Die Rückkehr der Populisten

Old Europe und die Inkompetenzspezialisten | Andreas Fanizadeh

Am Schauspielhaus Zürich inszeniert Schorsch Kamerun derzeit »Macht fressen Würde«. Dem Theaterstück liegt die langjährige Auseinandersetzung Kameruns (Die Goldenen Zitronen) mit den anschwellenden Bocksgesängen des europäischen Populismus zu Grunde. Begleitend zur Premiere schrieb Andreas Fanizadeh diesen Text für die Zeitung des Zürcher Schauspielhauses.

Ich hasse meine Eltern, Lehrer, Staat

Die achtziger Jahre: Rebellion, Drastik, Existenzialismus, Gegenwelt unmittelbar. Punk, Provokunst, Autonomie. Underground und Pop spielen mit dem Mainstream. Allgemein: Relative Saturiertheit. Dann plötzlich neue Unübersichtlichkeit. Im Osten einstürzende Sowjetstaaten, im Westen anschwellende neopopulistische Bewegungen. Dort, wo diese zunächst nicht in den traditionellen Konservatismus integriert sind – in Frankreich, Italien, Belgien oder Österreich –, werden sie in den Neunzigern zu dominanten Kräften. Unangenehme Verschiebungen.

Obwohl die Wirtschaft boomt, sorgen sich immer mehr Menschen in den kapitalistischen Zentrumsstaaten um ihre soziale Perspektive. Wachstum gilt nicht für alle. Viele Konzerne verlegen ihre Produktionsstätten in Staaten, in denen sie keine Steuern und viel geringere Löhne zahlen müssen als hier. Und aus den Zonen der weniger privilegierten kapitalistischen Welt setzen sich immer mehr Menschen in Bewegung. Nicht nur das Kapital, auch der Mensch will über die Staatsgrenzen hinweg wandern. Dank Revolutionierung von Technik, Kommunikation und Transport sind die Möglichkeiten und das Wissen hierfür weit verbreitet. Das Zapatistische Befreiungsheer (EZLN), territorial eingekreist von der mexikanischen Armee, schickt Nachrichten per Internet aus dem lacandonischen Urwald. Die Welt ist keine Einbahnstraße.

Doch ausgerechnet mit der globalisierten, internationalen Arbeitskraft wollen die Anhänger des Neopopulismus zu Beginn dieses neuen Jahrtausends nichts zu tun haben. Mit dem internationalisierten Kapital hingegen schon. Unternehmer Christoph Blocher, Chef der Schweizer Volkspartei (SVP), will »die Wirtschaft wieder klar vom Staate trennen« und die Pensionskassen der Schweizer und Schweizerinnen mit weiteren Liberalisierungen retten. So widersinnig dies volkswirtschaftlich insgesamt klingt, so willkürlich gilt sein wirtschaftsliberales Credo ausgerechnet nicht für Arbeitsmarkt und Ausländerpolitik. Schluss mit »Asyltourismus« und »Asylrechtsmissbrauch« heißt es hier protektionistisch und kein bisschen liberal. Fast fünfzig Prozent der Abstimmenden, die ihren Urlaub gerne in Thailand, Mexiko oder Kenia verbringen, votierten bei der letzten Asyl-Verschärfungskampagne für die Blochersche Programmatik. Die Dinge sind in Bewegung, und das verlangt nach neuen Antworten.

Es gilt, Dinge zu verstehen, die hier passieren

Zum Beispiel in Meilen, Kanton Zürich. In der Gemeinde am Zürichsee wollte der bürgerliche Freisinn (FDP) den Populisten von der SVP nicht kampflos das Terrain überlassen. Und so stellte sich FDP-Gemeinderat Christoph Hiller zusammen mit SVP-Gemeindepräsident Hans Isler an die Spitze der Bewegung. Konnten die Meilener schon die vorübergehende Zuweisung von achtzig Asylbewerbern juristisch nicht verhindern, so wollte man diesen doch wenigstens »konstruktiv und präventiv« (Isler) begegnen. »Das Gastrecht für die in Meilen untergebrachten Asylsuchenden zu koordinieren und zu ordnen«, machte Hiller zu seiner vornehmsten Angelegenheit. Auf den einberufenen Bürgerversammlungen präsentierten SVP und FDP Pläne, in denen gewisse Zonen der Gemeinde rot markiert waren. Zum Beispiel waren die öffentlichen Schul- und Sportanlagen so gekennzeichnet, sie sollten von Asylbewerbern auf keinen Fall betreten werden.

