Bewegung und Bewegungen in Italien

Futur Antérieur

Ist Italien ein Laboratorium für soziale Bewegungen? Oder vor allem das Land der reaktionären Koalition von Berlusconi, Bossi und Fini? Mit Blick auf das Europäische Sozialforum, das vom 6. bis zum 10. November in Florenz stattfindet, geht der Soziologe Andrea Fumagalli dieser Frage nach. Er rekonstruiert die Entwicklung der radikalen Bewegungen seit den neunziger Jahren und beschreibt die politische Dynamik nach den Demonstrationen von Neapel und Genua im letzten und den beiden Generalstreiks in diesem Jahr.

Eine Bewegung aus dem Nichts: So heißt es, als am 30. November 1999 Demonstrationen in Seattle die Aussetzung der Milleniumrunde der Welthandelsorganisation (WTO) erzwingen. Der Tag, der ein Triumph des Neoliberalismus und der Globalisierung sein sollte, sieht eine Multitude von mehr als 50 000 Frauen und Männern als politisches Subjekt.

Wir wissen gut, dass die Bewegung nicht aus dem Nichts kommt. In den Ländern des Südens, in Europa und in den USA widersetzen sich seit Jahren Bewegungen mit direkten Aktionen, mit Appellen und Petitionen, mit Unruhen und bewaffneten Aufständen der Zerstörung und dem Unglück, die der Prozess der kapitalistischen Globalisierung bedeutet. Der Aufstand der Zapatisten in Chiapas ist nur ein Beispiel. Ein anderes sind die zahlreichen Revolten, die in der ersten Hälfte der neunziger Jahre die afrikanischen Länder südlich der Sahara erschüttern; sie richten sich gegen die Streichung sozialpolitischer Maßnahmen vor allem in den Bereichen der Gesundheitsversorgung und der Bildung, erzwungen durch die Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank.

In den neunziger Jahren entstehen aber auch Untersuchungen und Analysen zu den gesellschaftlichen Veränderungen, die mit der Ausbreitung des neuen, flexiblen Akkumulationsparadigmas (gemeinhin Postfordismus genannt) einhergehen. Im Folgenden werde ich, am Beispiel der Bewegungen in Italien, beschreiben, wie sich diese theoretischen Ansätze mit einer sich selbst organisierenden politischen Praxis verbinden können.

In Seattle läuft also eine Vielzahl von Linien zusammen, die die jüngste Vergangenheit durchziehen. Nur die Blindheit einer Lakaienseele ist nicht in der Lage, sie zu sehen. Brav gewühlt, alter Maulwurf!

Going Underground

Repression, Heroin, Resignation, so lauten die Schlagworte, mit denen in Italien für gewöhnlich die Jahre nach dem Ende der antagonistischen Bewegungen der Jahre 1968 bis 1977 beschrieben werden.

Die achtziger Jahre erleben die Restauration einer klerikalfaschistischen kulturellen Hegemonie. Erst am Ende des Jahrzehnts ist es eine studentische Bewegung, die »Panther«, die Wissen und Einkommen zu ihren Themen macht. Die Studentenbewegung nutzt die neuen Kommunikationsmöglichkeiten, die die Informationstechnologie bietet. Sie ist imstande, eine heterogene intellektuelle Schicht, die sich in der Ausbildung befindet, zu infizieren und wird von ihr infiziert. Die Bewegung macht erste Erfahrungen mit gesellschaftlicher Selbstorganisation und produziert Abweichung, eine Subkultur des »Underground«.

Eine Sprache finden. Im Jahr 1989 erscheint in Rom die erste Ausgabe einer neuen Zeitschrift, Luogo comune. Die Analyse der gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen gerät selbst zum Ort, an dem die soziale Auseinandersetzung gesucht wird. Im Redaktionskollektiv arbeiten unter anderem Marco Bascetta, Papi Bronzini und Paolo Virno. Sie verwenden eine Sprache, die aus der jüngeren französischen Philosophie kommt, von Foucault und Deleuze; Begriffe wie Kontrollgesellschaft, Biopolitik oder Multitude eröffnen eine Perspektive auf noch unabgeschlossene gesellschaftliche Entwicklungen, die darauf warten, präziser und grundlegender beschrieben und analysiert zu werden.

