Die Liebe zur Fata Morgana

Er kam von der Straße und liebte die Dissidenten des Lebens. Mohamed Choukri ist tot. Eine Erinnerung von alfred hackensberger

Einen Mythos kann man nicht erklären. Er existiert, man lebt ihn, man spricht über ihn, aber man gibt keine Erklärungen ab. Wenn man einmal anfängt, einen Mythos zu erklären, ist er schon keiner mehr. Genau wie jedes Geheimnis seinen Zauber hat. Man muss den Dingen ihren Zauber lassen. Das ist wie mit einer Schatztruhe.

Mohamed Choukri

Vor einem Jahr sagte mir Mohamed Choukri im Café Le Post in Tanger, dass er jetzt reich sei und dass er gar nicht wisse, wohin mit seinem Geld. 90 000 Dollar habe er kürzlich für die Filmrechte an seiner Autobiografie »Das nackte Brot« und die Bearbeitung der Drehbuchdialoge bekommen. Jetzt sei er endlich für die nächste Zeit abgesichert und müsse sich nicht mehr den Kopf zerbrechen über so etwas Sinnloses wie Geld. Er bestellte noch einen Wodka für sich und für mich noch ein Bier. Dann saß er für einige Momente still da, nur unterbrochen von seinem typischen nasalen Räuspern. Langsam zog er an seiner Zigarette, den Blick nach draußen gerichtet, auf die Passanten auf dem Boulevard von Tanger. Als der Kellner den Wodka und das Bier brachte, tranken wir auf den Reichtum aller Künstler.

Letzte Woche kam das Filmteam aus Italien nach Tanger, um Szenen für das »Nackte Brot« an den Originalschauplätzen zu drehen. Für Mohamed Choukri zu spät, er war am Vormittag des 16. November im Militärkrankenhaus in Rabat im Alter von 68 Jahren an Lungenkrebs gestorben. »Sein Tod bedeutet einen enormen Verlust für die marokkanische Literatur«, hatte König Mohammed höchstpersönlich in einem Beileidsschreiben erklärt. Der König war sogar für seine Behandlungskosten aufgekommen. Etwas, dass sich Mohamed Choukri früher wohl nie hätte träumen lassen.

Über 20 Jahre waren seine Bücher in Marokko offiziell verboten. Erst mit der Thronbesteigung Mohammeds VI., der eine wesentlich liberalere Politik vertritt als sein rigider, diktatorischer Vater Hassan, wurde Choukri rehabilitiert. Im Zuge der allgemeinen Islamisierung der arabischen Länder wollte der marokkanische Staat die religionskritischen Künstler jedoch nicht länger verprellen. Sie dienten ihm als Feigenblatt. Choukri stand auf der so genannten schwarzen Liste der Islamisten, da er offen über Sexualität schrieb und die Institution Familie in Frage stellte. Doch der überzeugte Atheist machte sich darüber wenig Gedanken. »Es gibt keinen Grund, Angst zu haben. Wenn es passiert, dann passiert es eben.«

Es ist nicht leicht, über einen guten Bekannten zu schreiben, der kürzlich gestorben ist. Wie üblich rauschen da die Bilder von Ereignissen, Erlebnissen, Begebenheiten vor dem inneren Auge vorbei, wann und wie man sich zuerst oder zuletzt gesehen hat usw. Aber da ist noch etwas anderes als nur die Erinnerungen, die einen traurig, melancholisch stimmen. Man hat eine Art Verbündeten verloren, von denen es so wenige in der Welt gibt, dass es den Verlust um so fühlbarer macht. Einen Menschen, der in keine Konventionen passt, der es keiner Gesellschaft recht machen kann, der auf alle geschlossenen ideologischen Systeme pfeift, weil er die Engstirnigkeit, die Beschränktheit von allen Gut-und-Böse-Einteilungen erkannt hat, und für ihn die Wahrheit, wenn es sie denn geben sollte, irgendwo dazwischen liegt. »Ich habe im Leben noch nie nach der Wahrheit gesucht. Mich interessiert das Geheimnisvolle, das Rätselhafte, nicht Schwarz und Weiß. Mich interessiert die Fata Morgana, nicht das Wasser.«

Nicht zufällig war Choukri mit dem berühmten französischen Schriftsteller und Dramatiker Jean Genet befreundet, der mehrfach in Tanger weilte und in Larache, einer Kleinstadt an der Atlantikküste, etwa eine Autostunde von Tanger entfernt, auf einem Soldatenfriedhof begraben liegt. Beide Autoren teilten nicht nur die intellektuelle Sympathie für die Verdammten dieser Erde, sondern kannten deren Leben aus eigener Erfahrung. Ein Wissen, das ihnen einen tiefen Einblick in gesellschaftliche Regelsysteme und in die Funktionsweise der Konstruktion von Wirklichkeit gab.

