Nürnberg in Revision

Dass es den Internationalen Strafgerichtshof gibt, ist eine Genugtuung für die deutsche Völkerrechtslehre. Von Stephen Rehmke

Im Briefwechsel mit Karl Jaspers schrieb Hannah Arendt im August 1946: »Diese Verbrechen lassen sich, scheint mir, juristisch nicht mehr fassen, und das macht gerade ihre Ungeheuerlichkeit aus. Für diese Verbrechen gibt es keine angemessene Strafe mehr; Göring zu hängen, ist zwar notwendig, aber völlig inadäquat. Das heißt, diese Schuld, im Gegensatz zu aller kriminellen Schuld, übersteigt und bricht alle Rechtsordnungen.«

Gleichwohl entschieden sich die Alliierten nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches für die Errichtung eines Internationalen Militärgerichtshofs, der auf der Grundlage der Ermittlungsergebnisse der United Nations War Crimes Commission (UNWCC) gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher den ersten internationalen Strafprozess führen sollte. Die Hauptanklagevertreter der vier Siegermächte USA, Großbritannien, Frankreich und Sowjetunion klagten 22 führende Vertreter des nationalsozialistischen Deutschland aus Partei, Regierung, Militär und Wirtschaft an. Am 30. September 1946 sprachen die Richter des Internationalen Militärtribunals (IMT) ihr Urteil. Sie verhängten zwölf Todesurteile, drei lebenslängliche und vier begrenzte Freiheitsstrafen und verkündeten drei Freisprüche. Der Militärgerichtshof erklärte vier Organisationen, die SS, den SD, die Gestapo und das Führungskorps der NSDAP, für verbrecherisch.

Der Gedanke, die gefassten deutschen Täter einem wie auch immer ausgestalteten Gerichtsverfahren zu überantworten, war unter den Alliierten allerdings nicht unstrittig. Vor allem in der Sowjetunion und in Großbritannien, aber auch in den USA, plädierten gewichtige Stimmen immer wieder für eine sofortige summarische Exekution der ermittelten Kriegsverbrecher. Insbesondere die Briten äußerten Bedenken, dass ein Gerichtsprozess von den Deutschen nicht nur in seiner Legalität angezweifelt, sondern auch instrumentalisiert würde. Und in der Tat hätte es der Gerechtigkeit wie auch dem damaligen Rechtsgefühl Genüge getan, wenn man die Täter umstandslos hingerichtet hätte.

Es waren die US-Juristen um den späteren Hauptanklagevertreter Robert H. Jackson, die sich vehement für ein Gerichtsverfahren gegen die NS-Täter einsetzten. Sie sahen in einer Aburteilung der Hauptschuldigen der deutschen Verbrechen die Voraussetzung für die Restauration einer Rechtsordnung und eines demokratischen Staatswesens in Deutschland. Darüber hinaus hofften sie, dass ein derartiges Verfahren Präzedenzwirkung für ein internationales Strafrecht hätte.

Deutsches Völkerrecht, politisches Strafrecht

Nach anfänglicher Zurückhaltung begann die deutsche Straf- und Völkerrechtslehre entschiedene Zweifel an der Bestandskraft der Anklagen und der Urteile anzumelden. Sie richteten sich u.a. gegen den Status des Gerichts als ad-hoc-Tribunal, gegen seine Besetzung mit alliierten Richtern oder gegen die Tatsache, dass neben der strafrechtlichen Bewertung der deutschen Kriegs- und Vernichtungspolitik – des »Totalen Krieges« wohlgemerkt – nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz tu quoque nicht auch mögliche Verstöße der Alliierten gegen das völkerrechtliche Kriegsrecht behandelt wurden.