Eine zweite Zeitschrift, AltreRagioni, wird 1991 auf eine Initiative Sergio Bolognas von einer Gruppe Intellektueller gegründet, die bereits in den siebziger Jahren eine Linie der undogmatischen Kritik verfolgten. Die erste Ausgabe von AltreRagioni erscheint im Februar 1992 im Selbstverlag. Breiten Raum nimmt die Analyse der Arbeitsverhältnisse und des Arbeitsmarkts in Italien ein - Sergio Bologna prägt den Terminus »Selbstständige der zweiten Generation« -, unter anderem finden sich hier Untersuchungen zur Flexibilität, zum Kleinunternehmertum und zu neuen Arten netzwerkförmiger Organisation.

Fällt diesen beiden Zeitschriften die Funktion zu, die Analyse der aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen auf theoretischem Gebiet neu zu begründen und, wenn auch mit unterschiedlichen Positionen, so etwas wie eine »Theorie des Postfordismus« zu entwickeln, so ist der Ausgangspunkt für DeriveApprodi ein ganz anderer: Diese Zeitschrift ist in der Bewegung der centri sociali situiert und bildet einen Resonanzboden für die damit verbundene Subkultur.

Auf akademischem Niveau existiert eine Analyse der ökonomischen, sozialen und juridischen Veränderungen des Postfordismus praktisch nicht, die Underground-Debatte hingegen ist lebhaft. Die Zahl der Zeitschriften wächst, ein regelrechter Boom, in dem Titel entstehen wie Marx101, Alternative, InterMarx, Infoxoa, das kurzlebige RiffRaff, Vis-à-Vis und Futuro Anteriore (die italienische Ausgabe des in Paris von Toni Negri herausgegebenen Futur Antérieur). Zu den Zeitschriftenartikeln gesellen sich Monografien, innerhalb der Bewegung entwickeln sich eine »alternative« Publizistik und ein eigenes Verlagswesen.

Centri sociali. Das Kürzel CSOA bedeutet ausgeschrieben: centro sociale occupato autogestito, besetztes und selbstverwaltetes soziales Zentrum. Das Akronym findet nach dem August 1989 rasch Eingang in den Alltagswortschatz und ebenso in die Massenmedien. Mailand, diese jahrelang von der Ellbogenmentalität und vom Craxianismus korrumpierte Ödnis, wird damals zum Schauplatz eines Polizeigroßeinsatzes mit Hubschraubern, um in der östlichen Peripherie der Stadt das centro sociale Leoncavallo zu räumen. Das Neue daran ist nicht so sehr der Widerstand der etwa 40 Jugendlichen, die sich der Räumung widersetzen und Steine vom Dach werfen; sie werden verprügelt und festgenommen. Neu ist die Tatsache, dass es nicht einmal drei Monate dauert, bis die Gebäude des Leoncavallo, die Planierraupen während der Räumung vollständig dem Erdboden gleichmachten (auch das ein Novum), von den Militanten wieder aufgebaut sind.

So zu neuem Leben erweckt, ist das Leoncavallo ein Symbol, das für Erfahrungen und eine Praxis steht, die sich in der ersten Hälfte der neunziger Jahre in ganz Italien hundertfach wiederholen werden, nämlich im Kreis der centri sociali, die in ihrer Art einzigartig in Europa sind. Die sozialen Zentren befördern einen neuen Typus radikaler politischer Praxis, und sie schaffen den Raum für Selbstorganisierung und subkulturelle Produktion. Mitte der Neunziger zählt man, über das ganze Land verstreut, mehr als 120 solcher Zentren. Sie werden zu Orten der Zusammenkunft und des Konflikts, des Zusammenlebens und der Vermischung verschiedener Praxisfelder, die vom Kampf gegen die Prohibition bis zur Antifa, von der Musikproduktion bis zum Off-Theater, von der politischen Diskussion bis zum Vertrieb der eigenen Zeitschriften reichen. Die centri sociali werden zum politischen Experimentierfeld für Initiativen, die sich häufig gegen die traditionelle Ordnung des politischen Geschäfts richten, wie es sowohl die Rechte als auch die Linke betreibt.

