Der Tag, an dem die Sonne scheint

Radikale Demokratie, Kommunismus und die Revolution. Von Oliver Marchart

Der Begriff des Kommunismus scheint heute aus der Politik weitgehend emigriert. Weder entspricht ihm eine politische Realität, eine mächtige kommunistische Bewegung, noch ein Vorstellungsinhalt. Wir wissen schlichtweg nicht (mehr), was Kommunismus überhaupt bedeuten soll. Der Kommunismus, so scheint es, ist aus dem Reich der Geschichte aus- und ins Reich der Symposien eingewandert. Wie Hegels Eule der Minerva tritt die Philosophie mit dem Sonnenuntergang auf den Plan, wenn die Party vorbei ist und die Kellner die Stühle hochstellen. Wenn es schon kein kommunistisches Projekt gibt, dann soll es wenigstens einen kommunistischen Kongress geben, vielleicht ergibt sich ja daraus was. Nur was?

Die Frage, was Kommunismus heute, unter den gegebenen Bedingungen der real- existierenden Demokratie bedeuten kann, erfordert etwas anderes als philosophische Spekulation, normatives Besserwissen, linker Szenestreit oder eine Re-Utopisierung linker Debatten. Um den politischen Gebrauchswert des Signifikanten »Kommunismus« zu ermitteln, bedarf es einer politischen Analyse, die kein wishful thinking sein kann, sondern jenem Realismus genügen muss, den Antonio Gramsci als Pessimismus des Intellekts bezeichnet hat.

Stellen wir also in aller Kürze fest: »Kommunismus« in seiner klassischen Formulierung bietet keine sichtbare Option für ein linkes Projekt, das einen Hegemonieanspruch stellen will. Mit dem Ende der Sowjetunion und des fordistischen Nachkriegskompromisses in Westeuropa, der von sozialdemokratischen Regierungen begraben wurde, öffnet sich links von der Sozialdemokratie ein Vakuum.

Zwei gegenläufige Bewegungen versuchen es zu füllen. Rechtsextreme Ideologien und Parteien formulieren eine populistische Scheinalternative. Dass der Rechtspopulismus im Innern des Machtblocks formuliert wird, sollte spätestens mit dessen müheloser Reintegration in konservative Regierungen (Österreich, Norwegen, Hamburg, etc.) klar sein. Als einzig sichtbare Alternative zum Machtblock steht demgegenüber eine Vielzahl von Bewegungen, die sich emanzipatorischer Politik im weitesten Sinn verpflichtet sehen. Sie agiert in Form temporärer Allianzen auf unterschiedlichen Ebenen, lokal bis global. Für letztere hat sich der Begriff »Bewegung der Bewegungen« eingebürgert.

Der entscheidende Punkt an ihr ist, dass sie die klassische linke Dichotomie von Revolution und Reform hinter sich gelassen hat. Sie umschließt im Kern Demokratisierungsbewegungen. Sogar die ökonomischen Forderungen der Antiglobalisierungsbewegung sind im Wesentlichen Forderungen nach Demokratisierung, nämlich nach Demokratisierung internationaler Marktregelungsmechanismen, was immer das im Detail heißen mag.

Außerhalb des demokratischen Horizonts ist eine emanzipatorische Alternative zum Status quo nicht mehr formulierbar. Das ist keineswegs nur Resultat »bürgerlicher« Hegemonie. Es hat eine Ursache, die in der Linken selbst zu finden ist: in der Dekonstruktion der klassischen Emanzipationsdiskurse. So wurde aus dem Inneren der Linken heraus schlüssige Kritik am Essenzialismus, Ökonomismus, Klassismus, Revolutionismus usw. der klassischen Linken geübt. Eine Kritik, die emanzipatorische Politik nicht mehr ignorieren kann. Aus ihr folgt: der demokratische Horizont ist, wie jeder Horizont, unüberschreitbar.

Nun wird der postklassischen Linken manchmal entgegengehalten, sie betreibe nur das Geschäft der bürgerlichen Realdemokratien. Doch man darf sich nicht täuschen lassen. Die westlichen Demokratien füllen den demokratischen Horizont keineswegs aus. Sie sind nichts als ein partikulares Projekt, das ihn in ihrem Sinne eingefärbt und hegemonisiert hat.

Um nichts anderes geht es auch emanzipatorischen Projekten. Es geht um die Hegemonisierung des demokratischen Horizonts, nicht um seine Überschreitung. Das impliziert eine Strategieänderung: Ziel ist nun die Ausdehnung des demokratischen Horizonts und die Einforderung und Radikalisierung der Prinzipien der demokratischen Revolution. Aus dieser Sicht könnte man sagen: es braucht keinen pathetischen Ruf nach »Revolution« des demokratischen Horizonts, denn die Revolution hat bereits stattgefunden. Der Horizont gründet auf ihr, er ist die Revolution.

Für Etienne Balibar zum Beispiel wurde mit der Erklärung der Menschenrechte ein Prinzip von egaliberté, der untrennbaren Einheit von Freiheit und Gleichheit, installiert, sowie ein (umkämpftes) universelles Recht auf Politik. Die demokratische Revolution eröffnete eine unbegrenzte Sphäre der Politisierung: »In diese unbegrenzte Öffnung schreibt sich ebensowohl – und seit der revolutionären Periode sieht man die Bestrebungen – die Forderung nach dem Recht der Lohnarbeiter oder Abhängigen wie der Frauen oder der Sklaven ein, später dann die der Kolonisierten«, schreibt er in »Die Grenzen der Demokratie«. Diese unbegrenzte Öffnung ist ein Name für den demokratischen Horizont, innerhalb dessen Prinzipien wie egaliberté Anknüpfungspunkte für Befreiungs- und Emanzipationsbewegungen bilden. Radikale Demokratie zielt auf die Vertiefung und Ausdehnung dieser »Öffnung«.

