Weil es Liebe ist

joachim lottmann erfindet Blumfeld neu

Scherze und Vergleiche mit Gott sind ja immer besonders schlapp. Was aber, wenn es sich gar nicht um einen Scherz handelt? Ich kannte Leute, für die war Distelmeyer, ohne dass sie es wussten, natürlich nur ein paar Jahre lang, so Mitte der Neunziger, wirklich der Messias. Er war der, der gekommen war, um für uns da zu sein, auf einer Erde, auf der es dunkel geworden war. Inzwischen gibt es »Wir sind Helden« und andere konsumkritische Bands, Blumfeld steht nicht mehr allein.

Das neue Album ist zum Glück immer noch konsumkritisch (»Jugend von heute / sie shoppen in der Innenstadt / wie die Alten / nur mit mehr Taschengeld«), aber eben auch einen bedenklichen Grad noch verrückter als »Testament der Angst«, das geniale Superwerk, mit dem die Band weltweit den Durchbruch schaffte. Jochen traute sich da etwas, worauf in Deutschland noch immer die Todesstrafe steht: Er sagte inhaltlich etwas aus! Dass er dafür von den Medien nicht gehenkt, gevierteilt, geteert und mit nicht endender Häme überzogen wurde, hatte zwei Ursachen. Erstens verpackte er, der hoch begabte Lyriker, die politisch präzise analysierten kapitalismuskritischen Aussagen in Poesie. Das konnte vor ihm nicht einmal Brecht. Nicht so gut jedenfalls. Und zweitens ließ die Band in Interviews alle Fragenden ins Leere laufen. Denn in Interviews hätten sie nicht lyrisch sprechen können, hätten auf Fangfragen nur »Klartext« reden können und wären fertiggemacht worden. Und sie waren in dieser distinktiven Medienstrategie gnadenlos konsequent.

Selbst befreundete Magazine von Spex bis Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung – und am Ende waren fast alle Magazine befreundet, ja wohlwollend und schließlich sogar hingerissen – bekamen über Jahre absolut nichtssagende Non-Interviews zugemutet. Fragen wurden postwendend mit gespielter (oder echter?) Ahnungslosigkeit zurückgespielt. Frage: Wie fühlen Sie sich als erfolgreiche Protestband? Antwort: Ach, sind wir das? Eine Protestband? Aha, so so, wussten wir gar nicht … was in den Charts passiert, interessiert uns nicht. Und so weiter. Das klingt jetzt origineller, als es in den mehrseitigen Distinktionsorgien zu lesen war. Meistens redete nur Distelmeyer, die beiden anderen People waren sozusagen nicht der Rede wert; ihre Bedeutung am Gesamtphänomen Blumfeld dürfte sowieso nur Promille betragen. Die armen verantwortlichen Redakteure, die eine ganze Seite in ihrem hochbürgerlichen Feuilleton für die Band freikämpfen, weil sie die Musik so elektrisierend finden – und dann zickig-akademischen Wortbrei ohne Ende drucken müssen. Jochen sagt nicht »Wir waren noch unentschlossen«, sondern: »Die herausgestellten Komplexitäten waren so, dass bei jedem von uns die Tendenz, es zu machen zu versuchen, also inhärent auch das Gegenteil, immer auch wieder gleichzeitig eine Art von persönlicher Realität war, oder auch dann wieder nicht, weil wir Ein-Eindeutigkeiten und andere Lebenslügen gern der Bild-Zeitung überlassen.« Klingt schon wieder fast interessant. Nein, glaubt mir: Die Distelmeyer-Interviews der letzten zehn Spex-Jahre waren eine Geißel der Menschheit! Amen. Deswegen lehnte ich es auch diesmal ab, ein offizielles Interview mit ihm aufgebrummt zu bekommen.