Mit elf Jahren verließ Mohamed Choukri sein Zuhause, ein kleines Dorf im Rif-Gebirge, wo er 1935 geboren wurde. Er konnte seinen tyrannischen Vater nicht mehr ertragen, der im Zorn Mohameds Bruder umgebracht hatte. Für die nächsten neun Jahre wurden die Straßen von Tanger sein Zuhause, wo der Junge, der nur »Rifi« sprach, erst einmal den marokkanischen Dialekt lernen musste. Er schlug sich mit Schmuggel, Diebstahl, Prostitution durchs Leben. Tanger war dafür in den vierziger und fünfziger Jahren kein so schlechtes Pflaster. Die nördlichste Stadt Marokkos war damals »internationale Zone«, ein Zentrum der Reichen und Schönen der westlichen Welt, die hierher kamen, um sich zu amüsieren und Geschäfte zu machen. Die Marokkaner arbeiteten als Dienstboten oder Hilfsarbeiter, der Zutritt zu Cafés oder Restaurants blieb ihnen untersagt.

»In den Mülleimern der Europäer fand man immer die besten Stücke. Da konnte man in der Regel eher etwas Essbares finden als bei den Marokkanern«, erzählte Choukri. Als er Anfang der fünfziger Jahre ins Gefängnis musste, zeigte ein Mitgefangener dem Analphabeten die ersten arabischen Buchstaben. Es ging dabei um einen Vers des tunesischen Dichters Abu al-Quasim al-Shabby, der an die Wand gekritzelt war: »Wenn eines Tages sich die Menschen entscheiden, frei zu sein, muss das Schicksal mit diesem Wunsch verknüpft sein/ Es wird keine Nacht mehr geben, wenn die Ketten gebrochen sind.« Ein Vers übrigens, der später zum Motto der FNL (Nationale Befreiungsfront) in Algerien während des Unabhängigkeitskriegs in den Jahren 1954 bis 1962 wurde.

Mit zwanzig entschloss sich Choukri, lesen und schreiben zu lernen, ging zum ersten Mal in die Schule und ließ das Leben auf der Straße hinter sich.

Mit Tanger werden immer wieder so klangvolle Namen wie Francis Bacon, Jane und Paul Bowles, William S. Burroughs, Tennessee Williams oder Barbara Hutton verbunden. In den fünfziger Jahren hatte es sich herumgesprochen, dass man in Tanger alles machen konnte, was man sich in anderen Teilen der Welt nur zu träumen wagte. Voraussetzung war ein westlicher Pass, mit dem man quasi unbeschränkte Immunität genoss. In Tanger gab es Prostituierte, Drogen und Glücksspiel, und spezielle Wünsche befriedigte man etwa im Dampfbad für Knaben und Mädchen. Zudem traf man in einem Restaurant am Socco Chico in der Altstadt von Tanger früher oder später einen Kollegen aus London, Paris oder New York, konnte an mondänen wie ausgefallenen Partys teilnehmen oder einen Mäzen finden, der einem einen seiner Bungalows mit Seeblick zum Arbeiten zur Verfügung stellte.

»Als ich Mohamed Choukri kennen lernte, war ich überrascht von seiner radikalen Kritik der exotischen Mystifizierungen Tangers«, sagte der spanische Schriftsteller Juan Goytisolo. Tatsächlich hat Choukri nie mit seiner Meinung hinter dem Berg gehalten. »Alle kamen sie nach Tanger, um ihre exotischen Wünsche zu erfüllen. Mit Marokko wollten sie nichts zu tun haben, außer als farbenprächtige Kulisse, und die Marokkaner waren Objekte ihrer meist sexuellen Wünsche.«

»Das Leben von denen«, bestätigt Juan Goytisolo, »die im absoluten Wohlstand in den Villen auf dem El Monte (auch heute noch das Nobelviertel von Tanger; A.H.), in den Hotels am Strand oder am Kap Spartel (wo Atlantik und Mittelmeer zusammenfließen; A.H.) wohnten, hatte nichts gemein mit den streunenden Waisenkindern, der Arbeitslosigkeit, der Armut oder den 1001 Kleinstgeschäften, mit denen sich die Mehrheit der einheimischen Bevölkerung notdürftig über Wasser hielt.«