Zu den weiteren von Isler und Hiller aufgestellten »Hausregeln« gehörte, den Ausländern den öffentlichen Zutritt zum Hallenbad zu verwehren. (Die Meilener Debatte fand vergangenen Dezember statt.) Und »um gut nebeneinander leben zu können«, kündigten die Gemeindevorsteher an, »störende Ansammlungen von Asylbewerbern« im Dorfzentrum sofort auflösen zu lassen. Die Bürger und Bürgerinnen sollten allerdings auf »eigenständiges Eingreifen« verzichten und lieber die bei der Versammlung ausgegebenen Notrufnummern der Polizei oder des privaten Sicherheitsdiensts ORS wählen. Spezielle Bustransporte, »Verschiebungen«, wie man das in Meilen nannte, würden zudem garantieren, dass Asylbewerber nicht in Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung gerieten. »Meilen: Dank Asylkonzept blieb’s ruhig«, zog Erwin Haas im Tagesanzeiger schließlich die positive Bilanz. »Hauptsächlich dem ausgeklügelten Sicherheitsdispositiv« sei es geschuldet, dass die »Bevölkerung relativ tolerant« geblieben sei. »Zu Drogenhandel« und anderswo von Erwin Haas »festgestellten Belästigungen von Passanten und Frauenanmache« könne es durch die Asylbewerber in Meilen so erst gar nicht kommen.

Neopopulisten wie Christoph Blocher und seine SVP schimpfen gerne über »den Filz und die Reichen«. Dabei sind sie selbst (wie Österreichs Jörg Haider im Übrigen auch) zumeist durchaus wohlhabend, stammen aus der Mitte der Gesellschaft und repräsentieren, wie für Clanchefs auf der ganzen Welt üblich, eine inzestuöse und überaus wenig durchlüftete Vereins- und Stammesstruktur.

Diese Leute sind ehrlich, darum sind sie gefährlich

In Hamburg gelangte Ronald Schill, der als »Richter Gnadenlos« landesweit berühmt wurde, mit seiner Law-And-Order-Bewegung bis ins Amt des Innensenators. Mit seinem Angstpopulismus legte er einen rasanten Aufstieg hin, dem allerdings ein ebenso rasanter Abstieg folgen könnte. Ebenso wie Blocher oder Haider bekämpft er den »schädlichen Linkseinfluss« und weckte gegen Einwanderer sowie »die politische Klasse« die Futterneidinstinkte der Bevölkerung. Anders als Blocher, Haider oder Roland Koch von der Hessen-CDU fehlt Schill jedoch der jahrelang gewachsene Unterbau für seine Bewegung. In der Koalition mit der Hamburger CDU brauchte er ein ganzes Jahr, bis es ihm gelang, endlich eine Inkompetenzspezialistin für das seiner Partei zugefallene Amt der Kultursenatorin zu gewinnen.

Dann sorgte wiederum Schills Nase über Monate hinweg für Gesprächsstoff. Hat er oder hat er nicht? Schill musste zum Haartest. Kokainkonsum war ihm jedoch nicht nachzuweisen. Schills oberstes Anliegen besteht darin, »rechtsfreie Räume« in der Stadt zu beseitigen. Das hieß, vor allem gegen den verelendeten, schwächsten und damit sichtbaren Teil der Drogenszene vorzugehen. Widerstand wurde dem Innensenator zuletzt allerdings erfolgreich von Bewohnern und Bewohnerinnen kleinerer Bauwagensiedlungen entgegengesetzt. Der Senator handelte sich Bambule ein, genauso wie nach Polizeieinsätzen gegen Friedensdemonstrationen. Polizisten waren mit Holzknüppeln ohne nachvollziehbaren Grund auf 16-jährige Schüler und Schülerinnen losgegangen, die gegen den Irakkrieg protestieren wollten.

Ich wollte immer woanders sein, da wo ihr nicht seid

Autoritäre Populisten geben zumeist vor, im Sinne der schweigenden Mehrheit zu agieren. Nicht alle sind dabei so erfolgreich wie Britanniens Maggie Thatcher in den Achtzigern oder Silvio Berlusconi, der in den vergangenen Jahren geschickt die Mehrheitsmeinung der italienischen Bevölkerung auslotete und für seine politischen Ansprüche interpretierte.