Die centri sociali sind mit Repression und mit einer vor allem von den Massenmedien systematisch betriebenen Gleichsetzung mit den Bewegungen im Bereich der autonomia operaia der siebziger Jahre konfrontiert, sie gelten ihren Gegnern als kultureller Nährboden neuer terroristischer Gruppen. Doch im September 1994 gelingt es mit einer großen Demonstration für das Leoncavallo, das kurz zuvor erneut geräumt worden ist, und nach harten Auseinandersetzungen mit der Polizei, eine Art provisorisches Existenzrecht für diesen politischen Zusammenhang zu begründen.

Die centri sociali werden in ihrer Vielfalt zu einem zentralen Bereich, in dem sich die Bewegungen gegen die neoliberale Globalisierung konstituieren; in diesen Zusammenhängen entstehen, um zwei Beispiele zu geben, die Bewegungen der tute bianche und der disobbedienti.

Subkultur. Der Aufschwung eines kulturellen Underground in den neunziger Jahren verbindet sich mit der Herausbildung einer neuen radikalen und undogmatischen Linken; beide Entwicklungen hängen an der Existenz bestimmter Freiräume. Es sind einige centri sociali, in denen sich die ersten musikalischen Projekte konstituieren oder in denen es für italienische Cyberpunks und Hacker Möglichkeiten gibt, Erfahrungen auszutauschen.

Innerhalb weniger Jahre wird die Musikszene des italienischen Underground bedeutend. Symptomatisch ist die Entwicklung der so genannten Posses. Ihre Musik vermischt Elemente des afrikanisch-amerikanischen Rap mit auf italienisch vorgetragenen radikalen politischen Inhalten und häufig traditionellen oder populären musikalischen Formen. Die Samstagabendsessions im Livello 57, einem centro sociale in Bologna, sind Anfang der Neunziger der Beginn dieser Bewegung, die noch nicht zu Ende ist. Die Posses kommen aus Neapel, wie 99 Posse, Bisca oder Almanegretta, aus Rom, wie Onda Rossa Posse, Assalti Frontali oder Ak 47, die eng mit dem centro sociale Forte Prenestino verbunden sind, und aus Mailand, wie Tequila BoomBoom, um nur einige zu nennen. Neben den Posses ist vor allem die Ska-Szene von Bedeutung für den Underground, die sich vor allem in und um Turin entwickelt, und natürlich die Rave-Szene.

Die Cyber- und Hackererfahrungen finden Anfang der neunziger Jahre in der Zeitschrift Decoder und im Verlag Shake Edizioni (Mailand) einen Bezugspunkt. Die Verästelungen des Informatik-Underground gehen aus von Feltre und dem dortigen Cayennautogestita, von Bologna und Rom. In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts finden jährlich so genannte Hackmeetings statt. Sie werden zu Kristallisationspunkten nicht nur der Hackerszene, sondern gleichermaßen der unabhängigen Medien und der Gegeninformationsnetze: des Computernetzwerks ECN (European CounterNetwork), von Indymedia und der freien Radios.

»No global«

Die bisher beschriebenen Bewegungen und Praxisfelder verbreiten sich gerade dank ihrer Vielfalt und Verschiedenheit, sodass Ende der neunziger Jahre, mit den Ereignissen von Seattle, ein Terrain existiert, auf dem es möglich ist, Konflikte unmittelbar aufzugreifen und zu verallgemeinern. Auf den Demonstrationen in Prag gegen das Treffen des IWF und in Nizza gegen den EU-Sozialgipfel sieht man eine große Zahl von Demonstrationsteilnehmern aus Italien. Gleichzeitig fällt die Fraktionsbildung ins Auge, drei unterschiedliche Orientierungen zeichnen sich ab. Eine Strömung richtet sich am Partito della Rifondazione Comunista (PRC) und an der Linken des Gewerkschaftsverbandes CGIL aus. Zur zweiten Fraktion gehören einige der centri sociali und die Bewegung der tute bianche. Und schließlich sind eine dritte Fraktion die Basisgewerkschaften (Cobas) und eine antagonistische Strömung aus dem Bereich der centri sociali. Sie setzen gegen jegliche politische und ökonomische Institution und Vermittlung auf die direkte Auseinandersetzung.