Weiterhin sahen die deutschen Rechtswissenschaftler den Grundsatz »nullum crimen sine lege« (»Kein Verbrechen ohne Gesetz«) durch die angeblich rückwirkende Strafbarkeit des Angriffkrieges und der Verbrechen gegen die Menschheit verletzt, da diese Tatbestände nicht schon früher ausdrücklich im Völkerrecht kodifiziert worden waren. Diese in formal-juristischen Argumenten gehaltene Abwehr des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals fand die von den Briten befürchtete Rezeption in der deutschen Öffentlichkeit. Die Deutschen wähnten sich als politische Opfer einer völkerrechtswidrigen Siegerjustiz. Und das umstrittene Rückwirkungsverbot pervertierte zu dem trotzigen Spruch: »Was damals Recht war, kann heute kein Unrecht sein!«

Als die Westalliierten nach den zwölf Folgeprozessen und etlichen weiteren Verfahren schließlich der bundesdeutschen Justiz die Gerichtsbarkeit über die NS-Täter überließen, folgte die entsprechende strafrechtliche Aufarbeitung. Über 90 Prozent der etwa 100 000 bis heute eingeleiteten Ermittlungsverfahren wurden eingestellt oder endeten ohne ein Strafurteil.

Den Alliierten im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess ist kein juristischer Fehler vorzuwerfen. Das Militärtribunal entsprach seiner eigenen Anforderung, ein »ordentliches« internationales Strafgericht statt eines »außerordentlichen« Siegertribunals darzustellen. Es ermöglichte ein Strafverfahren, das unter den damaligen Bedingungen und unter den Eindrücken, die der deutsche Vernichtungsfeldzug in Europa hinterlassen hatte, fast übervorsichtige Fairness zeigte. Darüber hinaus ließ es Fakten über die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland in einem Umfang zusammentragen, der bei nachträglicher Betrachtung dem juristischen Einwand des tu quoque jegliches Gewicht nahm und für die historische bzw. wissenschaftliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus besonders wertvoll war.

Dennoch blieb das Nürnberger Verfahren bis in die heutige Zeit von juristischen Delegitimationsversuchen und politischer Instrumentalisierung nicht verschont. Und obwohl die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Dezember 1948 die Regelungen des Internationalen Rechts, wie sie im Statut und im Urteil des Nürnberger Militärgerichtshofes zur Anwendung kamen, als so genannte Nürnberger Prinzipien bestätigte, verloren sich die weiteren Bemühungen um ein internationales Strafgesetzbuch alsbald in der strategischen Interessenpolitik des Kalten Krieges.

Das damalige Internationale Recht schrieb den Alliierten nicht zwingend vor, über die deutschen Kriegsverbrecher in einem Gerichtsverfahren zu urteilen. Es war eine ausschließlich politische Entscheidung, den Grundsätzen des Internationalen Rechts zu vertrauen und – trotz der in Arendts Worten beschriebenen Unmöglichkeit – über die schwersten und singulär bleibenden Verbrechen zu richten. Ferner oblag es auch nur ihrer Verantwortung, den Militärgerichtshof einzurichten und zu führen. Die Alliierten, nicht die deutsche Bevölkerung, hatten das NS-Regime besiegt und beseitigt.

Dass diese historische Bedingung genutzt wird, um die Rechtsprechung des Tribunals als »Siegerjustiz« zu diskreditieren, ist eine Ungeheuerlichkeit, die in deutscher Verantwortung liegt. Gleichwohl darf dies nicht davon ablenken, dass die Ausübung internationalen Strafrechts von den politischen Kräfteverhältnissen und den strategischen Zielen und Entscheidungen der Führungen der jeweiligen Staatsmächte abhängig ist. Es ist politisches Strafrecht, und es ist als solches auch zu bewerten.

So ist es auch zweifelhaft, ob mit dem im Juli 2002 in Kraft getretenen Statut des ersten Ständigen Internationalen Strafgerichtshofs, des International Criminal Court (ICC), allein die von internationalen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch erhoffte effektive Wahrung von Menschenrechten verfolgt wird.