Tatsächlich gaben Jochen & Gehilfen in der zweiten Augustwoche anlässlich der Albumpräsentation gewogenen Medienvertretern in schneller Folge fast 30 (!) Interviews. Auch Jungle World war darunter. Immer eingefädelt und perfekt vermarktet von Strippenzieher Alfred Hilsberg. Aber ich, nein, wollte nicht mehr. Ich kannte »Uns Jochen« doch bereits, und zwar von ganz früher. Als er als Minderjähriger mit Bernd Begemann zusammen bei uns Älteren Gitarre spielte. Damals, als ich selbst noch Pop-Autor war. Bernd hatte sich jahrelang für seinen Busenfreund schwer eingesetzt. Immer wieder hatte er – als Liebhaber der großen Neuen Wilden Malerin Bettina Semmer, seinen Platz in der Sounds-Clique sicher – von Distelmeyern geschwärmt und dessen Genie. Und der fand unter den NDW-Gewaltigen schnell Freunde. Jochen fiel nicht auf, war aber wohlgelitten, während Bernd von Anfang bis Ende sperrig und unbeliebt war und verhöhnt wurde. Ich hatte nichts gegen Jochen, während ich Bernd liebte. Auf Fotos sieht man einen Jochen, der immer direkt in die Kamera lächelt, der auf natürliche Weise posiert, während Bernd unentwegt auf die Holzgitarre einschlägt und keine Kamera wahrnimmt. Alle anderen diskutieren: Annette Grotkasten, Olaf Dante Marx, Anja Bissinger, Jutta Koether, Hans Nieswandt, Cosima von Bonin und so weiter.

In späteren Jahren hat Bernd dann sehr unter der Untreue Jochens gelitten. Es kam zu einem traumatischen letzten gemeinsamen Besuch eines Autokinos (man sah Bernds Lieblingsfilme »Rambo«, »Rambo II« und »Rambo III«), das Bernd Jahre später in einem seiner berühmtesten Songs verarbeitet hat. Jochen hatte Bernd die Tür zur gemeinsamen Zukunft mit den Worten zugeschlagen, er könne ja nicht einmal das Apollinische vom Dionysischen oder so ähnlich unterscheiden. Diese Volte musste man wahrlich nicht mehr kontern.

Jahrzehnte später, als ich meinen Karrieretiefpunkt hatte (Bernd übrigens auch; die Mauer war gefallen, Kohl regierte), traf ich Jochen eines Nachts zufällig im Hamburger Lokal »Sorgenbrecher«. Zu meinem Erstaunen zeigte er sich über mein plötzliches Auftauchen total aufgekratzt, als hätte er mich zehn Jahre lang vermisst. »Du hier!!« rief er immer wieder und hielt mir einen mehrstündigen Vortrag über meine (!) Person, bei dem ich selbst nicht zu Wort kam, den ich aber unglaublich klug fand. Ich verstand plötzlich, warum einige junge Leute aus meiner Umgebung seinerzeit anfingen, Jochen für Gott zu halten. Ich kannte ja wirklich eine gescheiterte New-York-Emigrantin, der er durch pures Handauflegen eine heimtückische Krankheit (morbus bechterev) entfernt hatte. Jochen erklärte (und bewies) mir nun, dass ich aus einer anderen Zeit stammte und meine arme Persönlichkeitsstruktur tragisch herüberrage in eine mir ungemäße Jetztzeit. Er bewies mir das anhand von Filmen aus den vierziger Jahren, die er nacherzählte, sowie Taten, die ich begangen hatte, die meisten unbewusst. Und so weiter. Wir standen die ganze Nacht an der Bar. Zwei Wochen darauf traf ich Jochen in Köln bei einem Konzert der Goldenen Zitronen. Doch diesmal kannte er mich nicht mehr. Er erwiderte nicht meinen Gruß und ließ sich auf kein Gespräch ein.

