Sklavenarbeit und Humankapital

Vom Reich zur Bundesrepublik: Migrationspolitik in Deutschland. Von Kien Nghi Ha

Die wiederkehrenden Bilder von schiffbrüchigen Flüchtlingen gehören an den australischen, US-amerikanischen, spanischen und italienischen Küsten seit Jahren zum Alltag. Im globalen Medienstrudel gehen diese durch westliche Grenzregime erzwungenen Einreisetragödien entweder sang- und klanglos unter oder sie werden publizistisch als Taschentuchdrama ausgeschlachtet und politisch als abschreckende Warnung eingesetzt.

Im vorläufig letzten Zwischenakt dieser Fortsetzungsgeschichte spielten sich Mitte Oktober »Szenen wie aus Dantes Inferno« vor der italienischen Touristeninsel Lampedusa ab. Tragischer Höhepunkt dieser Episode war ein hilflos dahin treibendes Boot, in dem Fischer neben 13 Toten auch 15 ausgehungerte Überlebende am südlichsten Vorposten Europas aufgriffen. Bei der Abfahrt zur 17tägigen Odyssee befanden sich noch mehr als 85 Passagiere an Bord, die alle aus der ehemaligen italienischen Kolonie Somalia kamen. Die geschichtliche Logik des »We are here, because you were there« ist in den heutigen Formen postkolonialer Migrationen aktuell geblieben.

Die Moderne ist wesentlich durch transkontinentale Migrationen geprägt. Im Rahmen der europäischen Expansion waren einseitige Wanderungsprozesse oft Voraussetzung und Folge von Eroberungen und Besiedlungen außereuropäischer Gebiete. Erst in der Ära der Dekolonisierung wurde Westeuropa in ökonomisch relevanten Größenordnungen selbst zum Einwanderungsziel. In den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts trafen Arbeitsmigranten und Flüchtlinge in Marseille, Rotterdam und Liverpool ein. Diese »boat people« wurden noch ganz regulär aus (früheren) Kolonialterritorien angeworben, um die Nachkriegsökonomie wiederaufzubauen.

Erinnerungsabwehr und innere Kolonialisierung

Während die Einwanderungen in Frankreich und England offensichtlich mit ihrer Rolle als Kolonialmächte zusammenhängen, war Deutschlands koloniale Arbeitsimmigrationspolitik bisher nie Gegenstand wissenschaftlicher, geschweige gesellschaftlicher Auseinandersetzungen.

Das hängt zum einen mit dem hierzulande vorherrschenden Selbstbild zusammen, das die eigene Kolonialgeschichte und ihre Verbrechen systematisch als belanglose Kurzepisode verleugnet. Zum anderen wird die Arbeitsmigrationspolitik auch in der wissenschaftlichen Wahrnehmung von ihrem kolonialen Entstehungskontext abgetrennt. In den volkswirtschaftlich und pädagogisch geprägten Publikationen zur »Ausländerbeschäftigung und -integration« dominieren sozialtechnische Fragestellungen. Sozialhistorische Studien haben dagegen Seltenheitswert. (1)

Obwohl sie meist deskriptiv bleiben, legen sie sich a priori auf ein fragmentiertes Geschichtsbild fest, das die Arbeitsmigration in die BRD als voraussetzungslos darstellt. Angesichts der nationalsozialistischen Zwangsarbeit und der »Vernichtung durch Arbeit« ist das politische Bedürfnis nach einer Abgrenzung gegenüber anderen Arbeitsmigrationsformen verständlich und sachlich gegeben. Allerdings wird diese notwendige Differenzierung für eine weit verbreitete Schlussstrichmentalität instrumentalisiert, die auch die Frage nach kolonialen Beziehungen als obsolet betrachtet.

Durch Tabuisierung, Enthistorisierung und Aufspaltung der Geschichte werden Sicherungszäune auf dem historischen Terrain aufgestellt. Diese Geschichtspolitik hat zur Folge, dass das Jahr 1955 zur »Stunde Null« deutscher Arbeitsmigrationspolitik stilisiert wird. Fragen nach Brüchen und kolonialen Kontinuitäten in der gesellschaftlichen Konzeption von Arbeitsmigration im Rahmen der historischen Entwicklung des deutschen Nationalstaats interessieren hingegen nicht.

Diese »Befreiung« aus der Geschichte hat eine paradoxe Situation verstärkt, in der die historische Verdrängung zur Grundlage einer weitgehenden Rekonstruktion überwunden geglaubter Diskurse und Praktiken wurde. So wie die innere der äußeren Kolonialisierung folgte, so ist auch die Weigerung, koloniale Verhältnisse aufzuarbeiten, eine Form der sekundären Kolonialisierung. Diese Verweigerung verdeckt und stabilisiert vorhergehende Formen. Ohne dieses Problem anzuerkennen, ist es nicht möglich, die Präsenz kolonialer Muster (wieder) zu erkennen. Den historischen Bezugsrahmen bei der Analyse deutscher Migrationspolitik auszuweiten, bedeutet, ein differenzierteres Geschichtsbild zu erarbeiten.

