Wie werde ich integriert?

Wie das kanadische Bildungssystem hilft, die Immigranten zu integrieren, erlebt ferdinand muggenthaler täglich beim Schulbesuch in Toronto.

There are people from many countries sitting in this classroom.« Der Satz, den unsere Lehrerin Brenda an die Leinwand projiziert, stammt von Xia Xin. Ein ähnlicher Satz findet sich in all den kurzen Texten der Schüler der Englischklasse der Schule für Erwachsenenbildung im Osten Torontos. Die Aufgabe war, das Klassenzimmer zu beschreiben.

Ein kanadisches Klassenzimmer. Auf einem Plakat über der Tafel ist, akkurat mit der Hand geschrieben, der Text der Nationalhymne zu lesen. »O Canada, our home and native land …« Darunter, mit Tesafilm festgeklebt, eine kleine kanadische Papierflagge. An das Schwarze Brett ist der »Code of Conduct« gepinnt. Er fordert Respekt in drei Bereichen: 1. Für sich selbst und die anderen. 2. Für unser Gebäude und 3. für Kanada. Punkt drei beinhaltet die Aufforderung, jeden Morgen beim Absingen der Nationalhymne stillzustehen.

Wenn ich pünktlich da bin, dann mache ich auch den Mund auf und zu, wenn um 9 Uhr die Melodie aus den Schullautsprechern scheppert. Die mäßige Qualität der Wiedergabe mildert das Pathos der Instrumentierung. Die wenigsten singen hörbar mit. Viele sind ohnehin noch auf dem Weg ins Klassenzimmer und bleiben in den Gängen stehen, bis die Stimme der Schulleiterin die Respektstarre löst: »Please be seated.«

Seit drei Monaten lerne ich von 9 bis 15 Uhr Englisch und versuche herauszufinden, wie Multikulturalismus praktisch funktioniert. Der kanadische Multikulturalismus ist das beste Argument, um zu erklären, warum es mir in Toronto gefällt. Denn die Stadt hat kein sexy Image. Ein Lehrer erzählt den Witz: »What’s the difference between Montreal and Toronto? It’s the difference between an alcoholic womanizer and an accountant.« Was ein accountant (Buchhalter) ist, weiß hier jeder, aber in der Mittagspause soll ich allen chinesischen Mitschülern erklären, was ein »alcoholic womanizer« ist, den Lateinamerikanern war der Ausdruck sofort klar. (Achtung: »Don’t stereotype too much«, wie Brenda sagt.) Toronto ist nicht schön, aber praktisch – und vielfältig. Mit dem gut ausgebauten Nahverkehrsnetz kommen wir überall hin und waren schon in hervorragenden vietnamesischen, indischen und chinesischen Restaurants essen, in Chinatown französischen Käse und salvadorianische Popusas kaufen oder deutsches Brot vom Bäcker Dimpfelmeier besorgen.

Multikulturalismus ist in Kanada Staatsdoktrin. Ende der sechziger Jahre wurde die Auslese der Immigranten nach Hautfarbe aufgegeben. Kanada suchte nicht mehr weiße, britische Bauern zur Urbarmachung der Prärien, sondern gut ausgebildete Arbeitskräfte für die wachsende Industrie. Gleichzeitig bedrohten die Separatisten in Quebec den Zusammenhalt des zweitgrößten Landes der Erde. Eine königliche Kommission für Bilingualismus und Bikulturalismus wurde eingesetzt und entwickelte die Idee der Multikultur. Die Politik des Nebeneinander der Kulturen entwickelte sich schnell zum Markenzeichen der kanadischen Einwanderungspolitik, auch in Abgrenzung zum Melting Pot USA. Die Formel dieser Politik lautet: Kanada hat zwei offizielle Sprachen, aber keine offizielle Kultur.

Was mir in Toronto begegnet, ist die Realität einer Einwanderungsgesellschaft, und Toronto ist die Avantgarde dieser Gesellschaft. Keine andere Stadt in Kanada zieht mehr Immigranten an. Und es scheint auf den ersten und den zweiten Blick ohne große Konflikte zu funktionieren. Wegen der offiziellen Ideologie des Multikulturalismus? Einige Widersprüche sind augenfällig. Z.B. meint Multikulti ja, dass alle die Traditionen ihres Herkunftslandes weiter pflegen können, und siehe da, in Chinatown sind die Straßenschilder englisch- und chinesisch-sprachig; in Greektown wird der Straßenname in griechischen Buchstaben wiederholt. Aber gleichzeitig rühmen sich die Kanadier, dass in ihren Städten weniger Ghettobildung stattfindet als in den USA. Und tatsächlich gibt es in Toronto zwar alle Arten von Restaurants, aber keine scharfe Abgrenzung der Wohnviertel nach Herkunft. Etikettenschwindel? Mehr Verschmelzung als im Melting Pot?