Rifondazione Comunista steht für eine programmatische Erneuerung der kommunistischen Idee. Die Partei entsteht aus einer Spaltung des Partito Comunista Italiano (PCI) nach der Richtungsentscheidung auf dem Parteitag von 1990, als kurz nach dem Fall der Berliner Mauer der PCI sich in die Partei der Linksdemokraten (PDS) verwandelt (heute hat sie auch die »Partei« abgelegt und heißt nur noch DS). Der PRC bricht zum Teil mit leninistischen Traditionen und nähert sich den sozialen Bewegungen an. Das geht bis zur Erörterung der Möglichkeit, die Partei in der globalisierungskritischen Bewegung aufzulösen (der in Italien die Medien das Etikett »No global« angeheftet haben). Kommunismus bleibt für den PRC zentral. Der Kommunismus hat das Ziel, die Gesellschaft von der Arbeit und die Arbeit selbst zu befreien. Doch wird die traditionelle Trennung von Avantgarde und Volk für die soziale Umwälzung abgelehnt und stattdessen ein permanenter Diskussionsprozess über die politische Praxis gefordert, der die zapatistische Formel »camminar domandando« (fragend weitergehen) aufnimmt.

Relevant in diesem Zusammenhang ist auch die linke Minderheit in der CGIL, des größten italienischen Gewerkschaftsverbandes, der traditionell dem PCI und heute den DS verbunden ist. Diese linke Minderheit, zu der auch die Metallarbeitergewerkschaft FIOM-CGIL gehört, konstituiert sich gegen die konzertiert von Gewerkschaften, Arbeitgebern und Staat geschlossenen Stabilitätspakte von 1992 und 1993, mit denen jegliche Bindung der Lohn- an die Preisentwicklung abgeschafft wird.

Auf anderem Terrain, nämlich auf dem des sozialen Raums, ist die Politik der tute bianche angesiedelt. Sie unterstützen antiprohibitionistische Kampagnen ebenso wie die Bewegungen gegen das Copyright oder gegen genmanipulierte Lebensmittel. Doch im Zentrum ihrer Aktionen steht die Solidarität mit den Migranten - vor allem der Kampf gegen die Abschiebezentren, tatsächliche Lager für Sans papiers - und den Prekarisierten sowie die Frage sozialer Rechte und eines gesellschaftlichen Einkommens unabhängig von der Lohnarbeit.

Die italienischen Basisgewerkschaften schließlich sind eine Reihe von Organisationen, die sich in den Jahren der konzertierten Absprachen der Gewerkschaften entwickeln, die in Italien wie im übrigen Europa zur Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse und der Einkommen geführt haben. In einigen Bereichen, wie etwa den Schulen, organisieren sie die Mehrheit der Beschäftigten, doch stehen sie vor dem Problem, auf nationaler Ebene durch bestehende Gesetze von Vertragsverhandlungen ausgeschlossen zu sein. Die Politik der Cobas konzentriert sich, so könnte man sagen, auf den Konflikt zwischen Lohnarbeit und Kapital. Doch wird dieser Konflikt - ähnlich wie im Netzwerk der autonomia di classe, zu dem soziale Zentren in Turin, Mailand, Rom und in der Toskana zählen - ein wenig unabhängig von den Formen, die er annimmt, betrachtet. Im Bereich der Basisgewerkschaften gibt es deshalb großes Misstrauen gegen alles, was mit dem Thema Postfordismus zu tun hat, von den Debatten über die Umwälzung der Produktion und über immaterielle Arbeit bis hin zur Forderung nach einem »Existenzgeld«.