Lesen und Schreiben eröffneten Choukri eine vollkommen neue Welt. »Als ich anfing zu lesen, habe ich nicht mehr aufgehört, jeden Tag 50, 60, manchmal 100 Seiten. Das war meine Rache. Ich musste das, was ich verloren hatte, wieder aufholen. Dank meiner Lektüre habe ich mich von vielen psychischen Problemen befreien können, Probleme mit meinen Eltern und der Gesellschaft.« Zehn Jahre nach Mohamed Choukris erster Schulstunde veröffentlichte 1966 das Al Adab Magazin in Beirut seine erste Erzählung »Gewalt auf dem Ozean« und rühmte ihn als »außergewöhnlichen Schriftsteller, rebellisch, zornig, mit einer harten, nackten Sprache«. 1973 folgte »Das Nackte Brot«, sein wohl bekanntestes Buch, bei Peter Owen auf Englisch, übersetzt von dem in Tanger lebenden amerikanischen Schriftsteller Paul Bowles.

Darin verarbeitet Choukri seine Erfahrungen auf der Straße, diesem Ort, wo es nicht darum geht, dass der Stärkste überlebt, sondern der Niederträchtigste und Gemeinste. Er erzählt seine Geschichte in einem sehr sachlichen, nüchternen Ton, der von vielen Lesern manchmal als »einfach« bezeichnet wurde. Dabei ist es gerade sehr schwierig, komplizierte Dinge ganz simpel darzustellen. Choukris Stil bricht mit allen prätentiösen modernen Schreibweisen, seien sie nun vulgär oder künstlerisch überladen. Ob ein Tee getrunken wird, es eine Rauferei gibt, oder die Nacht im Bordell verbracht wird, Choukri macht stilistisch keinen Unterschied dazwischen. Jeder dieser Vorgänge scheint der gleichen Routine zu gehorchen. Es gibt keine Euphemismen, die Charaktere sind keine Chiffren für etwas anderes. Das Leben erscheint wie eine Gebetsmühle, die nur durch den Tod unterbrochen wird. Der Tod ist neben der Sexualität eines der zentralsten Themen. Das »Nackte Brot« beginnt mit dem Tod seines Bruders Abdelkader und endet mit einem Besuch an seinem Grab.

Nach der englischen Ausgabe folgte 1980 eine französische in der Übersetzung Tahar Ben Jellouns, eines Schriftstellers aus Tanger, der aber hauptsächlich in Paris lebt und nur auf Urlaub in seine Heimatstadt kommt. Auf ihn wie auch auf Paul Bowles war Mohamed Choukri nie gut zu sprechen. »Beide sind Diebe«, erklärte er mir mehrfach. »Sie haben sich beide das Copyright meiner Bücher unter den Nagel gerissen und viele Jahre lang meine Tantiemen in die eigene Tasche geschoben.« Tahar Ben Jelloun war für Choukri obendrein ein Vorzeigemarokkaner, der sich dem französischen Kulturbetrieb anbiederte. Mit Paul Bowles, der es mit anderen marokkanischen Autoren, die er übersetzte oder herausgab, ganz ähnlich gemacht hatte, rechnete Choukri ausführlich im Buch »Der Titan von Tanger« ab, das in Deutschland leider keinen Verleger fand.

Es folgten kleine Bändchen über seine Begegnungen mit Jean Genet und Tennessee Williams in Tanger. 1983 erschien »Das nackte Brot« endlich auf Arabisch, beliebt, aber in den meisten Ländern verboten und geschmäht. Choukri war frustriert, dass er in der westlichen Welt gepriesen wurde und in der arabischen niemand etwas von ihm wissen wollte. Er legte eine Schreibpause von 20 Jahren ein, bis der zweite Teil seiner Autobiografie, »Die Zeit der Fehler«, folgte. In Deutschland hatte Choukri in den letzten Jahren Probleme, einen Verlag zu finden. In Spanien oder Frankreich dagegen wurde jedes neue Werk publiziert.