In meiner Klasse sitzen vor allem Leute, die erst seit einigen Monaten in Kanada sind. Sie leben von den zirka 10 000 Dollar, die sie bei der Einreise nachweisen mussten, um ihre ersten sechs Monate in Kanada zu finanzieren (erst danach können sie Sozialhilfe beantragen). Nur wenige haben schon ein paar Jahre gearbeitet und lernen jetzt noch mal Englisch, um bessere Jobs zu bekommen. Es verlassen immer wieder Leute die Klasse, manche haben einen Job bekommen, andere machen Praktika. Von den meisten erfährt man gar nichts. Und was aus ihren Träumen in einigen Jahren geworden sein wird, weiß ich sowieso nicht.

Ich frage Brenda, die schon seit 20 Jahren Immigranten Englischunterricht erteilt. Sie bestätigt, dass die Integration im Großen und Ganzen gut klappt. Und das trotz der rasanten Entwicklung: Jedes Jahr kommen etwa 80 000 Immigranten nach Toronto. Inzwischen hat Toronto knapp fünf Millionen Einwohner, 1970 waren es nur halb so viele. Auf die Probleme der Neuankömmlinge angesprochen, fallen Brenda Familiendramen ein: zerbrochene Ehen, weil sich die Frauen nicht mehr unterordnen wollen; Eltern, denen ihre im kanadischen Schulsystem groß gewordenen Kinder zu aufsässig geworden sind. Probleme mit rassistischer Diskriminierung hätten dagegen eher abgenommen.

Seit Monaten beschäftigt das Thema Rassismus bei der Torontoer Polizei die Presse. Der Toronto Star hatte in einer Artikelserie nachgewiesen, dass schwarze Autofahrer häufiger kontrolliert werden und, wenn ein Verkehrsvergehen vorliegt, häufiger mit auf die Wache genommen werden als Fahrer mit weißer Hautfarbe. Vertreter der schwarzen Community, einschließlich schwarzer Polizisten, bestätigen die Geschichte: Das sei nichts Neues, sondern Alltag. Die Polizeigewerkschaft ruft zum Boykott des Toronto Star auf, und der Polizeipräsident befindet sich jetzt, vier Monate nach der Artikelserie, immer noch auf Veranstaltungstour durch die Stadt, um das Image seiner Truppe wieder aufzubessern.

Auf einer Veranstaltung berichtet Nandita Sharma von der Gruppe »Open the borders«, wegen der verschärften Asylpolitik und der erhöhten Anforderungen an Immigranten in den letzten Jahren, steige die Zahl der illegalen Immigranten, und 7,5 Prozent der offiziellen Neuankömmlinge bekämen nur noch vorübergehende Arbeitsgenehmigungen. Außerdem sähen seit dem 11. September wieder mehr weiße Kanadier in den Immigranten eine Gefahr. Nandita Sharma ruft zum Aufbau einer antirassistischen Bewegung auf. In Kanada sei es bisher kaum gelungen, einen gemeinsamen Kampf der Einwanderergruppen gegen Diskriminierung zu organisieren, weil die Regierung mit ihrer Multikulturalismuspolitik sehr geschickt dabei sei, der Bewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Wieder ein gemeiner Trick entlarvt, denke ich. Vielleicht hat die Politik es aber auch einfach geschafft, dass für Neueinwanderer, die nach Kanada gekommen sind, Rassismus keine allzu große Plage ist. Natürlich gibt es keine Politik der offenen Grenzen. Die Einwanderungspolitik richtet sich streng nach ökonomischen Kriterien, aber ist das schon rassistisch? Kanada schafft es, seine Wirtschaft mit den anderswo ausgebildeten, hoch motivierten Arbeitskräften anzukurbeln. Man könnte den brain drain als eine Art Ausbeutung von Ressourcen armer Länder, als eine Art des Neokolonialismus begreifen. Aber Rassismus?

Damit der Ressourcentransfer funktioniert, muss die Eingliederung in den Arbeitsmarkt möglichst reibungslos vonstatten gehen. Es scheint zu funktionieren: Kanada ist Musterknabe innerhalb der G 7, und die gut ausgebildete Immigranten enden nicht als Taxifahrer. 24 Prozent bekommen in den ersten fünf Jahren einen Job, für den eine Universitätsausbildung nötig ist. Vor 1990 waren es nur 13 Prozent. Unter den Immigranten ist der Anteil an IT-Spezialisten und Ingenieuren vier bzw. drei Mal höher als bei den im Land geborenen Kanadiern.

