Das Denken in der Empörung

Die neunbändige Werkausgabe von Jean Améry erscheint bei Klett-Cotta. von jörg sundermeier

Dieser Werkausgabe ist kein großer Erfolg vorherzusagen. Obschon die Einzelbände sehr preiswert abgegeben werden. Und der Erfolg bleibt nicht aus, weil die Rezensentinnen und Rezensenten nicht bereit wären, Jean Améry als Essayisten zu akzeptieren, sondern vor allem, weil sich ihnen das Großartige an Amérys Büchern nicht aufdrängt. Oder weil sie es sich nicht aufdrängen lassen. Zwar drucken die großen Zeitungen wohlwollende Ankündigungen der Werkausgabe, die Radiostationen ignorieren Améry gleichfalls nicht, doch man weiß nicht so recht, wohin mit ihm. Manche geben sich paternalistisch: Willi Winkler meint, Amérys Werk sei für das heutige Publikum zu pathetisch, Michael Rutschky konstatiert, Améry sei ein »rätselhafter Mann« gewesen. Die Linke, mit löblicher Ausnahme von konkret und der Schweizer Woz, ignoriert das Ereignis gleich ganz.

Denn Jean Amérys Werk, das an die Seite der Essays von Adorno, Arendt oder Benjamin gehört, ist einer intellektuellen Redlichkeit verpflichtet, die aufstört und sich nicht in den Literaturbetrieb und seinen Jargon fügen lässt, auch Jahre nach dem Erscheinen der Texte nicht. »Das Licht der klassischen Aufklärung war keine optische Täuschung, keine Halluzination. Wo es zu verschwinden droht, ist das humane Bewusstsein eingetrübt. Wer die Aufklärung verleugnet, verzichtet auf die Erziehung des Menschengeschlechts«, sagte Améry 1977 in seiner Dankesrede für den Lessingpreis und meinte es bis zur Selbstbezichtigung ernst.

Jean Améry wurde 1912 unter seinem bürgerlichen Namen Hans Maier geboren, wuchs im Salzkammergut auf und absolvierte eine Buchhandelslehre. Anschließend widmete er sich in Wien dem Studium der Literatur und Philosophie. Im Österreich der dreißiger Jahre und des Austrofaschismus betätigt er sich vor allem literarisch, er gibt die Zeitschrift Die Brücke heraus, veröffentlicht den Roman Die Schiffbrüchigen und beobachtet mit wachsendem Entsetzen, was im benachbarten Deutschland vor sich geht. Allerdings wähnt er sich in Österreich sicher. 1938 ist Deutschland dann in Wien und Wien in Deutschland, und Maier wird eine neue Identität aufgezwungen: Er wird Jude. »Ich war, als ich die Nürnberger Gesetze gelesen hatte, nicht jüdischer als eine halbe Stunde zuvor. Meine Gesichtszüge waren nicht mediterran-semitischer geworden, mein Assoziationsbereich war nicht plötzlich durch Zauberkraft aufgefüllt mit hebräischen Referenzen, der Weihnachtsbaum hatte sich nicht magisch verwandelt in den siebenarmigen Leuchter. (…) Jude sein, das hieß für mich von diesem Anfang an, ein Toter auf Urlaub zu sein, ein zu Ermordender, der nur durch Zufall noch nicht dort war, wohin er rechtens gehörte, und dabei ist es in vielen Varianten, in manchen Intensitätsgraden bis heute geblieben. In der Todesdrohung, die ich zum erstenmal in voller Deutlichkeit beim Lesen der Nürnberger Gesetze verspürte, lag auch das, was man gemeinhin die methodische ›Entwürdigung‹ der Juden durch die Nazis nennt.«

Améry emigriert sofort. In Belgien wird er, nach dem Einmarsch der Nazis, als »feindlicher Ausländer« interniert und in das Lager Gurs in Frankreich verbracht. Er kann aus dem nicht sonderlich scharf bewachten Lager fliehen, versucht aber nicht nach Spanien oder auf ein Schiff zu gelangen, sondern kehrt zurück nach Belgien. Dort schließt er sich einer kommunistischen Widerstandsgruppe an. Er verteilt Flugblätter. 1943 wird er von der Gestapo verhaftet und gefoltert. »Die Folter war keine Erfindung des deutschen Nationalsozialismus. Aber sie war seine Apotheose.«

Er verliert, wie er sagt, das »Weltvertrauen« und wird es nie mehr zurückgewinnen können. Die Nazis deportieren ihn in die Konzentrationslager Buchenwald, Auschwitz und Bergen-Belsen. Innerhalb der Lagerhierachie steht Améry als Intellektueller und Künstler ganz unten, seine Fähigkeit zur schonungslosen Analyse und genauen Abwägung ist nicht gefragt. Aber er überlebt.