Eine Einladung nach Genua

Im Oktober 1999 kündigt Massimo D'Alema (DS), damals Ministerpräsident einer Mitte-Links-Regierung, an, Genua werde die Gastgeberstadt für das Treffen der G 8 im Jahr 2001. Während weniger Monate konstituieren sich in den meisten italienischen Städten Diskussionszirkel und Stadtplena, in denen politische Inhalte debattiert werden, aber auch, wie man eine Demonstration gegen ein Ereignis organisieren soll, das für die Medien enorm wichtig zu werden verspricht.

Im Verlauf des Jahres 2000 und vor allem in der ersten Hälfte 2001 entstehen überall Komitees gegen das Treffen der G 8, in denen sich alle kritischen gesellschaftlichen Gruppen finden. Zu ihnen gehört auch Rete Lilliput, das Netzwerk katholischer Basisgruppen, die teilweise Positionen gegen die kirchliche Hierarchie beziehen.

Im Frühjahr 2001 spürt man ein Klima wachsender Partizipation, ein Gefühl, als entstehe eine Bewegung von ungeheuren Ausmaßen, die in der Lage sein könnte, jenes Ghetto zu verlassen, das immer das Merkmal der gesellschaftlichen Opposition und der radikalen Bewegungen war.

Die Vielfalt der Bewegungen. Die Mobilisierung gegen das Treffen der G 8 bietet eine Gelegenheit, Gruppen und Fraktionen miteinander ins Gespräch zu bringen, die nicht nur unterschiedlicher Meinung sind, sondern kurz davor, sich anzugreifen. Es ist klar, dass in einem Bündnis, das von katholischen Basisgruppen und Pazifisten über Rifondazione Comunista und die Gewerkschaftslinken bis zu den Militanten der sozialen Zentren und den Anarchisten reicht, die Unterschiede, was Perspektiven, Inhalte und Aktionsformen angeht, bemerkenswert sein werden. Und dennoch führt das alles nicht zu einer großen Spaltung, existiert doch dieses gemeinsame Ziel: den Gipfel der G 8 zu blockieren. Doch genau das verhindert schließlich, dass die Multitude sich mit größerer Klarheit der Gesellschaft zuwendet und sich der bestehenden Widersprüche auf allen Ebenen, lokal und global, bewusst wird, aktiv und autonom wird, vielfältiges Subjekt ist, ohne von den mehr oder weniger formal bestehenden Organisationen eingeengt zu werden.

Neapel im März

Vor Genua herrscht eine gewisse Naivität. Die Botschaft, die von den vier Tagen des Protests in Neapel im März 2001 ausgeht, hat man nicht in ihrer ganzen Tragweite begriffen.

Vom 14. bis zum 17. März findet in der kampanischen Hauptstadt eine internationale Konferenz der OECD unter Beteiligung der großen multinationalen Konzerne im Bereich der Informationstechnologie statt. Das kampanische Netzwerk der globalisierungskritischen Bewegung organisiert einen Gegengipfel und eine Reihe von Kundgebungen, die in einer großen Abschlussdemonstration ihren Höhepunkt finden. Mehr als 30 000 Leute finden sich zu dieser Manifestation zusammen, mit der Hälfte hatte man gerechnet. Von der Polizei wird zum Schutz des Gipfels eine Art »Rote Zone« mit Gitterzäunen abgesperrt, wie man sie kurz danach auch in Genua zu Gesicht bekommen wird. Als der Demonstrationszug sich der Sperrzone nähert, greifen Polizeieinheiten die Menge auf der Piazza Municipio an. Vom größten Platz Neapels, hier soll die vorgesehene Abschlusskundgebung stattfinden, gibt es keine Fluchtmöglichkeiten, alle Wege sind von der Polizei abgeriegelt. In dem allgemeinen Chaos prügeln die Beamten auf die Masse ein und machen keine Unterschiede zwischen Demonstrationsteilnehmern und Passanten. Ungefähr 200 Festgenommene werden in Polizeikasernen physisch und psychisch malträtiert und erst am späten Abend übel zugerichtet freigelassen. Die Verantwortung für diesen Einsatz trägt der Innenminister der damaligen Mitte-Links-Regierung, Enzo Bianco (DS). Silvio Berlusconi ist noch nicht an der Macht.