In den arabischen Ländern blieb die Rezeption seiner Literatur gespalten. Kritiker und Uniprofessoren, die ihn »als einen der wichtigsten arabischen Autoren« rühmten, liefen Gefahr, in die Schusslinie der Islamisten zu geraten. Noch 1999 wurde »Das nackte Brot« aus dem Lehrplan der Amerikanischen Universität in Kairo gestrichen, wegen expliziter sexueller Darstellungen. Anlässlich seines Todes lobte dagegen die renommierte Wochenzeitung Al-Ahram aus Kairo die Literatur Mohamed Choukris in höchsten Tönen. »Sie zeigt einen ständigen Kampf ums Überleben in einer feindlichen Welt, die nur wenig Zeit lässt nachzudenken, und wo man sich immer wieder fragt, warum alles denn nur so schrecklich ist.«

Die Einsicht in die Schrecklichkeit der Welt war bei Mohamed Choukri keine literarische Attitüde. Er hatte am eigenen Leib erfahren, was es tatsächlich bedeutet, außerhalb der Gesellschaft zu stehen und zu einem absoluten Nichts degradiert zu werden. »Das ist prinzipiell in der arabischen oder islamischen Gesellschaft, wie immer man das nennen will, nicht anders als in westlichen. Die soziale Degradierung bleibt die gleiche.« Choukri sprach so gut wie nie über politischen Dissens, ihn interessierten die Dissidenten des Lebens, Waisenkinder, Prostituierte, Diebe, Stricher, und das war für ihn mehr als nur Politik. Wenn Choukri eine Überweisung aus dem Ausland bekam oder ihm sein Agent Honorare in bar brachte, dann stiftete er regelmäßig und reichlich an seine »Sorgenkinder«. »Ich bin ein Schriftsteller der Armen«, hat er einmal einem Redakteur der spanischen Zeitung, El Pais gesagt. »Ich möchte die Ausgeschlossenen, die Vergessenen und die Unterdrückten verteidigen.«

Jeden Vormittag saß Mohamed Choukri zuletzt im Restaurant Ritz, immer am selben Tisch, links neben dem Eingang, vor sich einen Wodka. An einer Wand Fotos von ihm. Früher ging er immer in die Bar Negresco, unmittelbar hinter dem Place de France, dem Zentrum von Tanger. Dann war es das Café Le Post, das Restaurant Eldorado und zum Schluss eben das Ritz. Der Grund für die häufigen Wechsel des Stammlokals waren meist Streitigkeiten mit den Besitzern oder den Gästen, oder es gefiel ihm einfach nicht mehr. Mittags ging er nach ein paar Wodkas oder Whiskeys nach Hause in seine Dachwohnung im fünften Stock über dem Café Roxy, wo er seit über 30 Jahren wohnte. An den fehlenden Lift konnte er sich nie recht gewöhnen. Um zwei Uhr guckte er immer die Tiersendung im spanischen Fernsehen, die er einfach faszinierend fand. Abends ging es dann noch mal raus, vielleicht ins Eldorado auf mehrere Drinks. Getrunken hat er viel in seinem Leben. Oft genug leistete ich ihm vormittags Gesellschaft, um über Banalitäten zu sprechen oder den Sinn des Lebens. Meistens musste ich danach einen ausgiebigen Mittagsschlaf halten.

Das letzte Mal saß ich bei ihm, als er über seine Bronchitis sprach, die einfach nicht vergehen wollte. Neun Monate später, nach mehreren Chemotherapien, ist er gestorben. Am Abend waren noch Freunde bei ihm gewesen, er hatte Witze gemacht, strahlte vor Optimismus und machte sich Notizen in seinem kleinen Buch. In der Nacht bekam er plötzlich Schmerzen. Vor seinem Tod hatte er noch eine notarielle Erklärung unterschrieben, die seinen gesamten Nachlass einer Stiftung überträgt, was ohne königlichen Einfluss nicht so einfach möglich wäre.

Dieses Wochenende fahre ich zurück nach Tanger, wo ich einige Jahre gelebt habe. Natürlich hatte ich mir vorgenommen, ihn zu besuchen. Im Ritz werde ich ihn nicht mehr finden, aber auf dem Friedhof von Marshan, einem ruhigen, alten Stadtteil von Tanger, unweit des Mittelmeers. Dort bläst im Dezember ein starker Wind von der See her und dort ist der »einzig wahre Schriftsteller von Tanger«, wie sich Mohamed Choukri selbst bezeichnete, begraben. Ich werde wie üblich einen Wodka mit ihm trinken.