Nach dem Krieg zieht er nach Brüssel. Er nimmt den Namen Jean Améry an, um seine Verbundenheit mit Frankreich zu demonstrieren, und arbeitet als Journalist für Schweizer Zeitungen. Obwohl er seine Texte weiterhin auf Deutsch verfasst, weigert er sich lange, in der BRD zu publizieren oder die Bundesrepublik zu betreten.

Bücher wie »Teenager-Stars, Idole unserer Zeit« von 1960 oder »Im Banne des Jazz, Bildnisse großer Jazzmusiker«, das im folgenden Jahr erscheint, oder »Gerhart Hauptmann, der ewige Deutsche« von 1963 lassen auf ihn aufmerksam werden, begründen jedoch nicht seinen Ruhm. Erst das Buch »Jenseits von Schuld und Sühne« von 1966 macht ihn schlagartig berühmt. Weitere wichtige Werke folgen: »Über das Altern« (1968), »Unmeisterliche Wanderjahre« (1971), »Lefeu oder der Abbruch« (1974), »Charles Bovary, Landarzt. Portrait eines einfachen Mannes« (1978). Sein Buch »Hand an sich legen« (1976), eine Reflexion über die Selbsttötung, wird gleichfalls zum Bestseller. Im Herbst 1978 bringt sich Jean Améry in Salzburg um.

Er wird nicht in Brüssel beerdigt, vielmehr hat er ein Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof. Améry ist kein französischer Schriftsteller geworden, er ist Österreicher geblieben. Dabei heißt es in den »Unmeisterlichen Wanderjahren« über Amérys / Maiers Ankunft in Brüssel: »Er traf die französische Sprache an und wurde zum zweiten Mal ein Mensch.« Stets liebte er die französische Kultur, zunächst aus der Ferne mit Heinrich Mann und dessen Vorstellung vom guten König Henri Quatre, später dann galt ihm Paris mit Simone de Beauvoir, Merleau-Ponty und dem geliebten Sartre als das geistige Zentrum der Welt.

Doch die Franzosen liebten ihn nicht. Erst lange Jahre nach Amérys Tod gibt es seine Texte auf Französisch zu lesen, was nicht nur daran liegt, dass Améry als »deutscher Autor« für die Leseerwartungen der meisten Franzosen zu wenig romantisch und »mystisch« ist, sondern vielmehr daran, dass Amérys Werk bis zuletzt den Aufstand des Österreichers, des Fremden, wenn man so will, in der Heimat gegen das Deutsche darstellte.

Doch ebenso wenig, wie in Frankreich eine breite Rezeption Amérys eingesetzt hätte, ist man im deutschen Sprachraum bereit, Améry neu zu entdecken und ihm seinen gebührenden Platz in der Literaturgeschichte einzuräumen. Insofern ist diese wunderbare Werkausgabe eine, die dem Markt trotzt, und es ist dem Verlag dafür zu danken, dass er offensichtlich einige Euros aus den Gewinnen seiner Tolkien-Ausgaben für die Améry-Werke zu verbrauchen bereit ist.

Dass Améry hierzulande vergessen wurde und für Großfeuilletonisten wie Michael Rutschky nicht mehr ist als ein »rätselhafter Mann«, ist kein Ergebnis einer ausgeklügelten Diffamierungsstrategie, sondern ergibt sich zwingend aus seinem Werk. War man in den sechziger Jahren noch bereit, mit einer nahezu kränkenden herablassenden Freundlichkeit, dem Überlebenden zuzuhören und seine scharfe Kritik über sich ergehen zu lassen, so braucht es spätestens seit der Wiedervereinigung und Deutschlands Beitritt zu den Alliierten, wie er im Bombardement Serbiens (»Nie wieder Auschwitz«) symbolisch vollzogen wurde, keinen Moralisten mehr.