Das ICC-Statut

Das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes erklärt den ICC zuständig für Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit und formal auch für das Verbrechen des Angriffskrieges. Diese Verbrechensarten werden mit detaillierten Beschreibungen einzelner Tathandlungen definiert. Dabei wurden vielfach auch Delikte aufgenommen, die nach allgemeiner Auffassung zwar als gravierende Menschenrechtsverletzungen gelten, aber bisher nicht in allen Staaten unter Strafe gestellt sind. Die beteiligten Nichtregierungsorganisationen erhoffen sich deshalb exemplarische Verfahren vor dem ICC, die den weltweiten Menschenrechtsstandard erhöhen könnten.

So werden im Artikel 7 des Statuts unter dem Begriff der Verbrechen gegen die Menschheit klassische Tathandlungen wie Mord, Ausrottung, Versklavung und Deportation genannt, die alle bereits im Nürnberger Statut enthalten waren. Gleichzeitig wurden die Verbrechen gegen die Menschheit um international bislang noch nicht anerkannte Handlungen erweitert.

Beispielsweise wurde die Tathandlung der Verfolgung einzelner Bevölkerungsgruppen aus politischen, rassischen und religiösen Gründen um die Verfolgung aus nationalen, ethnischen, kulturellen, geschlechtlichen oder anderen völkerrechtlich unerlaubten Gründen ergänzt. Weiterhin findet sich in jenem Artikel ein ausdrückliches und uneingeschränktes Folterverbot und ein Verbot der Apartheid.

Auch das insbesondere in Südamerika gefürchtete »Verschwindenlassen« von Personen, bei dem die Angehörigen von staatlicher Seite bewusst nicht über das Schicksal der Betroffenen aufgeklärt werden, gilt nun als eine völkerrechtlich verfolgbare Handlung. Zudem erfahren die Straftatbestände der Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt erstmals ihre ausdrückliche Erwähnung als international geächtete Verbrechenstatbestände.

Für den Bereich der Kriegsverbrechen in Artikel 8 erfolgte ebenfalls eine ausführliche und systematische Auflistung der Tatbestände, die in der Regel sowohl für einen zwischenstaatlichen Konflikt wie auch für einen Bürgerkrieg Geltung haben. Überwiegend greift das Statut dabei auf Tathandlungen zurück, die bereits in den Genfer Konventionen von 1949 und deren Zusatzprotokollen definiert wurden.

Bemerkenswerter Weise fehlt diese Detailfreude in der Frage der Waffenverbote. Es ist bezeichnend, dass das Statut auf die Regelungen der Haager Landkriegsordnung von 1907 und des Genfer Giftgasprotokolls aus den zwanziger Jahren zurückgreift und ansonsten allgemein bleibt.

Es werden Waffen geächtet, die unnötige Leiden verursachen oder unterschiedslos wirken. Voraussetzung ist allerdings, dass sie zum Gegenstand eines umfassenden Verbots geworden sind und im Anhang des Statuts erwähnt werden. Damit bleibt die insbesondere von den Nichtregierungsorganisationen geforderte Auseinandersetzung um den Einsatz von modernen Waffengattungen wie Antipersonenminen, Laserblendwaffen und insbesondere der nuklear angereicherten Waffen unberücksichtigt.

Im Statut wird dem ICC auch die Rechtsprechungskompetenz über das Verbrechen der Aggression, also des Angriffskrieges, zugewiesen. Obgleich die beteiligten Staaten in Rom die Jahrzehnte andauernde Debatte um die Definition des Aggressionstatbestandes nochmals verstärkten, konnte sie nicht erfolgreich zu Ende geführt werden. Somit ruht die Gerichtsbarkeit über die Bestrafung eines Angriffskrieges, bis eine entsprechende Definition gefunden wird. Damit dürfte jedoch in nächster Zeit nicht zu rechnen sein.

Wann ein Angriffskrieges vorliegt, darüber sollen nach Ansicht einiger Staaten weiterhin der UN-Sicherheitsrat und damit auch seine fünf ständigen Mitglieder entscheiden, bevor der ICC seine Tätigkeit überhaupt aufnehmen kann. Andere Staaten lehnen diese erhebliche Einschränkung des Strafgerichtshofs entschieden ab, sodass eine Einigung in dieser Frage langfristig nicht in Aussicht ist.

