Démocratie à arriver

Über Kommunismus und radikale Demokratie.

Gesellschaftsverändernde Praxis muss, sofern über sie überhaupt in einem theoretischen Sinne geurteilt werden soll, ihre Ziele und Motivationen in einem genuinen Sinne begründen. Das heißt, dass sie sich nicht allein durch eine nach persönlichem Belieben oder Sympathien getroffene Entscheidung zur Parteinahme für oder gegen ein spezifisches weltgeschichtliches Subjekt (wie »die Arbeiterklasse«) oder auf die simple Wahrung eigener (womöglich noch »objektiver«) »Interessen« legitimiert, sondern eine Begründungslast zu tragen hat, warum der veränderte gesellschaftliche Zustand denn überhaupt besser als der jetzige sein soll. Sie hat insofern neben einer deskriptiven Dimension auch noch eine präskriptive, normative.

Freiheit und Gleichheit sind die fundamentalen Bezugspunkte innerhalb des normativen Koordinatensystems linker Politik. Sie implizieren damit die Verpflichtung auf die Wahrung der unveräußerlichen Rechte des Anderen auch in Situationen eminenter Interessenskollisionen. Die Verwirklichung größtmöglicher Freiheit für jedes einzelne Individuum ist hierneben die niedrigst mögliche Zwecksetzung linker Politik. Sie bleibt »leer« oder bloß formal und erstattet den einander gleichen Subjekten damit die Notwendigkeit und Kompetenz der Bestimmung ihrer je individuellen Zwecke zurück.

Die Demokratie ist die politische Explikation der normativ-ethischen Präsupposition von Freiheit und Gleichheit. Dies ergibt sich schon daraus, dass niemand einen privilegierten Zugang zur Wahrheit hat und jede und jeder also mit einer dezisionistischen Definition des Guten, Wahren und Schönen notwendig überfordert wäre. Demokratie wird dabei verstanden als radikal säkulare Selbstorganisation der planetarischen Körperschaft der Menschheit unter Gewährleistung größtmöglicher formaler und sozialer Partizipationsmöglichkeiten jedes einzelnen Menschen. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass die Koordinierung kollektiven Handelns und die Prozeduralisierung politischer Entscheidungsfindung unter der Voraussetzung mangelhafter menschlicher Kompetenzen eine schiere Notwendigkeit zivilisatorischer Entwicklungen ist.

Es ist sinnenklar, dass die gesellschaftliche Verwirklichung der Demokratie die Überwindung kapitalistischer Produktionsweisen impliziert. Der Kapitalismus hat die geistesgeschichtliche Idee der Demokratie nicht nur historisch evoziert, sondern sie auch materiell suspendiert. Der Status der Akteure der Politik ist im Kapitalismus durch Bedingungen konstituiert, die außerhalb der Sphäre der Politik liegen und die diesen Akteuren nicht einmal transparent sind.

Die Entscheidungen dieser Politik werden strukturell von außerpolitischen Instanzen dominiert und bleiben, solange sie den heteronomen Bezugsrahmen kapitalistischer Produktionsweise akzeptieren, daher notwendig wesentlich begrenzt. Kapitalistische Vergesellschaftung, sich »hinter ihren Rücken und über ihren Köpfen« (Marx) vollziehend, erscheint den historisch handelnden Subjekten fetischistisch als Naturgewalt und verunmöglicht so die bewusste Entscheidung über die Produktion. Eine demokratische Regelung der basalen Tatsachen des Lebens bedürfte einer Produktion nach Plan.

Doch der hierbei zugrunde gelegte Begriff von Demokratie bleibt bei emanzipatorischen Bewegungen allzu oft konzeptionell zu wenig ausgearbeitet. Er scheint sich daher an einem aufklärerisch-humanistischen Verständnis von Menschenrechten und individueller Autonomie zu orientieren und kann daher eine emanzipative Demokratisierung lediglich als »Mehr an Demokratie« im Sinne einer Ausweitung bürgerlich-parlamentarischer Repräsentationssysteme auf alle Lebensbereiche denken.

Zahlreiche Einwände, die etwa von (post-) marxistischen und poststrukturalistischen Ansätzen gegen die Kategorien der Aufklärung vorgebracht wurden und die Infragestellung der Politik der Repräsentation durch Praktiken vor allem antirassistischer und queerer Gruppen bleiben daher zu wenig berücksichtigt. Demokratie entnennt die Konstitutionsbedingungen ihrer Subjekte, ihrer Parteien, ihrer Regeln und ihrer Gegenstände und inszeniert sich als vertragliche Vereinbarung souveräner, intentionaler und rationaler Freier und Gleicher.

Begrenztheit und Endlichkeit sind Attribute der Existenz, und um Existenz zu erlangen, muss die Demokratie machbar sein. Das ethische Versprechen der Demokratie ist aber ein universales und unendliches. Das Institut der Demokratie wird daher immer infiziert bleiben von einer unauslöschlichen Narrativität und Fiktivität, und seine Grundlage wird immer eine verborgene Gewalt enthalten. Die Demokratie muss also kritisiert werden im Namen der Demokratie, bzw. die tatsächliche, mögliche und vergegenwärtigbare Demokratie wird kritisiert im Namen der Demokatie als einer idealen und immer erst zukünftigen politischen Situation.

Die Deklaration der endgültigen Vergegenwärtigung der Demokratie wäre Gewalt ebenso wie die ständige Verschiebung ihrer Verwirklichung auf den Tag »nach der Revolution«. Ihre ultimative Referenz, eben der radikaldemokratische Kommunismus, drängt auf Aktualisierung: Es ist nur gerecht, dass Gerechtigkeit gilt. Die Demokratie kann daher nicht darauf verzichten, sich in temporären kontingenten Demonstrationen zu aktualisieren und ins Werk zu setzen. Gerade im Prozess revolutionärer Gesellschaftstransformation darf radikaldemokratische Politik ihre Akteure nicht von der Notwendigkeit und dem Bemühen nach möglichst unendlicher Annäherung an das demokratische Ideal entlasten, wie die Lehren aus den historischen Revolutionsutilitarismen (»Der Zweck heiligt die Mittel«) zeigen.

Demokratische Politik muss in jeder historischen Situation das Höchste aufwenden, sich ihrem Horizont zu nähern. Demokratie muss ankommen können, oder zumindest muss sie die Möglichkeit ihrer Ankunft notwendig immer unterstellen. Sie ist, um einen Begriff Jacques Derridas zu radikalisieren, Demokratie im Ankommen.

Die vollständige Version des Textes findet sich unter www.kommunismuskongress.de