Über »Kurze Interviews mit fiesen Männern« von David Foster Wallace

Der Weg ist das Ziel

Bis sein Großroman ins Deutsche übersetzt ist, vertröstet David Foster Wallace uns mit seinen tollen Erzählungen.

Jedes Jahr im Frühherbst schießt die amerikanische Literaturmaschine einen neuen Stern ans Firmament. Im vergangenen Jahr war es Jonathan Franzen mit seinem Roman »Die Korrekturen«, dieses Jahr ist es Jeffrey Eugenides mit »Middlesex«. Der Ablauf ist immer gleich. Die Autoren haben zumeist schon ein oder zwei kleinere Romane veröffentlicht, manchmal auch einen Band mit Erzählungen. Eine Erzählung oder ein Kapitel aus einem ihrer Romane ist im New Yorker oder in Harper's Bazaar veröffentlicht worden, vielleicht auch ein Essay. Die interessierte Öffentlichkeit weiß also, dass es diese Autoren gibt, und sie wartet auf das Buch, das seinen Autor im Frühherbst an das Firmament bringen wird: den großen amerikanischen Roman.

Auch David Foster Wallace ist einer dieser Schriftsteller. Im Frühherbst 1996 erschien sein knapp 1 100 Seiten umfassender Wälzer »Infinite Jest« und machte Foster Wallace zum »lustigsten Autor seiner Generation« (Village Voice); er sei »eines der größten Talente seiner Generation« (New York Times) und ein »durchweg innovativer, sensibler und intelligenter Schriftsteller« (San Francisco Chronicle); das Buch wurde als »das Werk eines Genies« gehandelt (Seattle Times). Kurz: David Foster Wallace war in der Saison 1996/97 der Star des literarischen Amerika.

Er bietet sich auch geradezu an für Projektionen jeglicher Art. Sein Vater war Literaturprofessor und seine Mutter Englischlehrerin, als Kind trat er in Werbefernsehsendungen auf, als Jugendlicher stieß er bis auf Platz 17 der westamerikanischen Tennisrangliste vor. Er studierte Philosophie, und als ihn das langweilte, begann er zu schreiben. Nachdem er ein kleiner, viel versprechender Nachwuchsschriftsteller geworden war, drehte er ein bisschen durch; Gerüchte besagen, er habe für eine Weile Drogen geschluckt, als gäbe es kein Morgen, und alles gefickt, was sich bewegt. Doch dann beruhigte er sich wieder und wurde Dozent an einer kleinen Universität in Illinois. Wenn er sich heute ablichten lässt, hat er meist ein Tuch um den Kopf und einen riesigen schwarzen Hund an seiner Seite.

»Infinite Jest« (was man mit »Unendlicher Witz« übersetzen könnte) harrt bis heute seiner Übersetzung ins Deutsche, sie soll jedoch schon in Arbeit sein. Was sich allerdings hinziehen könnte, denn es ist ein einigermaßen monströses Werk, das an einer Tennisakademie und in einer Rehabilitationsklinik für Drogensüchtige spielt und das schon allein durch die zahllosen Sprachen, die verwendet werden, jeden Übersetzer zur Verzweiflung treiben dürfte: von dem Slang der Filmleute und der Tennisfachterminologie über die Apotheker- und Drogenabhängigenlingo bis zu den Sprechweisen der Terroristen einer Quebecer Separatistencombo.

»Kurze Interviews mit fiesen Männern« heißt nun der grandiose Erzählungsband, mit dem der Verlag Kiepenheuer und Witsch die Wartezeit auf »Infinite Jest« verkürzt. Obwohl sich diese Sammlung von zwei dutzend Stories liest, als sei sie das Resultat eines entspannten Schreibens (das Buch erschien im Original 1999, also zwei Jahre nach »Infinite Jest«), so sehr sind die rund zwei dutzend Geschichten dieses Buchs Ergebnisse eines Programms, das Foster Wallace in einem Interview so umrissen hat: »Literatur handelt davon, was es heißt, Mensch zu sein. Wenn man davon ausgeht, dass es heute in den USA eine Menge Dinge gibt, die es schwierig machen, ein Mensch zu sein, dann ist die eine Hälfte des Jobs eines Schriftstellers, zu beschreiben, was uns so tough macht. Die andere Hälfte des Jobs besteht darin, zu beschreiben, dass wir immer noch Menschen sind. Oder sein können.«

