerke ich auch den mir vom Sehen bekannten freien Autor. Er pirscht sich langsam heran, blättert beinahe unauffällig in »Reclams Opernführer«, nimmt dann Willi Winklers Stones-Biografie zur Hand, aber man merkt doch, dass er nicht recht bei der Sache ist, dass ihn eigentlich etwas anderes interessiert. Immer wieder schielt er zur Popmusik, und dann fasst er sich doch ein Herz, geht hinüber und sieht schnell mal nach dem Rechten, nämlich ob seine letzte Publikation noch in ausreichender Zahl vorrätig und wie viel in der letzten Woche davon so weggegangen ist. Und als er mich bemerkt, lächelt er scheu und zieht linkisch-überhastet zwei Tische weiter, auf neutrales Gebiet, wo er kein eigenes Druckwerk liegen hat.

Neben ihm befindet sich ein weiterer Informationsterminal. Hier stehen sogar zwei Buchhändler arbeitslos davor und unterhalten sich angeregt. Beide tragen sie kleine Brillen mit silbernem Gestell, die eine etwas anachronistische Vorstellung von Intellektualität bedienen, und auch ihr sonstiger Aufzug, die astreinen, mit absoluter Sicherheit fremdgebügelten Falten in der Anzughose, das frische, steife Hemd, und sogar ihre Gesten gleichen sich so, wie es manchmal bei Vätern und Söhnen der Fall ist. Der Altersunterschied beträgt aber höchstens zehn Jahre, zu wenig also für eine direkte genetische Nachfolge. Schließlich befinden wir uns hier im protestantisch-aufgeklärten Norddeutschland und nicht, sagen wir, auf den Gesellschaftsinseln.

Als sich der Schriftstellerkollege aus meinem Gesichtskreis entfernt hat, sehe ich mir die Büchertische in ihrer Nähe an, und ein paar Gesprächsfetzen dringen an mein Ohr.

»Den neuen Botho Strauß müssen wir dann wohl noch besser platzieren«, sagt der Jüngere mit einem schwebenden Fragezeichen am Ende, womit er anzeigen will, dass er die Antwort natürlich längst kennt. Und mir geht schon jetzt seine preziöse, prätentiöse Gespreiztheit schwer aufs Suspensorium.

»Unbedingt«, sagt der erfahrene Kollege. Ich fahre überrascht herum, denn seine Antwort bringt er mit einem solchen heiligen Ernst vor, als hingen die Geschicke nicht nur dieses Buchgeschäfts davon ab. Unsere Blicke treffen sich kurz, aber ich halte dieser unerträglichen Selbstgewissheit in seinen Prophetenaugen nicht lange stand, auch weil ich befürchte, ich könnte zu viel darin lesen. Als ich mich wieder abwende, sehe ich eine goldene Kette von der Hosentasche zur Gürtelschlaufe einen ungleichmäßigen Halbkreis formen. Offensichtlich trägt er auch noch eine Taschenuhr. Und ich verstehe nun langsam, warum der dicke Mann bei den Hunden, Katzen und Insekten sich nicht zu einem kleinen gepflegten Pläuschchen mit den Kollegen von der Belletristik trifft, wenn die Kunden ausbleiben, sondern stattdessen lieber ein Buch liest.

»Ich halte Botho Strauß für einen der größten lebenden Denker - nicht Dichter, Denker«, fährt der erfahrene Kollege mit großen Augen fort, und sein Kopf nickt dazu viele Ausrufungszeichen in die Leere. Das habe ich mir gedacht - nicht gehofft, gedacht. Und jetzt habe ich endlich das sichere Gefühl, gehen zu können. Am schönsten ist es ja schon eine Weile nicht mehr.

Vor der Treppe halte ich kurz inne und schaue noch mal um die Ecke. Lautes Stimmengewirr hat das schöne helle Café bereits angekündigt, in dem Frauen, die neben ihren Stühlen große Tüten abegestellt haben, Milchkaffee schlürfen und geschäftlich gekleidete Herren frisch erworbene Hardcover aus der Spiegel-Bestsellerliste anlesen, um anschließend weltläufig »zwei Cappuccini« zu bezahlen, aber mit dem Trinkgeld zu knausern.

Ich übersehe die Tische, kenne aber niemanden unter den Gästen, zu dem ich mich gesellen könnte, um die eine oder andere Frage beantwortet zu bekommen. Etwa ab welchem Alter die Niedersachsen naturgemäß ihre Kinder kriegen, warum die Gesellschaftsinseln wohl so heißen, ob man später als Rentner auch mal veilchenblaue Polohemden trägt, und ob Taschenuhren nicht doch eine große Verirrung des traditionsreichen Uhrmacherhandwerks darstellen. Das alles muss ich nun mit mir selbst ausmachen.

Auf dem Weg nach draußen schlendere ich noch auf einem kleinen Umweg durch die Taschenbuchabteilung, wo eine Frau Mitte dreißig gerade einen Heyne-Roman ganz nach hinten in den Stapel zurückstellt, weil ihr kleiner, sichtlich gelangweilter Sohn mit infantiler Sorgfalt ein Eselsohr ins Cover gefaltet hat. Sie dreht sich nach links und nach rechts um, weiß also genau, dass sie sich gerade strafbar macht, und nimmt dann ihren Sohn fest bei der Hand, um den Laden zu verlassen. Auch sie hat genug gesehen für heute.

An der großen Zentralkasse vorm Ausgang steht der fußlahme Rentner. Er hat einen dicken Wälzer im Katalogformat über die großen Schlachten des Zweiten Weltkriegs auf den Tresen gelegt und zieht nun umständlich seinen Brustbeutel aus dem Kragen. Dann bin ich endlich wieder draußen, und das neckische Sonnenmädchen da oben wischt mir aufmunternd ihre warmen Strähnen durchs Gesicht.