Die sichtbaren Austragungsorte kolonialer Politik werden wegen ihres expansiven Charakters meist außerhalb der Zentren verortet und erinnert. Durch die Fixierung auf stereotype Bilder kolonialer Visibilität (halbnackte Eingeborene, Khakiuniformen etc.) entsteht der Eindruck, dass die koloniale Präsenz sich auf die Peripherien beschränkt.

Die Prozesse der inneren und verinnerlichten Kolonialisierung in westlichen Gesellschaften werden dagegen kaum wahrgenommen. Zu den Wechselwirkungen der Kolonialisierung gehört, dass nicht nur die kolonialisierten, sondern auch die kolonialisierenden Länder zu Kolonialgesellschaften wurden. Nicht nur waren westliche Mächte Ausgangsorte kolonialer Praktiken, auch ihre Kolonialdiskurse schrieben sich in metropolitane Gesellschaftsstrukturen wie in die rassifizierten Körper ein.

Eine Problematisierung der kolonialen Muster deutscher Arbeitsmigrationspolitik, die sich immer wieder als eine Form der diskriminatorischen Aneignung des konstruierten Anderen herausstellt, hat nichts von ihrer gesellschaftlichen Aktualität und Relevanz eingebüßt. Ein wesentliches Moment imperialer Macht besteht in der flexiblen Steuerung von monetären, kulturellen und migrantischen Flows, die die kapitalistischen Zentren mit den Peripherien verbinden. Diskriminatorische Arbeitsmigrationspolitik als Inversion kolonialer Expansionsformen ermöglicht, die Produktivkraft des anderen anzueignen, ohne die vielfältigen Risiken und langfristigen Verpflichtungen der territorialen Vereinnahmung einzugehen.

Gerade die koloniale Aneignungslogik in der Arbeitsmigrationspolitik des Imperial Germany kann von dieser Perspektive aus analysiert werden. Wenn wir die staatliche »Migrantenzufuhr« ins innere Ausland und die globale Konkurrenzfähigkeit als Prozesse mit ideologischen Überlappungen und funktionalen Verflechtungen betrachten, dann ergeben sich beachtenswerte Einsichten. Da sich koloniale Politik im späten 19. Jahrhundert neben dem grundlegenden Wunsch nach wirtschaftlichen Nutzeffekten für die eigene Nationalökonomie vor allem über ein Konglomerat aus rassistisch-nationalistischen und sozialimperialistischen Ideologemen definiert, erscheint es angemessen, von einer kolonialen Migrationspolitik im imperialen Deutschland auszugehen.

Koloniale Traditionen

Deutschland war zunächst ein Auswanderungsland, dessen Aussiedler Kolonialgesellschaften in der »Neuen Welt« verfestigten. Unter den Bedingungen wirtschaftlichen Wachstums und fehlender Arbeitskräfte kehrte sich Ende des 19. Jahrhunderts die Migrationsrichtung jedoch um.

Die Genese der Migrationspolitik erfolgte in Deutschland zeitlich synchron zur Realisierung nationalstaatlicher Kolonialpolitik. Während die »verspätete Nation« im »scramble for Africa« Mitte der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts ihre ersten »Schutzgebiete« in Besitz nahm, setzte wegen der »Leutenot« in der ostpreußischen Agrarwirtschaft eine grenznahe Saisonarbeit ein. Sie wurde zehn Jahre später mit antipolnischen Einschränkungen auf das übrige Preußen ausgedehnt.

Das immer noch gültige Prinzip, wonach Deutschland kein Einwanderungsland sei, wurde durch ein bis 1907 voll entwickeltes Migrationsregime mit jährlichem Rückkehrzwang umgesetzt. Bis zum Ersten Weltkrieg rückte Deutschland durch den Ausbau seines zunehmend administrativ und zentral organisierten Systems des temporären »Arbeiterimports« nach den USA zum »zweitgrößten Arbeitseinfuhrland der Erde« auf. 1910 waren 1,26 Millionen Arbeitsmigranten im Deutschen Reich beschäftigt. Davon waren knapp zwei Drittel polnisch.

Beim Vergleich der imperialen mit der bundesrepublikanischen Migrationspolitik lassen sich bei aller Modifizierung konzeptionelle, funktionelle, ideologische, diskursive, soziale, juristische und politisch-administrative Analogien als koloniale Muster herausarbeiten.