Da die Art und Weise, wie wir Mensch sind, nicht zuletzt in den Medien verhandelt wird, nehmen die Prosastücke von Foster Wallace oft Bezug auf Formate des Radios oder Fernsehens. Sei es, wenn er Geschichten als Quizaufgaben erzählt, sei es, wenn die Interviews mit den fiesen Männern sich bei dem Format der Psycho-Quasselsendung bedienen: Jeder kann anrufen und sein ganz spezielles Problem mitteilen. Doch auch wenn sich manche Erzählung liest, als sei sie lediglich eine Transkription einer solchen Sendung, so besteht die Kunst von Foster Wallace doch darin, dass er die Forderung an die Literatur, das Menschsein zu beschreiben, tatsächlich einlöst.

Foster Wallace ist ein Großmeister der Mimikry. Er kann in seine Figuren hineinkriechen und ihre Sprache sprechen, als seien sie seine Handpuppen und als sei er ihr Bauchredner. Das mögen kleine Phrasen sein, eine bestimmte Art, wie Leute ihre Sätze aufbauen - jedes Mal steht man aufs Neue staunend vor diesen Menschen, deren Leben da an einem vorbeizieht: der Vertreter, der einem Kumpel erzählt, wie er am Flughafen eine Frau aufgegabelt hat, die gerade von dem Mann ihres Lebens versetzt worden war; der Mann, der seiner Freundin versucht zu erklären, dass er sie demnächst verlassen werde, gerade weil er sie liebe; oder ein Mann, der darüber sinniert, wie es passieren konnte, dass er sich ausgerechnet in dem Augenblick in eine Frau verliebte, als sie ihm erzählte, wie sie einmal vergewaltigt worden sei.

So banal und gewöhnlich diese Geschichten auf den ersten Blick auch erscheinen, tatsächlich sind es Nachrichten aus der wirklichen Welt oder, um den Titel der ersten Story zu zitieren, die dem Buch wie eine Widmung vorangestellt ist: »Ein stark verkürzter Abriss des postindustriellen Lebensstils«.

Nun gibt es ja eine ziemlich verbreitete Kritik an eben jenem postindustriellen Lebensstil, die beklagt, wir alle seien nur noch die Darsteller beliebiger Zeichenansammlungen, jede Verbindlichkeit sei verloren gegangen und die Welt da draußen sei zynisch und kalt. Andere behaupten im Gegenteil, diese Künstlichkeit sei prima, je künstlicher, desto besser, endlich könne man sich wirklich aussuchen, welche Rolle man spielen möchte. Beide Positionen mögen alltagspraktisch mitunter sinnvoll sein - das Besondere an David Foster Wallace ist nun, dass er sie so weit hinter sich gelassen hat, dass sie einem so naiv vorkommen, wie sie es verdient haben. Foster Wallace bewegt sich jenseits von Kritik und Affirmation, jenseits von Ironie und Pathos.

Wahrscheinlich würde er niemals bestreiten, dass wir alle in den Fängen der Bewusstseinsindustrie zappeln. Doch ob dies nun gut oder schlecht ist, interessiert Foster Wallace nicht.

Am Ende eines der zahllosen Interviews, einem großartig verblasenen Dialog zwischen zwei Gender-Studies-Fachmännern über den Zustand des Begehrens in unserer Welt, lässt Foster Wallace einen dieser Studenten sagen: »Das Leben findet immer einen Weg.« David Foster Wallace zeichnet keine Landkarten und er verfasst auch keine Reiseführer. Ihm ist es um das zu tun, was eigentlich die Aufgabe von Literatur sein sollte, in diesen restaurativen Tagen von ihr aber recht selten eingelöst wird: diesen Weg zu beschreiben.

David Foster Wallace: Kurze Interviews mit fiesen Männern. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2002, 380 S., 22,90 Euro