Und selbst zum Mahner, der ja stets ein die Verhältnisse affirmierender Geist ist und kein rigoros der Vernunft, also der Kritik verpflichteter Intellektueller, taugt Améry nicht. Seine Analysen des Antisemitismus, der sich in den Protesten gegen den Sechstagekrieg auch in der Linken Bahn brach, haben bis heute nichts von ihrer Schärfe eingebüßt. »Jahrelang hat man – um einmal von Deutschland zu reden – den israelischen Wehrbauern gefeiert und die feschen Mädchen in Uniform. In schlechter Währung wurden gewisse Schuldgefühle abgetragen. Das musste langweilig werden. Ein Glück, dass für einmal der Jude nicht verbrannt wurde, sondern als herrischer Sieger dastand, als Besatzer. Napalm und so weiter. Ein Aufatmen ging durchs Land. Jedermann konnte reden wie die Deutsche National- und Soldatenzeitung; wer links stand, war befähigt, noch den Jargon des Engagements routinemäßig zu exekutieren. (…) Der Augenblick einer Revision und neuen geistigen Selbstbestreitung der Linken ist gekommen; denn sie ist es, die dem Antisemitismus eine ehrlose dialektische Ehrbarkeit zurückgibt. Die Allianz des antisemitischen Spießer-Stammtisches mit den Barrikaden ist wider die Natur, Sünde wider den Geist, um in der vom Thema erzwungenen Terminologie zu bleiben. Leute wie der polnische General Moczar können sich die Umfälschung des kruden Antisemitismus zum aktuellen Anti-Israelismus gestatten: Die Linke muss redlicher sein.«

Diese Sätze entstammen dem Aufsatz »Der ehrbare Antisemitismus«, den Améry 1969 in der Zeit veröffentlichte, also an prominenter Stelle. Améry kümmerte sich tatsächlich, trotz allem, was er hatte erleiden müssen, um die Deutschen und besonders um die Linke, der Améry sich zurechnete, deren Fehler und Bewegungs-Hohlformeln er aber nicht eines geistlosen Aktionismus wegen zu teilen bereit war. Doch die Deutschen hörten ihm nicht zu, sie sahen und sehen ihn als Opfer, Opfer ihrer Väter, die sie wiederum bereits mitsamt ihren Verfehlungen überwunden haben.

In dem Band zwei, der als erster Band der auf neun Bände angelegten Werkausgabe im Herbst des vergangenen Jahres erschienen ist, haben die Herausgeberin des Gesamtwerks, Irene Heidelberger-Leonard, und der Herausgeber dieses Bandes, Gerhard Scheit, die drei Bücher »Jenseits von Schuld und Sühne«, »Unmeisterliche Wanderjahre«, »Örtlichkeiten« zusammengefasst. Obgleich autobiografisch geprägt, handelt es sich nicht um private Berichte, sondern um große Essays, in denen der Autor seine Erfahrungen zum Anlass nimmt, über den Nazismus und über Nachkriegsdeutschland nachzudenken. In »Jenseits von Schuld und Sühne« bekennt er sich zu seinem »Ressentiment« gegenüber Deutschland, aus dem sich zugleich seine literarische Methode erklären lässt. Améry schreibt aus der Ich-Position und gibt auch gar nicht vor, dass seine Perspektive konsensfähig wäre. Alles andere hätte er als intellektuelle Unredlichkeit empfunden, gerade weil er sich seiner antideutschen Gefühle gewahr ist. In den drei Büchern beschreibt Améry seinen eigenen intellektuellen Werdegang. Die Texte beruhen auf Radiosendungen, die Améry für den großen, leider auch bald vergessenen Literaturagenten Helmut Heißenbüttel aufgenommen hat. Sie werden vom Herausgeber Gerhard Scheit mit einem Anhang von 350 Seiten begleitet. Es geht darin um die Frage, wie Hans Maier zu Jean Améry werden konnte.

Er beschreibt, wie ihm das Weltvertrauen in der Folter unwiederbringlich geraubt wurde: »Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Die Schmach der Vernichtung lässt sich nicht austilgen. Das zum Teil schon mit dem ersten Schlag, in vollem Umfang aber schließlich mit der Tortur eingestürzte Weltvertrauen wird nicht wiedergewonnen.« Er beschreibt, welche Qual es bedeutet, in den KZ lebend als geistiger Mensch ausgelöscht zu werden: »Das Lagerleben erforderte vor allem körperliche Gewandtheit und einen notwendigerweise hart an der Grenze der Brutalität liegenden physischen Mut. Mit beidem waren die Geistesarbeiter nur selten gesegnet, und die moralische Courage, die sie oft anstelle der körperlichen einsetzen wollten, war keinen Pfifferling wert.« Und er beschreibt zugleich, wie das Barbarische, das er erleiden und beobachten musste, ihn nicht dazu verführen konnte, seine geistige Unabhängigkeit preiszugeben. »Ich habe als Agnostiker die Gefängnisse und Konzentrationslager betreten und habe das Inferno, am 15. April 1945, von den Engländern in Bergen-Belsen befreit, als Agnostiker verlassen. Zu keiner Stunde konnte ich in mir die Möglichkeit des Glaubens entdecken, auch nicht als ich gefesselt in der Einzelzelle lag, wohl wissend, dass auf meinem Akt der Vermerk ›Zersetzung der Wehrkraft‹ stand und ich darum ständig gewärtig war, zur Hinrichtung abgeholt zu werden. Ich war auch niemals verbindlicher und verbundener Anhänger einer bestimmten Ideologie. Gleichwohl muss ich gestehen, dass ich sowohl für die religiösen als auch für die politisch engagierten Kameraden große Bewunderung empfinde.«