»Kanada«, sagte der kanadische Finanzminister John Manley am 18. Februar, als er den neuen Staatshaushalt vorstellte, »ist ganz einfach ein Modell für die Welt, ein Modell für Diversität und Integration, für Offenheit für Menschen aus aller Welt.« Und er stellte die ökonomischen Vorteile dieser Menschenfreundlichkeit heraus. »Dass wir reich an Ressourcen sind, ist offensichtlich. Aber der wahre Reichtum Kanadas liegt in seinen Menschen.« Um diese Ressource noch besser zu erschließen, will seine Regierung in den nächsten zwei Jahren 41 Millionen Dollar zusätzlich in die schnellere Integration von Immigranten in den Arbeitsmarkt investieren. Darunter in Sprachkurse.

Ping und Douglas kommen lachend aus der Mittagspause zurück. Ping lässt sich neben mir in einen der orangefarbenen Plastikstühle fallen. Sie zittert, ihre Jeans mit den aufgenähten Schmetterlingen ist nass: Spuren einer kleinen Schneeballschlacht. Ping hat in China Studenten die Grundzüge der Computerbenutzung gelehrt, Douglas als Archäologiestudent in El Salvador Mayatempel ausgegraben. Seit Tagen flirten beide heftig. Ist das jetzt Melting Pot oder kanadischer Multikulturalismus?

Brenda achtet auf Durchmischung. In den ersten Tagen fragt sie jeden Morgen die Namen und Berufe der Mitschüler ab. Gruppenarbeit findet immer in neuen Kombinationen statt, nie mit zu vielen aus der gleichen Sprachgruppe. Und auf ihren Vorschlag wird das Klassenzimmer zur »English-only-zone« erklärt. In der Mittagspause, nachdem sich die Schlange vor der Mikrowelle aufgelöst hat, sitzen dann aber doch Laura, Delia und Erica zusammen. Von weitem klingt ihre Unterhaltung spanisch, sie kommen aus Mexiko bzw. El Salvador. Aber sie reden tatsächlich Englisch, wenn auch mit starkem mittelamerikanischen Akzent.

Haben die Leute in der Klasse Angst, ihre »Kultur« zu verlieren? Das ist kein Thema. Im Gegenteil: Nancy beklagt sich, dass sie immer nur Chinesen kennen lernt. Wer in der Klasse sitzt, möchte wissen, was er tun muss, um einen interessanten Job zu finden. Es ist klar, dass so etwas wie eine offizielle Kultur existiert: eine Kultur des Arbeitsmarkts. Aber was macht die englischsprachige, weiße, christliche Leitkultur?

Wengel ist in unserer Klasse die größte Verteidigerin der christlich-europäischen Wurzeln. Als die Lehrerin erklärt, dass die Indianer lieber »first nations« genannt werden, empört sie sich. Wenn die die Ersten waren, von wem stammen dann die Europäer ab? Wengel ist die einzige kanadische Staatsbürgerin in der Klasse. Sie kam vor sieben Jahren aus Äthiopien nach Kanada, hat schon einige Jahre als Erzieherin in einem Kindergarten gearbeitet und möchte jetzt ihr Englisch aufbessern. Wirklich enttäuscht war sie von ihrem neuen Staat, als ihren Kindern kurz vor Weihnachten im Kindergarten beigebracht wurde, »Happy Holiday« statt »Happy Chrismas« zu sagen. Wengel kann sich kaum beruhigen. Das komme alles nur von den Muslimen, schimpft sie. Die hätten viel zu viel Macht. Sie verstehe die Kanadier nicht, das hier sei doch ein christliches Land. Warum lassen sie es sich gefallen, dass die Muslime die Regierung übernehmen?

Fast ebenso empört setzt Jon, ein Albaner, zur Verteidigung der kanadischen Politik an. Nur wegen der kanadischen Toleranz könnten wir alle hier leben. Es hält ihn nicht mehr auf seinem Stuhl. Stehend erklärt er, er gehöre zu der fünf Prozent großen katholischen Minderheit in Albanien, und selbst die muslimische Regierung käme nicht auf die Idee, mit »Happy Ramadan« zu grüßen.