Schills Interventionen gleichen in vielem den eher unberechenbaren Provokationen Haiders und verwirren mitunter auch die eigene Anhängerschaft. Auf einer Innenministerkonferenz im Dezember in Bremen schlug Schill vor, die deutsche solle die russische Regierung um die Formel für das Gas bitten, das russische Spezialeinheiten bei der Geiselnahme im Oktober in dem Moskauer Musical-Theater eingesetzt hatten. »Gute vorausschauende Politik zeichnet sich dadurch aus, dass man vorbereitet ist«, rechtfertigte Schill seinen Vorstoß später in der Presse. In Moskau waren an den Folgen des Gaseinsatzes 129 Geiseln gestorben, (und sämtliche Geiselnehmer extralegal hingerichtet worden).

In Österreich entfaltete Haiders Freiheitliche Partei (FPÖ) in der Opposition eine autoritär antikapitalistische Rhetorik. Sehr bewusst mobilisierte Haider eine in dieser Alpenrepublik schlummernde nationalsozialistische Tradition. »Stopp der Überfremdung! Österreich zuerst«, plakatierte die FPÖ 1999, was ihr einen Wahltriumph und die Regierungskoalition mit der katholisch-konservativen Österreichischen Volkspartei (ÖVP) bescherte. Ein gutes Viertel der Wähler setzte auf Haiders nationalrevolutionäre Parolen. Der österreichische Bundespräsident Thomas Klestil weigerte sich jedoch, besonders lautstarke FPÖ-Populisten zu Ministern zu ernennen.

So durfte der Unternehmer Thomas Prinzhorn nicht Wirtschaftsminister werden, der im Wahlkampf gerne Ausflüge unter die Gürtellinie unternahm. »Wenn ein Asylant in dieses Land kommt, kriegt er vom Sozialamt Medikationen, die der Inländer nicht bekommt, und zwar alles gratis. Er bekommt zum Beispiel Medikamente zur Hormonbehandlung, um die Fruchtbarkeit zu steigern, vom Sozialamt gratis. Das ist in Österreich chefarztpflichtig und wird ganz selten Inländern gewährt.«

Man kann auch ohne Arbeit auf Toilette gehen

In der Koalition hat die katholische ÖVP den Rassismus der deutschtümelnden FPÖ in ihre Regierungspolitik integriert und demokratisch kultiviert. Das Land lässt heute auch gegen wirtschaftliche Vernunft Einwanderung nicht zu. Gleichzeitig hat die ÖVP der populistischen FPÖ die antikapitalistische Spitze genommen. Und so beschafft die FPÖ nun trotz eines tobenden Haider in Kärnten der neoliberalen ÖVP in Wien die Mehrheit zur Zerschlagung des österreichischen Wohlfahrtsstaats. Die FPÖ und die Interessen des kleinen Mannes, eine herzzerreißende Geschichte, die ein jähes Ende fand. Nach dem Willen der Regierungskoalition sollen vom nächsten Jahr an die Pensionen der Angestellten und Arbeiter, vor allem der weiblichen, zwischen zehn und vierzig Prozent gekürzt werden. Den Klassenkampf hatte sich das nationalrevolutionäre Klientel unter den Freiheitlichen etwas anders vorgestellt, Haiders Partei »der kleinen Leute« ist am Auseinanderbrechen.

Da halfen zuletzt auch keine Attacken wie die auf den Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien mehr. Ebenso wenig der stereotype Antiamerikanismus und Haiders Reisen nach Bagdad, über die der Populist aus Kärnten gerade ein Buch veröffentlichte (Zu Gast bei Saddam). Die FPÖ verlor, seit sie mit der ÖVP in Österreich an der Regierung ist, bei sämtlichen Wahlen, hält landesweit aber immer noch knapp ein Fünftel der Stimmen.

1 zu 1 ist vorbei

Meilen, Hamburg, Wien, das alte Europa scheint mehr denn je in biopolitischen Mythen und völkischen Abstammungsideologien zu schwelgen. Die nationalistischen Konkurrenzideologien haben mit dem Zusammenbruch der Sowjetstaaten einen mächtigen Auftrieb erfahren. Gegeneinander ist en vogue. In Deutschland musste erst eine rotgrüne Regierung kommen, um (nicht ohne Peinlichkeit) »den Aufstand der Anständigen« auszurufen. Unter der Regentschaft von Helmut Kohls CDU dauerte die Jagd auf »ausländische Mitbürger« mit behördlicher Rückendeckung die ganzen Neunziger an. Nicht dass dies nun gänzlich vorbei ist. Aber der sozialdemokratische Innenminister Otto Schily hat zumindest den unter Kohl geduldeten »rechtsfreien Räumen«, den »national befreiten« Zonen im Osten, den Kampf angesagt.