Deutschlands Migrationspolitik verstand sich immer als eine Notlösung. Wo das Unerwünschte nicht vermeidbar ist, soll Zuwanderung grundsätzlich temporär sein, da unberechenbare »Sicherheitsgefahren« und Sozialkosten befürchtet werden. Mit der zeitlich befristeten Migration, deren Konditionen ausschließlich von deutscher Seite definiert werden, ist eine tragende Komponente im Konzept des Nicht-Einwanderungslandes entstanden. Das Primat deutscher Interessen pendelt konjunkturabhängig zwischen den Polen »Überfremdungsgefahr« und »Wachstum«. Dieser Spannungsbogen durchzieht alle Phasen der Arbeitsmigrationspolitik, die durch die Dualität völkisch-nationalistischer »Abwehrpolitik« und nationalökonomischer Verwertungsinteressen geprägt ist.

Primär wurden Migranten in den letzten 120 Jahren nur dann zugelassen, wenn regionaler, sektoraler, saisonaler oder konjunktureller Arbeitskräftemangel bestand. Neben der Kompensationsfunktion macht die Zuwanderung ökonomische Vorteile für die deutsche Wirtschaft verfügbar, die sich aus dem Entwicklungsgefälle zwischen Zentrum und Peripherie ergeben. Lag die innereuropäische Peripherie Preußens traditionsgemäß noch in Osteuropa, wurden in Zeiten des Kalten Krieges die weniger industrialisierten Mittelmeeranrainerstaaten als neue Ersatzarbeitsmärkte erschlossen. Diese Gebiete stellten mit ihrem billigen »Humankapital« unverbrauchte Ressourcen bereit, die wegen ihrer günstigen Kosten für Deutschland erworben werden sollten.

Institutionell war zunächst die halbamtliche Preußische Feldarbeiter-Zentralstelle für die Arbeitskräfteanwerbung zuständig. Sie knüpfte organisatorisch an die Centralstelle zur Beschaffung Deutscher Ansiedler und Feldarbeiter an. Diese wurde 1903 vom Ostmarkenverein und Alldeutschen Verband zur Förderung der kolonialen Siedlungspolitik gegründet. Neben der Logik der Migrationskontrolle wurden auch organisatorische Erfahrungen und Arbeitsweisen institutionell weitergegeben.

So überstand die »Legitimationskarte«, die die polizeiliche Identitätskontrolle mit der Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis verband, als bürokratisches Detail vier deutsche Gesellschaftssysteme: Sie wurde ab 1912 von der Deutschen Arbeiterzentrale, in der Weimarer Republik seit 1927 von der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und schließlich von der Bundesanstalt für Arbeit ausgestellt. Diese Karte setzte die Vertragsfreiheit und Freizügigkeit der ausländischen Arbeiter aus, indem sie bei der Einreise einem Arbeitgeber unkündbar zugewiesen wurden.

Auch die »Gastarbeiter« konnten erst nach einem Jahr das Unternehmen wechseln. Während in der Frühphase die brutalen Anwerbungsmethoden und Arbeitsbedingungen oft als »Menschenjagd« und als Handel mit »rechtlosen Lohnsklaven« beschrieben wurden, riefen die Rekrutierungsmethoden der Bundesanstalt für Arbeit Bilder von Sklavenmärkten ab. Wegen der Wohn- und Arbeitsbedingungen wurden die »Gastarbeiter« auch als »Nigger Europas« bezeichnet. (2)

Gewinne und Verluste

Friedrich Syrup, der als Präsident die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung sowohl vor als auch während der NS-Zeit führte, schwärmte bereits 1918 von den Vorteilen des Rotationsprinzips: »Es ist fraglos, dass die deutsche Volkswirtschaft aus der Arbeitskraft der im besten Alter stehenden Ausländer einen hohen Gewinn zieht, wobei das Auswanderungsland die Aufzuchtkosten bis zur Erwerbstätigkeit der Arbeiter übernommen hat. Von noch größerer Bedeutung ist jedoch das Abstoßen oder die verminderte Anwerbung der Ausländer in Zeiten wirtschaftlichen Niederganges«. Ganz im diesem Sinne beschrieb der frühere NS-Jurist Hans Filbinger (CDU) als Ministerpräsident von Baden-Württemberg die Gastarbeiterpolitik als »rotierenden Ex- und Import jeweils junger frischer Gastarbeiter«.