Der ICC ist nach Artikel 12 seines Statuts zuständig, wenn der Tatortstaat oder Täterstaat eine Vertragspartei ist oder die Gerichtsbarkeit des ICC in einem konkreten Fall akzeptiert oder wenn ein Nicht-Vertragsstaat in einem ad-hoc-Verfahren die Gerichtsbarkeit des ICC anerkennt.

Zudem gilt nach den Artikeln 1 und 17 des Statuts der Grundsatz der Komplementariät. Hiernach kann der Gerichtshof nur tätig werden, wenn die jeweilige nationale Gerichtsbarkeit nicht willens oder fähig ist, ein in seine Zuständigkeit fallendes Verbrechen zu verfolgen. Der Internationale Strafgerichtshof muss somit nicht nach dem Legalitätsgrundsatz handeln, der die Verfolgung von Straftaten ohne Ansehen der Person des Täters zwingend vorschreiben würde. Vielmehr muss er mehrere Zulässigkeitsvoraussetzungen beachten.

Eigenarten des ICC

Die Eigenarten des ICC, also die fehlende Regelung über das Verbot von bestimmten Waffen und vor allem über das als schweres völkerrechtliches Delikt begriffene Verbrechen der Aggression, stimmen skeptisch. Das macht die Bewertung von militärischen Einsätzen, die im Namen des Völkerstrafrechts eingeleitet werden, bewusst schwierig.

Das Beispiel des Krieges der Nato-Staaten gegen die Bundesrepublik Jugoslawien hat gezeigt, dass es in der so genannten Staatengemeinschaft unterschiedliche Auffassungen über völkerrechtliche Straftatbestände bzw. über die Notwendigkeit einer so genannten »humanitären Intervention« gibt. Hinzu kommt, dass der Verdacht, die Nato habe mit bestimmten Militäreinsätzen gegen Bestimmungen der Genfer Konventionen und deren erstes Zusatzprotokoll verstoßen und sich damit der Kriegsverbrechen strafbar gemacht, nicht zur Einleitung von Ermittlungen des zuständigen Internationalen Strafgerichtshofes für das frühere Jugoslawien (ICTY) geführt hat.

Die daraus resultierende Befürchtung, auch vor dem Ständigen Internationalen Strafgerichtshof käme es zu unterschiedlichen Behandlungen der jeweiligen Staatsangehörigen, ist somit keinesfalls unbegründet. Denn nach seinem derzeitigen Statut ist zu vermuten, dass sich der Internationale Strafgerichtshof mit Taten beschäftigen wird, die sich auf einer Ebene der gewalttätigen Auseinandersetzung abgespielt haben werden, zu der sich die westlichen Militärmächte nur selten und zumindest nicht systematisch hinreißen lassen.

So genannte Makroverbrechen wie Völkermord, Massenvergewaltigungen oder Gräuel gegen die Zivilbevölkerung sind deutlich, ausreichend und nicht mehr interpretationsfähig im Statut definiert. Die euphemistisch als Kolletaralschäden bezeichneten Kriegsfolgen, der Einsatz bestimmter Luft-Boden-Waffen und der Angriff auf ein Land ohne entsprechendes Uno-Mandat, also die Erkennungsmerkmale der Kriegsführung von Nato-Staaten, sind hingegen Taten, die nach dem Statut des ICC entweder auslegungsfähig oder nicht einmal kodifiziert sind.

Man wird deshalb behaupten können, dass sich weder Soldaten aus den USA noch Soldaten der EU-Staaten in nächster Zeit vor dem Internationalen Strafgerichtshof verantworten müssen. Dabei spielt auch der erwähnte Grundsatz der Komplementarität eine Rolle. Der ICC ist nur subsidiär zuständig, also lediglich dann, wenn ein Staat es ablehnt oder nicht in der Lage ist, einen mutmaßlichen Straftäter wegen dessen Verbrechen zu verfolgen. Auch deshalb wird man nicht wirklich davon ausgehen können, dass der ICC jemals bestimmten Staaten die Kompetenz für die Durchführung eines ordentlichen Gerichtsverfahrens absprechen wird.