Genua im Juli

Ich werde nicht darüber schreiben, was in Genua am 20. und 21. Juli 2001 geschah. Die Ereignisse dokumentieren Hunderte von Videos und Fotos unabhängiger Filmer und Fotografen. Die ersten offiziellen Darstellungen über den Tod von Carlo Giuliani, über den Polizeiangriff in der Via Tolemaide, über die Prügelorgien auf zahlreichen Plätzen der Stadt, über die Übergriffe auf wehrlose Personen und schließlich über den abendlichen Überfall auf die Diaz-Schule sind haltlos und lächerlich.

Genua stellt einen Einschnitt dar. Bisher praktizierte Formen des politischen Agierens zeigen Zeichen des Verschleißes. Das gilt für die Bewegung der tute bianche, deren Strategie, die rote Zone symbolisch zu erobern, den eigenen Körper einzusetzen, tragisch endet. Es gilt für die gewaltfreien Aktionsformen der Christen und Pazifisten. Sie werden von der Polizei verprügelt und immer wieder angegriffen. Und es gilt genauso für die antagonistische Strömung der Bewegungen und die Basisgewerkschaften: Ihrem Auftreten nimmt die Militanz des so genannten Black Block die politische Stoßkraft.

Die Erfahrung der Sozialforen

Von Genua geht eine starke emotionale Wirkung aus. In den folgenden Tagen sind in den verschiedenen Städten Italiens ungefähr eine Million Menschen auf der Straße, um gegen die Übergriffe der Polizei zu demonstrieren. Eine Vielzahl von Gefühlen und die vielfältigsten Erwartungen strömen hier zusammen. In dieser Multitude entstehen neue Formen der Repräsentation. Es bilden sich auf lokaler und regionaler Ebene Sozialforen, Strukturen, in denen es, zumindest theoretisch, möglich ist, die Politik der verschiedenen Bewegungen neu zu definieren.

Am Anfang stehen für die Sozialforen zwei Ziele: über die Ereignisse in Genua durch Gegeninformation aufzuklären und die politischen Inhalte des Protests gegen den Gipfel neu zu formulieren. Auf dieser Grundlage gründen sich bis zum Frühherbst 2001 mehr als 100 lokale Sozialforen mit über 20 000 Aktiven.

Nach dem 11. September ist es der angedrohte Krieg gegen Afghanistan, der zu einer neuen Mobilisierung führt. So nehmen im Oktober am Marsch von Perugia nach Assisi, einem traditionellen Friedensmarsch, über 200 000 Leute teil, und Anfang November demonstrieren etwa 150 000 gegen das in Doha (Qatar) stattfindende Treffen der WTO.

Von Bedeutung sind die Unterschiede zwischen den beiden Mobilisierungen. Der Friedensmarsch ist eine traditionelle Demonstration pazifistischer, gewaltfreier und basiskatholischer Gruppen, während die Kundgebung gegen die WTO unmittelbar gegen eine von der Regierung Berlusconi und der politischen Rechten organisierte Solidaritätsveranstaltung mit dem »Kampf gegen den Terror« steht. Das Netzwerk Lilliput unterstützt die Kundgebung gegen die WTO nicht, weil Ausschreitungen zu befürchten sind.

Zu erwähnen ist schließlich die große antirassistische und migrantische Demonstration vom 15. Januar 2002 gegen das von Umberto Bossi (Lega) und Gianfranco Fini (Alleanza Nazionale) vorgelegte Gesetz, das sich gegen die Migration und die Rechte der Einwanderer richtet.