Wenn die Muslime nicht regieren, wer regiert dann Kanada? Eine Unterrichtseinheit im Vokabeltraining ist der repräsentativen Demokratie Kanadas gewidmet. Brenda ist entsetzt, weil kaum einer weiß, wie die beiden Kammern des kanadischen Parlaments heißen, wer der Bürgermeister von Toronto ist oder was überhaupt ein Abgeordneter ist. »Warum seid ihr denn nach Kanada gekommen? Wie habt ihr das entschieden, wenn ihr nichts über Kanada wisst?« Ich denke mir: Ist doch klar, die meisten kommen hierher, um mehr Geld zu verdienen. Ein Vorurteil, zumindest in meiner Klasse.

Tony, ein Bauingenieur, versichert mir, dass es für ihn kein Problem war, in China viel Geld zu verdienen. In China wird gebaut wie wild. Emmanuel aus Mexiko ist Anwalt. Seine Kanzlei wurde verwüstet, offensichtlich nicht von gewöhnlichen Dieben, sondern um ihn einzuschüchtern. Die Polizei zeigte wenig Elan bei den Ermittlungen. Inzwischen hat er eine Firma gegründet, die Spielstätten in Einkaufszentren betreiben will. Nancy ist Chemikerin und Sunray war Leiter der Personalabteilung einer chinesischen Telekommunikationsfirma. Als ich ihn frage, ob Geld ein Grund für die Auswanderung war, mache ich mich fast lächerlich. Geld sei nicht der Punkt, er möchte sein Leben auf andere Weise bereichern. Zum Beispiel habe ihm neulich eine Frau die christliche Religion erklärt. Gleich in die Kirche eintreten möchte er nicht, aber einen Gottesdienst wird er sich mal anschauen. In China sei sowas ja nicht möglich gewesen.

Nancy, Tony, Tracy, Sunray. Bei vielen Chinesinnen und Chinesen, der größten Einwanderergruppe, beginnt das neue Leben mit einem neuen Namen. Eigentlich heißen sie Liu Hong, Yuhong Wu, Chungrong Fan und Xuhui Li. Aber schon beim Englischunterricht in China vergeben die Lehrer neue Namen, so kam Nancy zu ihrem. Xuhui Li sah sich, um seinen Namen auszusuchen, eine Landkarte der USA an. Spontan sagte ihm der Name einer kleinen Stadt in Texas zu: Sunray. Inzwischen ist ihm allerdings aufgefallen, dass Sunray zu viel Verwunderung auslöst, und testet andere Namen. Frank ist schon durchgefallen, im Moment probiert er es gerade mit Oliver. »Do you like it? It means peace.«

Freitag. Ping lädt spontan die Klasse zu einer Feier am folgenden Samstag ein, einem traditionellen Höhepunkt während der 15tägigen chinesischen Neujahrsfeierlichkeiten. Ich komme um sieben in die vereinbarte Kneipe, »Cozy Corner«. Früh, denke ich. Tatsächlich haben die meisten Gäste längst gegessen, die ersten waren schon um halb zwei gekommen. Inzwischen spielen fast alle chinesisches Poker, nur Carlos aus Kolumbien steht am Tresen und freut sich, dass jemand kommt, der nicht Mandarin spricht. Ping lässt es sich nicht nehmen, mir noch mal Essen zu servieren. Ich bestehe auf Stäbchen, das kenne ich schließlich schon aus Deutschland. Es muss sehr witzig aussehen, wie ich die Essgeräte bediene. Irritiert von dem Gekicher, lasse ich mir die Handhabung noch mal zeigen. Leider kann ich keinen deutlichen Unterschied zu meiner bisherigen Technik erkennen und gebe es auf, mich weiter anzupassen.

Um acht gehen die ersten. Schließlich bin ich mit Ping alleine. Sie führt die Kneipe für zwei Wochen, bis ihre Freundin, die Besitzerin, wieder aus China zurück ist. Nach einigen Runden Billard erzähle ich, dass Nancy darüber klagt, sie lerne in Kanada nur Chinesen kennen. Ping winkt ab. Sie habe gar kein Problem, Leute kennen zu lernen. Warum sie nach Kanada gekommen ist? Ihr Job sei ihr einfach zu langweilig geworden. Nach acht Jahren lerne man da nichts mehr dazu, die eigenen Studenten wüssten nach ihrem vierjährigem Studium mehr als man selbst. Ihrem Mann sei es ähnlich gegangen. Er arbeitet noch als Systembetreuer bei einer Bank und kommt im September nach. »Sometimes people ask if I’m lonely. No. I enjoy it. I’m free.«

Immigranten

Nach den Anschlägen vom 11. September wurden die Immigrationsbedingungen in Kanada verschärft. Das Ziel der Regierung bleibt es aber, die Einwandererquote zu heben, um die fallende Geburtenrate auszugleichen. Bewerber sollen künftig aber stärker kontrolliert und ausgewählt werden.