Die beteiligten Richter und Staatsanwälte des Internationalen Strafgerichtshofs würden anderenfalls die Effektivität ihrer Arbeit erheblich gefährden. Denn die Durchführung ihrer Strafverfahren ist wie bei allen Gerichtsbarkeiten von Institutionen abhängig, die den Strafanspruch gegebenenfalls mittels Zwang durchzusetzen vermögen.

Der ICC wird dabei kaum auf nationale Behörden bauen können, wenn deren Staatsregierung sich einer entsprechenden Zusammenarbeit verweigert oder schlicht nicht mehr in der Lage ist, sie zu gewährleisten. Und da es der internationalen Strafgerichtsbarkeit bislang an einer eigenständigen internationalen Polizeistruktur mangelt, wird sie auf lange Sicht auf Staaten angewiesen sein, die fähig und willens sind, Ermittlungsverfahren durchzuführen. Hierfür bieten sich insbesondere die Nato-Staaten an. Nur dieses Militärbündnis dürfte derzeit die nötige militärische und logistische Stärke besitzen, in aller Welt Beweise zu sichern, Zeugen ausfindig zu machen und Beschuldigte festzunehmen, also ein effizientes internationales Strafverfahren zu gewährleisten.

Derartige Ermittlungstätigkeiten von Staaten in fremden Territorien gelten bislang noch als ein klarer Verstoß gegen fundamentale Normen des internationalen Rechts. Über Jahrhunderte war die territoriale Souveränität eines Staates fester Bestandteil des so genannten Völkergewohnheitsrechts. Sie beinhaltet nicht nur das Recht eines Staates, über sein Gebiet zu verfügen, sondern umfasst vor allem die ausschließliche Befugnis, in diesem Territorium staatliche Funktionen wahrzunehmen. Demnach ist es Staaten untersagt, Hoheitsakte auf dem Gebiet eines anderen Staates ohne dessen Zustimmung auszuüben.

Diese elementare Rechtsposition eines Staates im Internationalen Recht findet sich im Artikel 2 der Charta der Vereinten Nationen als Grundsatz der souveränen Gleichheit aller Staaten wieder. Diese Gleichheit äußert sich insbesondere in der Unverletzlichkeit der territorialen Integrität und in der Gewährleistung politischer Unabhängigkeit, die das Recht des Staates zur freien Ausgestaltung seines politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Systems beinhaltet. Aus diesem Prinzip der Staatengleichheit ergeben sich weitere völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Grundsätze wie das Interventionsverbot und die Immunität von Staaten gegenüber fremden Gerichtsbarkeiten.

Nicht ohne Grund wird deshalb auch die völkerrechtliche Legitimation des ICTY nicht nur vom ehemaligen Staatspräsidenten Slobodan Milosevic, der sich derzeit von dem Tribunal verantworten muss, sondern auch von einer Reihe namhafter Juristen bestritten. Die im Statut des Gerichtshofs aufgeführten Tatbestände haben zwar alle Ächtung in diversen internationalen Konventionen erfahren. Von der Zuständigkeit eines internationalen Gerichts sprechen sie allenfalls nur dann, wenn die jeweiligen Vertragsparteien dessen Gerichtsbarkeit zuvor anerkannt haben.

Der Verstoß gegen den dabei zum Ausdruck kommenden Souveränitätsvorbehalt lässt sich auch nicht durch die Tatsache rechtfertigen, dass es der UN-Sicherheitsrat war, der die Einrichtung des Kriegsverbrechertribunals als Maßnahme der Friedenssicherung anordnete. Denn eine derartige Befugnis lässt sich weder aus dem Wortlaut noch aus dem Zweck des maßgeblichen Artikels im Kapitel VII der UN-Charta entnehmen.