Trotz der Erfolge auf der Straße sehen sich die Sozialforen zahlreichen Problemen gegenüber. In den großen Städten treffen sich vor allem bereits existierende Gruppen. Die Folge ist ein Ausbleiben Nichtorganisierter. Gerade umgekehrt verhält es sich in kleineren Städten und in der Provinz. Hier sind feste Organisationen (Parteien, Assoziationen, soziale Zentren) weniger präsent, die Sozialforen können eher zu Orten politischer Partizipation und Diskussion von unten werden. Ein anderes Problem sind wachsende politische Spannungen zwischen verschiedenen Strömungen, besonders zwischen den Basiskatholiken und den linken Gruppen. Bei der Debatte über zukünftige politische Aktionsformen wird von den Christen immer häufiger die so genannte Gewaltfrage ins Spiel gebracht. Spannungen gibt es auch zwischen Rifondazione und den disobbedienti auf der einen, den Basisgewerkschaften und der antagonistischen Strömung der sozialen Zentren auf der anderen Seite. Die Gruppe der nach Genua aus den tute bianche hervorgegangenen disobbedienti tritt politisch mit kollektiven direkten Aktionen in Erscheinung, die, wie etwa die Zerstörung eines Abschiebelagers in Bologna kurz vor dessen Fertigstellung, stark symbolisch sind, mit Praktiken der Desertion und ähnlichem. Sie werden unterstützt von centri sociali aus dem italienischen Nordosten, aus Rom und Mailand. Von Seiten der Cobas wirft man ihnen vor, in extremem Maße auf die massenmediale Öffentlichkeit fixiert zu sein und darüber hinaus keinerlei Blick für Arbeits- und Ausbeutungsverhältnisse zu haben.

Soziale Bewegungen, Partei und Gewerkschaft

Im Frühjahr 2002 melden sich die DS und die CGIL plötzlich wieder zu Wort. Ein Problem der Bewegungen, nämlich über fast keinen Einfluss auf parlamentarische Entscheidungen zu verfügen und daher »parlamentarische« Themen auszuklammern, verhilft angesichts der Arroganz Berlusconis und seiner Regierung der Mitte-Links-Partei und ein wenig später der Gewerkschaft zu einem kurzen Frühling.

Öffentlichkeitswirksam, durch Umzüge in den Gerichtsgebäuden von Mailand und Rom, protestieren Parlamentarier und Anhänger der DS gegen den Missbrauch der Justiz durch die Regierung, da Berlusconi Bilanzfälschung und andere Wirtschaftsdelikte amnestiert hat. Und auch das einzigartige Medienmonopol in Italien wird angeprangert, denn Berlusconi kontrolliert als Regierungschef das staatliche Radio und Fernsehen, als Eigner die privaten Kanäle.

Erstaunlicher und bedeutender ist der Kurswechsel der CGIL. Bis vor wenig mehr als einem Jahr verfolgt die Gewerkschaft (mit Ausnahme der Metaller und weniger Linker) einen konfliktfreien Kurs der konzertierten Übereinkunft und vermeidet jede Berührung mit den Bewegungen gegen die neoliberale Globalisierung. Doch die Ankündigung der Regierung Berlusconi, den Artikel 18 des Arbeitsgesetzbuchs zu ändern, der im Kern das Recht gewerkschaftlicher Organisierung garantiert und die Willkür der Arbeitgeber beschneidet, ruft die CGIL auf den Plan. Sie fordert alle Arbeiter und die anderen Gewerkschaften auf, die gewerkschaftlichen Rechte zu verteidigen. Angesichts der erkennbaren Bereitschaft der beiden anderen Gewerkschaftsdachverbände, CISL und UIL, der Gesetzesänderung zuzustimmen, entschließt sich die CGIL, die bis dahin einheitliche Linie der Gewerkschaften aufzukündigen und ruft für März zu einer zentralen Demonstration, für April zu einem Generalstreik auf.

Die Demonstration vom 23. März 2002 ist die größte in der italienischen Nachkriegsgeschichte, über drei Millionen Menschen kommen nach Rom. Angesichts dieses überwältigenden Erfolgs, der, auch wenn die CGIL das bestreitet, nicht zuletzt auf Genua zurückgeht, entschließen sich die anderen Gewerkschaften, gemeinsam für den 16. April zum Generalstreik aufzurufen. Trotz enormer Beteiligung, ändert dieser Generalstreik kaum etwas an der Haltung der Regierung. Ein paar fiskalische Zugeständnisse im Bereich der niederen Einkommen lassen allerdings im Sommer die gewerkschaftliche Einheit wieder zerbrechen, der Aufruf für den zweiten Generalstreik am 18. Oktober geht erneut nur auf die CGIL zurück.