Dass in Deutschland lange Zeit etwas nicht stimmte, erfuhr die ganze Fernsehnation bereits zu Beginn der Neunziger, als in Rostock-Lichtenhagen ein großer Plattenbau brannte. Mittendrin ein Fernsehteam des Zweiten Deutschen Fernsehens, das dokumentierte, wie starke Polizeikräfte tatenlos zusahen, wie der Mob das Gebäude belagerte und schließlich anzündete und die eingeschlossenen vietnamesischen Arbeiter und das Fernsehteam fast verbrannten. Es waren schreckliche Jahre, in denen sich der von den staatlichen Institutionen geschürte Rassismus mit dem nationalistischen Populismus der Straße verband. Der rechtsnationalistische CDU-Flügel um den wahrscheinlich baldigen Kanzlerkandidaten Roland Koch vertritt auch heute die alten, extrem aggressiven völkischen Biomythen. Sie zielen auf eine Abschottung Deutschlands gegen Einwanderung sowie die Vertreibung von Nicht-EU-Bürgern. Speziell die türkische Minderheit war in den vergangenen Jahren immer wieder Gegenstand starker ausländerfeindlicher Kampagnen.

Der süße Duft der Anarchie

Mit einer Linken, die sich die ganzen Achtziger noch vorwiegend in erster Person dachte, war es mit den Bildern der brennenden Asylunterkünfte nicht nur in Deutschland vorbei. Zu offensiv war man mit der Öffnung der Grenzen im Osten und der international zunehmenden Mobilität in ganz Westeuropa auf einmal mit populistischen Verschwörungstheorien konfrontiert. Nach 1945 gehörte ein »offizieller Antifaschismus« zur westeuropäischen Staatsdoktrin. Dieser wurde in den Neunzigern redimensioniert. Auch direkt aus der neofaschistischen Rechten hervorgegangene Parteien dürfen nun, wie in Italien, demokratisch mitregieren.

Der nationalistische Populismus dieser Tage richtet sein Hauptaugenmerk auf die Denunziation des globalen Migranten. Quer durch die großen Medien und Parteien wird einer Entmenschlichung von zumeist männlichen Jugendlichen aus südlichen Ländern das Wort geredet. Deren einziges Verbrechen besteht in aller Regel darin, das ihnen zustehende Recht auf Zukunft und erträgliche Arbeitsbedingungen dort zu suchen, wo es sie gibt. Eine mit der Herausbildung des internationalen Kapitalismus selbstverständliche Angelegenheit, sollte man meinen.

Vieles von dem, was sich derzeit an den EU-Außengrenzen abspielt, lässt sich wahrscheinlich kaum sinnvoll auf die Bühne bringen. Einiges von der dafür verantwortlichen Ideologie schon – mit der notwendigen Distanz, Verfremdung und Ironie. Dokumentarische Unmittelbarkeit erstickt zu leicht im Moralismus, bringt den kurzen Gedanken auf die Bühne, ohne ihn zu brechen, und versäumt so, ein utopisches Moment freizusetzen. Ohne dieses aber bleiben Musik und Theater bieder und harmlos. Interessante und engagierte Kunst muss keineswegs direkt die Sprache der Politik sprechen. Mitunter – und mit der nötigen »Style-Reife« – kann aber gerade Politik als Anti-Politik analytisch befriedigend und sehr unterhaltsam sein.

Andreas Fanizadeh (Die Beute / ID Verlag) war mit Schorsch Kamerun und dessen Band Goldene Zitronen, mit Blumfeld, anderen Musikern, Intellektuellen und autonomen Antifa-Gruppen an den Wohlfahrtsausschüssen beteiligt, die zur Abwehr des gegenrevolutionären Übels (»Etwas besseres als die Nation«) Anfang der Neunziger durch Ostdeutschland tourten.

Die Zwischenüberschriften sind Songs der Goldenen Zitronen, Rocko Schamonis und der Band Tocotronic entnommen. Für Hinweise dankt der Autor Roberto Ohrt (Hamburg), Nicole Ziegler (Zürich) und Michael Fanizadeh (Wien).

»Macht fressen Würde« ist noch am 17., 18., 19. und 20. Juni im Schauspielhaus Zürich zu sehen. Karten unter 0041 - 1 - 258 77 77 oder www.schauspielhaus.ch