Erst im Juli 2003 sah ich ihn erneut wieder, bei einem Blumfeld-Konzert in Rostock (ich selbst las am selben Abend in der Stadt). Ich wollte mir schon mal einen Teil der neuen Stücke anhören. In meinem Skizzenbuch »Frauen in Freiheit« (Kiepenheuer & Witsch, Januar 2004) steht dazu u.a.: »Die Lesung war sehr erfolgreich, musste aber nach 135 Minuten abgebrochen werden, weil die Band Blumfeld zu spielen begann. Ich hatte Blumfeld-Gründer Jochen Distelmeyer zusammen mit Bernd Begemann 1984 in Bad Salzuflen kennengelernt und war mit ihm seitdem befreundet. Die meisten Songtexte hatte er selbst geschrieben, nur ›Testament der Angst‹, der Titelsong einer gleichnamigen CD, stammte von mir. Der Mann an der Kasse kannte mich trotzdem nicht und wollte Eintrittsgeld haben. Ich sagte, es sei mir unmöglich, ihm Geld zu geben, ich sei Joachim Lottmann, der Mastermind von Blumfeld, und er würde bald ein riesiges Problem bekommen. Er holte den Hallenmeister, der kannte mich auch nicht. Sven Lager sagte bereits, ich solle doch zahlen. Ich wandte mich scharf an den Türsteher. ›Wie heißen Sie?!‹ ›Martin Schwenke.‹ Ich nahm mein schwarzes Moleskine-Schriftstellerbüchlein, trug seinen Namen ein und sagte: ›Holen Sie sich morgen Ihre Sachen ab. Sie sind entlassen!‹ Der Hallenmeister sagte nun, ich bräuchte nicht zu bezahlen, es sei okay. Wir hörten bereits Jochen Distelmeyer singen: ›Ihr habt alles falsch gemacht … es ist vorbei … seht euch doch im Spiegel … ihr Schweine!‹ Begeistert klatschte ich mit. Sven gefiel es nicht so gut. Ich erklärte ihm Popmusik. Also einmal ganz präzise und für immer. Er verstand ja nicht so viel von Musik, und so war es ganz gut, dass er das einmal erfuhr.

Die süße Nixe von vorhin führte mich ganz dicht an die Bühne, sodass ich einen Meter vor Distelmeyern stand. Die Mädchenherzen flogen ihm zu. ›All die Menschen auf den Straßen … nur ein Meer von Angepassten … die Industrie verdient an Genchips … und geht über Leichen, Leichen, Leichen!‹ Kein Zweifel: Mit jedem der zwanzig Mädchen in der ersten Reihe hätte der gute Junge aus Salzuflen heute schlafen können! Mein Junge! Es genügte, dass er einige der Refrains der Bettgefährtin nochmal ins Ohr flüsterte, zum Beispiel: ›Die Medien helfen ihnen beim Dummsein … und alle wollen doch nur stumm sein!‹

Ich selbst komme aus Bad Salzuflen, nota bene. Sven Lager nahm Rika auf die Schultern, sie hielt ein brennendes Feuerzeug hoch. Nach der Show stürmte ich in den Backstage Room, wo Jochen Distelmeyer ausgepumpt und mit großen, lieben Augen auf einem Sofa lag. Er war schlank, gar nicht älter geworden, trug ein nachtblaues Hemd, eine marineblaue Hose dazu und schlichte weiße Puma-Schuhe. Wir gaben uns lange die Hand. ›Das war groß, Jochen. Du hast es ihnen gezeigt, den Schweinen! Den Bankern, Bossen, Genchip-Dealern! Den Leuten, die unsere Flüsse vergiften, diesen Verbrechern, die alles falsch gemacht haben!‹« (Berichtausschnitt Ende).

Ja, ich habe Jochen lange in die Augen geschaut. Er war nun ganz oben. »Wir sind frei« war fertig, live noch etwas unbeholfen, aber unbeirrbar auf dem Weg zur Nummer eins in den Charts. Der Mediensturm auf das neue Album war bereits im Gange. NDW-Erfinder Alfred Hilsberg sollte deswegen vier Wochen später einen Kreislaufkollaps erleiden. Der konnte nicht einfach so ausgepumpt auf dem Sofa liegen und mit großen lieben Augen in den siebten Himmel des Erfolges schauen! Jochens plötzlich so große Augen waren mir übrigens deswegen aufgefallen, weil sie sonst immer fast gänzlich hinter dicken Schlupflidern versteckt waren. Fazit: »Jenseits von Jedem« ist das schlechteste Lied der gleichnamigen neuen Platte, ein 15minütiges Konzeptstück mit Anleihen an Sing-a-Song-writing, Bob Dylan, François Villon und Weiß-der-Geier-Symbolisten. Wenn die Blödmänner vom etablierten Feuilleton drauf reinfallen, würde es mich allerdings sehr freuen. Genau so muss man sie verarschen, die Kulturhuber, mit einer sinnlosen Mythencollage aus ihrem verstaubten Bildungsgüterschrank. »Wir sind frei« ist ein perfekter Hit, »Jugend von heute« großartig. Theweleit sieht in Distelmeyer »das psychotische Kind« – und meint das natürlich positiv – und hält ihn für fähig, das zu werden, was Nina Hagen hätte werden können. Dem ist nichts hinzuzufügen. Wenn Theweleit gesprochen hat, schweigen die Kleineren.