In den »Unmeisterlichen Wanderjahren« zeigt Améry die Wandlung vom Leser der Wald- und Feldmystiker Hamsun, Hesse, aber auch Wildgans oder Waggerl, zum Leser von Heinrich und Thomas Mann und zum Schüler der Positivisten in Wien. Eindringlich schildert er, wie er sich mit Wittgenstein, Carnap und Schlick über die Waldgängereien eines Heidegger erhob. Er schreibt und spricht dabei über sich in der dritten Person: »Eine feste Burg war die Gottlosigkeit positivistischer Färbung, eine gute Wehr und Waffe. Leute seines (Amérys; d.Verf.) Ursprungs und Schlages waren darauf angewiesen.« Entsetzt hatte er feststellen müssen, dass eben jener Heidegger, der doch von dem jungen Denker Améry längst entlarvt worden war, es schafft, in der Geschichte zu triumphieren. Dies ist vielleicht die schönste, weil schonungsloseste Selbstkritik, der sich je ein deutschsprachiger Autor unterworfen hat.

Andererseits ist es ein einmaliges Leseerlebnis, Améry in seiner Liebe zu Sartre zu folgen, die in den »Wanderjahren« noch immer anhält, selbst da, wo er Sartre als Intellektuellen scheitern sieht. Denn mit Sartre fand Améry, wie er bis kurz vor seinem Tod glaubte, einen moralisch so integren Philosophen, dass es ihm gleich war, inwieweit Sartre durch politische Aktionen seine Theorien diskreditierte. Er sah dies, litt, doch ließ er sich lange nicht von seiner Liebe zu Sartres Philosophie »des Lebenshungers«, wie Améry sie einmal nannte, abbringen.

Das Werk des Jean Améry, der ein hervorragender Stilist war, lebt von einem Aufstand gegen die Geschichtsläufte. Améry lässt sich von seinem Protest auch gegen vergangenes Unrecht nicht abbringen, das macht seine moralische Kraft aus. Umso mehr musste Améry von der bundesrepublikanischen Linken der sechziger Jahre befremdet sein, die in ihrer plumpen Vorwärtsgerichtetheit, die mit Geschichtsvergessenheit einherging, im Aktivismus versank und all die Fehler beging, denen sich Jean Améry aus bitterer Erfahrung versagen konnte. So erklärt sich auch, warum aus dieser Linken bis heute kein gültiges theoretisches Werk hervorgegangen ist, wohl aber ihre Protagonisten recht locker zu Rechten oder gar zu Faschisten mutieren konnten. Diese Linke, auf die sich auch die heutige deutsche Linke so positiv bezieht, stand weder auf einem theoretischen Fundament noch begründete sich ihr Protest in einer tieferen moralischen Empörung.

Améry ist ein Bildungsbürger gewesen, und er hat diesen Umstand gern betont. Seine Begriffsbildung und -anwendung ist nicht selten ungenau, auch deshalb, weil die Texte mit Verve abgefasst wurden. Das alles kann man einwenden gegen die Texte dieses Autors, es ändert nichts daran, dass er mit seiner absoluten, seiner menschlichen Empörung über die Verhältnisse, in die man gezwungen ist, als einzigartiger und großer Autor anerkannt werden muss.

Der erste Band der neunbändigen Werkausgabe von Jean Améry ist bereits erschienen. »Jenseits von Schuld und Sühne, Unmeisterliche Wanderjahre, Örtlichkeiten« (Werke, Band 2), Klett-Cotta, Stuttgart 2002. 856 S., Subskriptionspreis: 35 Euro, Einzelpreis: 40 Euro