Lange Zeit galten auch die deutschen Völkerrechtsgelehrten als eiserne Vertreter dieser Regeln. Bedienten sie sich ihrer doch, um die vorübergehende Souveränitätsausübung der Alliierten über das besiegte Deutschland als völkerrechtswidrig zu bezeichnen und dem Nürnberger Gerichtshof die Legitimität abzusprechen.

Der plötzliche Wandel kam vor gut zehn Jahren mit dem ad hoc eingerichteten Kriegsverbrechertribunal für das frühere Jugoslawien und fiel nicht zufällig mit dem zuvor geführten Diskurs um die so genannte humanitäre Intervention der Nato-Staaten in Jugoslawien zusammen. Nach geltendem internationalen Recht stellte der Angriffskrieg gegen Jugoslawien einen Verstoß gegen das Aggressionsverbot und gegen das Gewaltverbot der UN-Charta dar. Die sich anschließenden Maßnahmen waren Verstöße gegen die nationale Souveränität und die territoriale Integrität.

Dem Völkerrechtsreferat des Bundesjustizministeriums gelang es, zusammen mit einigen Protagonisten aus der Völkerrechtswissenschaft eine neue Sichtweise auf das Gewaltverbot zu etablieren, ohne dabei die faktische Völkerrechtswidrigkeit des Nato-Feldzuges zu bestreiten. Man müsse eben von einer dynamischen »Völkerrechtsentwicklung« ausgehen, sagte beispielsweise der Kölner Professor Claus Kreß, der später Deutschland bei den Verhandlungen zum Internationalen Strafgerichtshof vertreten sollte. Danach stünde nicht mehr der souveräne Staat und dessen Integrität im Mittelpunkt des zwischenstaatlichen Systems der kollektiven Friedenssicherung, sondern der Schutz der Zivilbevölkerung vor gravierenden Menschenrechrechtsverletzungen. Deshalb sei nunmehr nicht nur das Eingreifen der so genannten Staatengemeinschaft bei bewaffneten Konflikten zwischen Staaten erlaubt, sondern auch bei drohenden völkerrechtlichen Verbrechen.

Nur wenige Monate nach dem Krieg gegen Jugoslawien nahm das vornehmlich von Nato-Staaten finanzierte Kriegsverbrechertribunal in Den Haag seine Tätigkeit auf, um ehemaligen jugoslawischen Staatsangehörigen die entsprechenden Delikte nachzuweisen.

Sicherheitsrat

Auch wenn der Internationale Strafgerichtshof völkerrechtswidrige Kriege im nachhinein ähnlich zu legitimieren vermag, wie es derzeit das Haager Kriegsverbrechertribunal versucht, bietet er keine Blankovollmacht für militärische Interventionen.

Der ICC selbst kann die Vertragsstaaten nicht zu Fahndungsmaßnahmen in einem unkooperativen Staat auffordern oder sie gar anordnen. Die Mitgliedsstaaten sind zwar zur Mitwirkung vertraglich verpflichtet, durchsetzen lässt sich diese Verpflichtung mangels geeigneter Druckmittel des ICC aber nicht. Ebenso wenig dürfen nach geltendem internationalen Recht einzelne Staaten Repressalien gegenüber dem vertragsbrüchigen Staat ausüben, weil sie durch die unterlassenen Strafverfolgungsmaßnahmen nicht in ihren eigenen Rechten verletzt sind. Derartige Optionen bietet nur die Praxis des Sicherheitsrates. Erst wenn er Ermittlungen veranlasst oder die Voraussetzungen für friedenserhaltende Maßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta für gegeben erachtet, stehen dem ICC Zwangsmittel zur Verfügung.