Nichts anderes haben Ernesto Laclau und Chantal Mouffe angesichts der so genannten Neuen Sozialen Bewegungen mit ihrem Konzept einer radikalen und pluralen Demokratie vorgeschlagen. Das Radikale daran besteht in der Ausweitung von Gleichheitseffekten auf möglichst viele soziale Bereiche. Das Plurale besteht in der weitest möglichen Anerkennung der relativen Freiheit/Autonomie unterschiedlicher Forderungen im Rahmen eines gemeinsamen emanzipatorischen Projekts.

Damit war der ökonomische Hauptwiderspruch theoretisch wie politisch vom Sockel gestoßen. Nicht dass ökonomische Forderungen schlechthin denunziert würden. Was Laclau und Mouffe konstatierten, war die Schwächung des ontologischen Primats dieser Forderungen wie auch der Akteure, die sie formulierten. Antikapitalistische Forderungen sind nicht hinfällig, aber sie müssen sich von nun an mit feministischen, antinationalistischen oder antirassistischen Forderungen artikulieren, die alle denselben ontologischen Status beanspruchen.

First things first, sagt die Logik der Vertröstung auf jenen Tag, an dem der Hauptwiderspruch gelöst ist und, wie es in der Internationale heißt, die Sonne scheint »ohn’ Unterlass«. Wird Emanzipation aber radikaldemokratisch verstanden, dann gibt es keine first things, emanzipatorische Forderungen können nicht gegeneinander ausgespielt werden, der Tag ihrer Einlösung ist immer schon heute.

In diesem Heute scheint die »Bewegung der Bewegungen« auf radikaldemokratische Weise zu funktionieren, insofern die relativ autonome Pluralität der einzelnen Forderungen gewahrt bleiben soll – mit allen Problemen der Beliebigkeit. So kann nicht davon die Rede sein, dass, wie man es manchmal von Slavoj Zizek hört, mit der Antiglobalisierungsbewegung der ökonomische Hauptwiderspruch zurückgekehrt sei, der nun die aus dem Ruder gelaufenen Nebenwidersprüche der Identitätspolitik in ihre Schranken weist. Der Antiglobalisierungsdiskurs bietet vielmehr eine Einschreibungsfläche für eine enorme Reihe von unterschiedlichen Anliegen, die keineswegs alle ökonomischer Natur sind.

Was hieße das für den Kommunismus? Als Ideologie ist der Kommunismus tot. Das utopisches Phantasma einer für immer sonnigen Gesellschaft, in der »der Mensch« mit seiner Essenz versöhnt wäre, schließt Antagonismus und Politik aus. So idyllisch das klingen mag, es ist doch das Paradebeispiel einer Ideologie antipolitischer Schließung. Aus dieser Sicht besteht die Komplizenschaft nicht zwischen Radikaldemokratie und Realdemokratie, sondern zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Denn auch vom Kapitalismus wird Politik radikal verworfen. Anstelle der Verwaltung der Dinge treten die Gesetze des Marktes. Beide Phantasmen gingen und gehen mit ihrer Idee eines »Endes der Geschichte« und damit eines Endes der Politik hausieren. Nur dass dieses Ende nie eingetreten, Politik nicht abzustellen ist. Die Anerkennung dieses Faktums zeichnet die demokratische Revolution aus.

Wenn das Prädikat »kommunistisch« noch Sinn haben soll, dann im Rahmen des demokratischen Horizonts und nicht außerhalb. Die organisierten Reste kommunistischer Westparteien von Relevanz haben diesen Schluss von selbst gezogen. Nicht selten koppeln sie sich an radikaldemokratische Forderungen. Die Giovani Comunisti/e, Jugendorganisation der Rifondazione Comunista, sind zum Beispiel eine wichtige Kraft innerhalb der italienischen Antiglobalisierungsbewegung und Teil der Disobbedienti.

Und Raul Mordenti, Mitbegründer der Rifondazione, definiert in seinem Manifest »La Rivoluzione« die Revolution als »integrale Demokratisierung des täglichen Lebens«. Dagegen lässt sich aus radikaldemokratischer Sicht nichts einwenden, denn um nichts anderes geht es als um die integrale Demokratisierung aller Lebensbereiche.

Worum sich emanzipatorische Politik heute dreht, ist die Reaktivierung der unabgegoltenen Potenziale des Gründungsereignisses der demokratischen Revolution, ist die Rifondazione des demokratischen Horizonts. Der Tag, an dem die »Sonn’ ohn’ Unterlass« scheint, wird nie kommen. Das heißt aber nicht, dass man nicht heute schon mal auf Solarenergie umstellen könnte. In den Worten Balibars: »Man muss die Demokratie wieder zum Einsatz machen, um zu verhindern, dass sie untergeht. Dies ist nichts anderes als die Definition einer linken Politik.« Oder in der Sprache der Hippies: Let the sunshine in.