Die Bewegung in der zweiten Reihe. Die Mobilisierung der CGIL, ihre organisatorischen Ressourcen und ihre Präsenz in jedem Winkel des Landes stellen für die sozialen Bewegungen ein Problem dar. Zudem ist die Einschätzung über den Kurswechsel der Gewerkschaft ein Grund für Auseinandersetzungen und Differenzen. Viele halten ihn nicht für glaubwürdig. Der Konflikt innerhalb der Bewegungen spitzt sich zu, als es um die Demonstraion im März geht. Die disobbedienti und der größere Teil der Sozialforen beschließen, einen eigenen Block innerhalb des Demonstrationszugs der CGIL zu organisieren. Sergio Cofferati, der damalige Generalsekretär der CGIL, stößt sie allerdings vor den Kopf, als er ihnen einen Redebeitrag auf der Abschlusskundgebung verweigert. Eine ähnliche Erfahrung bringt die Teilnahme am Generalstreik. In den meisten Städten gibt es zwei Demonstrationszüge, einen der CGIL und einen der Cobas. In beiden Fällen ist allerdings die Mobilisierung der sozialen Bewegungen beeindruckend: Mehr als 150 000 Menschen demonstrieren im März im Block der Sozialforen, und beim Generalstreik sind es in ganz Italien mehr als 300 000, die sich in die Demonstrationszüge der Basisgewerkschaften einreihen.

Perspektiven

Ein Jahr nach Genua scheint die Bewegung ein wenig müde geworden zu sein. Die Ereignisse auf internationaler Ebene und ebenso innenpolitische Themen legen eine kontinuierliche Mobilisierung nahe, die an den Kräften zehrt.

Unter diesen Bedingungen wird der Jahrestag von Genua vorbereitet. Der Konflikt zwischen dem Netzwerk Lilliput und den Linken, aber ebenso jener um die Politik der disobbedienti spitzt sich zu. Nicht alle wollen zu einer Demonstration am 20. Juli um 18 Uhr aufrufen, genau ein Jahr nach dem Tod von Carlo Giuliani. Viele Sozialforen befürchten einen Misserfolg und favorisieren ein Nebeneinander dezentraler Aktionen mit Kundgebungen und Sit-Ins auf verschiedenen Plätzen in Genua. Schließlich einigt man sich darauf, am 19. Juli öffentliche Diskussionsforen zu den Themen Arbeit und Prekarität, Migration, Umwelt, soziale Rechte und Krieg vorzubereiten. Den darauffolgenden Tag soll ein Plenum über den Stand der unabhängigen Ermittlungen zum Tod von Carlo Giuliani und zu den Vorfällen in der Diaz-Schule eröffnen. Die gemeinsame Demonstration auf der Piazza Alimonda, wo Carlo Giuliani erschossen wurde, soll sich anschließen. Und am Sonntag plant man schließlich ein Treffen zu den Perspektiven der Bewegung, nicht zuletzt in Vorbereitung des Europäischen Sozialforums vom 6. bis zum 10. November in Florenz.

Das Sozialforum Genua rechnet für die Demonstration mit etwa 40 000 TeilnehmerInnen. Doch tatsächlich sind am 20. Juli in Genua 150 000 Personen auf der Straße. Dies ist ein ebenso großer Erfolg wie der Verlauf der Demonstration, auf der es zu keinerlei Zwischenfällen kommt, ungeachtet des von konservativen Medien beschworenen Bildes von Straßenschlachten.

Die Demonstration von Genua wirkt befreiend und bereitet kommende Konflikte vor, bringt aber auch neue Hoffnung. Italien ist das Land mit der vielleicht reaktionärsten Regierung in Europa, die vielen als faschistisch gilt. Doch zugleich existieren starke soziale Bewegungen, eine konstituierende Multitude. Das letzte Wort ist also noch nicht gesprochen.

Aus dem Italienischen von Thomas Atzert.

Andrea Fumagalli untersuchte die Veränderungen der Arbeit im Übergang zum Postfordismus; Hrsg. (gemeinsam mit Sergio Bologna) von Il lavoro autonomo di seconda generazione (1997). Er lebt in Mailand.