Gleichwohl ist es augenscheinlich, dass die Durchsetzung einer internationalen Strafgerichtsbarkeit eng mit dem von der Nato begründeten Konzept der humanitären Intervention verknüpft ist. Verbunden mit der Tatsache, dass der Internationale Strafgerichtshof nicht nach dem Legalitätsgrundsatz handelt, vielmehr mehrere Zulässigkeitsvoraussetzungen achten muss, und außerdem über keine international tätige Polizei verfügt, muss man schlussfolgern, dass er seine Ermittlungstätigkeiten insbesondere an den Staaten orientieren wird, die sich bereit zeigen, seiner Gerichtsbarkeit auch Geltung zu verschaffen.

Diese Bereitschaft zur Intervention wird – und das ist die Eigenart souveräner Nationalstaaten – von geostrategischen Überlegungen geprägt sein. Diese nationalstaatlichen Interessen können ebenso dazu führen, dass der weite Rahmen der nunmehr kodifizierten Tatbestände für entsprechende Zwecke instrumentalisiert wird, indem ausgewählte Delikte als Legitimation für militärische Einsätze missbraucht werden. Nahezu unverhohlen eröffnete erst kürzlich Frankreichs Präsident Jacques Chirac bei einem französisch-afrikanischen Gipfeltreffen den anwesenden Staats- und Regierungschefs diese neue geostrategische Option, als er sie mit den Worten ermahnte: »Die Tage der Straflosigkeit sind vorbei!«

Auch ein oberflächlicher Blick auf das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs lässt deutlich werden, dass das internationale Strafrecht nicht nur unter bestimmten Umständen für politische Zwecke genutzt werden kann, sondern originär politisches Strafrecht ist. Die politischen Prämissen der Staaten werden innerhalb der jeweiligen internationalen Machtkonstellationen darüber entscheiden, gegen wen Ermittlungen wegen Verstößen gegen das ICC-Statut eingeleitet und verfolgt werden.

Trotz dieser Möglichkeiten entzweit sich das Nato-Bündnis ausgerechnet an der konkreten Ausführung der gemeinsam entwickelten Idee einer internationalen Strafgerichtsbarkeit. Die USA steuern dem Wirken des ICC mit aller Entschiedenheit entgegen. Dafür werden neben rechtspolitischen Vorbehalten zweifellos machtpolitische Erwägungen vorliegen, über deren Hintergründe bislang vielfach spekuliert wird.

Auffällig oft wird aber im Hinblick auf die Geschichte der diversen Militärinterventionen und Geheimdienstoperationen das Bedenken geäußert, dass zukünftig interessierte Staaten den ICC erfolgreich um Ermittlungen gegen Soldaten oder Repräsentanten der USA ersuchen könnten. Die strafrechtlichen Untersuchungen, die Staatsanwaltschaften und Gerichte in verschiedenen Staaten gegen den ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger eingeleitet haben, dienen dabei als warnendes Beispiel.

Selbst wenn diese Ermittlungen am Internationalen Strafgerichtshof aus den beschriebenen Gründen nicht zur Anklage geschweige denn zur Verurteilung führten, so ist nach einer häufig in den USA vertretenen Ansicht doch stets mit einer propagandistischen Instrumentalisierung zu rechnen.

In der Tat würde eine militärische Intervention, die im Namen der Menschenrechte, des Internationalen Rechts oder der nationalen Sicherheit geführt wird, nachhaltig delegitimiert werden, wenn gegen beteiligte US-Militärs ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und womöglich noch Untersuchungshaft angeordnet würde. Die USA hätten in derlei Fällen vor dem Internationalen Strafgerichtshof wenig Möglichkeiten der Einflussnahme, anders als im UN-Sicherheitsrat, in dem sie als ständiges Mitglied ein Vetorecht besitzen, oder in der Welthandelsorganisation (WTO), in der sie zumindest mithilfe ihrer ökonomischen Stärke ihren Interessen in handelspolitischen Fragen Nachdruck verleihen können.

Die USA würden mit der Anerkennung der internationalen Strafinstanz also einen nicht unerheblichen Teil ihrer staatlichen Souveränität und ihrer außenpolitischen Handlungsoptionen aufgeben, ohne dass sich aus ihrer Sicht daraus ein nennenswerter Vorteil ergäbe. Im Gegenteil, es stünde ihrer derzeit offen verfolgten Interventionspraxis im Wege.

Die EU-Staaten sehen hingegen in der Etablierung einer internationalen Strafgerichtsbarkeit vor allem die bereits erläuterten Möglichkeiten der Instrumentalisierung. Die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen eröffnet ihnen neue Perspektiven der Einflussnahme auf das Weltgeschehen. Deswegen waren die EU-Staaten in der Auseinandersetzung um den Internationalen Strafgerichtshof auch bereit, sich auf die heftige Konfrontation mit den USA einzulassen, die sich im Irakkonflikt fortsetzte.

Vielleicht wurden deshalb in deutschen Zeitungen unmittelbar nach dem Kriegsbeginn diverse Menschenrechtsorganisationen und Juristen gefragt, ob und inwiefern sich US-Soldaten – trotz der erheblich eingeschränkten Zugriffsmöglichkeiten des Internationalen Strafgerichtshofs und trotz der dürftigen Tatbestandsdefinitionen – wegen Kriegsverbrechen im Irakkrieg strafbar machen könnten. Und wohl auch deshalb wurde auf die neuen Möglichkeiten der deutschen Justiz hingewiesen.

Deutschland hat im eigens für den ICC geschaffenen Völkerstrafgesetzbuch die wesentlichen Delikte des ICC-Statuts übernommen und sich hierfür weltweit als zuständig erklärt. Notfalls könnten, so die Verlautbarungen, die Staatsanwaltschaften und Gerichte der Bundesrepublik eigenständig gegen US-Soldaten ermitteln, wenn diese im Verdacht stünden, Kriegsverbrechen im Irak begangen zu haben.

Nürnberger Prinzip

»Dieses Gesetz wird hier zwar zunächst auf deutsche Angreifer angewandt, aber es muss, wenn es vom Nutzen sein soll, auch den Angriff jeder anderen Nation einschließen und verdammen.« So zitieren namhafte Völkerrechtler und Journalisten in ihren unzähligen Plädoyers zur nunmehr erreichten Durchsetzung der internationalen Strafgerichtsbarkeit vorzugsweise die ehemaligen Ankläger von Nürnberg wie Telford Taylor oder Robert H. Jackson, um das Engagement der Bundesregierung zu unterstützen.

Deutschland strebt mittels des internationalen Strafrechts eine Position als weltpolitische Ordnungsmacht an. Eine für Deutschland spezifische Voraussetzung dafür ist, der wegen seiner Vergangenheit vorhandenen Vorsicht und den Vorbehalten der übrigen Staaten zu begegnen. Zu dieser Strategie gehört eine Vergangenheitsbewältigung, die nicht mehr versucht, die deutschen Verbrechen vergessen zu machen oder die Resultate, zu denen auch das Nürnberger Urteil gehört, zu delegitimieren, sondern sie in tatsächliche oder vermeintliche internationale Makroverbrechen einzureihen und sie dadurch von ihrer Singularität zu lösen.

Dies geschieht auf verschiedenen Ebenen, bei denen die juristische aber eine entscheidende Rolle spielt, wenn beispielsweise die Flucht und Ausweisung der Deutschen aus den überfallenen osteuropäischen Staaten als Menschheitsverbrechen oder die alliierten Bombenangriffe auf deutsche Städte als Kriegsverbrechen klassifiziert und aufgerechnet werden. Gleiches wird auch ein internationales Strafrecht unter deutschem Einfluss bewirken wollen.

Internationales Strafrecht ist politisches Strafrecht. Das muss, wie Nürnberg gezeigt hat, nicht per se schlecht sein. Doch genau jenes Vermächtnis von Nürnberg trachten die Deutschen mit ihrem Einsatz für das internationale Recht in allen seinen Bedeutungen umzukehren.