Was früher nach Gutsherrenart »Aufzuchtkosten« hieß, wurde bei der Gastarbeiteranwerbung als eingesparte Sozialisations- und Ausbildungskosten in der nationalen Vergleichsbilanz auf der deutschen Habenseite verbucht. So wurde 1967 der Ausbildungswert eines 30jährigen Italieners auf bis zu 40 000 Mark beziffert. Die deutsche Öffentlichkeit rechnete damit, dass »der nicht integrierte, auf sehr niedrigem Lebensstandard vegetierende Gastarbeiter« (Handelsblatt, 23. Januar 1971) nach Abzug aller Unkosten jährlich mindestens 20 000 Mark Gewinn abwarf.

Hinzu kamen milliardenschwere Überschüsse für die deutschen Sozialversicherungen und den Fiskus, da die »Gastarbeiter« für ihre Beiträge keine äquivalenten Leistungen erhielten. Allein in der Rentenversicherung wurde zwischen 1961 und 1971 ein Surplus von 19,4 Milliarden Mark erzielt. Von solchen Gewinnmargen euphorisiert, wurde kaufmännisch korrekt »die kräftige Aufstockung unseres Bestandes an – möglichst gut ausgebildeten – Gastarbeitern« (Die Zeit, 29. November 1968) empfohlen.

Die Überausbeutung migrantischer Produktivkraft ist traditioneller Bestandteil der Ökonomie »made in Germany«. Neben Lohndumping sind schlechtere Arbeitsbedingungen, befristete Zeitverträge und die Verweigerung von normalen Sozialleistungen üblich. Durch das »Inländerprimat« wurde eine rassistische Arbeits- und Sozialstruktur verrechtlicht, die auf der staatlich geförderten Unterschichtung marginalisierter MigrantInnen aufbaut.

Das Prinzip der ethnischen Arbeitsteilung findet sich heute etwa im Arbeitsförderungsgesetz und im Asylrecht wieder. Es sieht eine gestaffelte Hierarchie bei der Vergabe von Arbeitsplätzen und Lebenschancen vor. Dieses System der Ungleichbehandlung fördert eine Struktur, die den Immigrierten in der Regel schwere, stigmatisierte, z.T. auch gesundheitsgefährdende Arbeit in den untersten Betriebshierarchien zu Konditionen aufbürdet, die Deutschen nicht zugemutet wird.

Als disziplinierende Sozialtechniken gehören sie zu jenen strukturellen Diskriminierungen, die eng mit Ethnisierung und rassistischer Abwertung verbunden sind. Ferner sind das modifizierte, aber weiterhin völkische Staatsangehörigkeitsrecht von 1913 und das auf der NS-Ausländerpolizeiverordnung beruhende Ausländergesetz für die Entrechtung und Ausgrenzung von Migranten von hoher Bedeutung.

Da Migranten als Arbeiter mit geringerem Rechtsstatus konzipiert werden, sollten sie in regressiven Wirtschaftsphasen als erste ihre unsicheren Arbeitsplätze verlieren und zurückkehren. Einerseits konnte die deutsche Seite durch den »Export« von arbeitslosen, kranken oder alten Migranten gesetzliche Sozialleistungen und übliche Arbeitgeberpflichten auf Kosten der Migrierten einsparen. Andererseits wurden durch diese frühkapitalistische Produktionsweise und die migrantische Pufferfunktion die Arbeitsplätze der deutschen Stammbelegschaft gesichert. Diese Idee wurde bereits in der Kaiserzeit als strenger Grundsatz praktiziert. Auf diese Weise sollte der innerdeutsche Sozialfrieden abgesichert werden.

Die Ethnisierung der Arbeitslosigkeit bietet keine reale Lösung an. Sie versucht vielmehr die ideologischen Probleme der Massenarbeitslosigkeit durch nationalistische Überlegenheitsgefühle und »Sündenbock«-Konstruktionen abzufedern. Mit Hilfe dieser Entlassungspolitik konnte das Prinzip des »Inländerprimats« auch beim Abbau von Arbeitsplätzen durchgesetzt werden. Im Kern erfüllt das Rotationsprinzip sozialimperialistische Privilegierungs- und rassistische Diskriminierungsfunktionen.

Seit den Anfängen der Arbeitsmigrationspolitik bilden Rassismus und völkisch-nationale Diskurse ihre Begleitumstände. Zunächst richtete sich die Herabsetzung gegen osteuropäische, speziell polnische Gruppen. Die Idee untergebener »Arbeitsvölker« war in der Kaiserzeit populär, da sie rassistische Unterlegenheitsvorstellungen mit ethnischer Arbeitsteilung und imperialistischen Ostexpansionsplänen verband. In den rassentheoretischen Diskursen wurde die polnische Bevölkerung als kulturell »niedrig stehende Slawen« angesehen. Als »dumme Polacken« mit einer »kriecherischen« und »unterwürfigen« Haltung erschienen sie für schwere Arbeiten auf dem Feld und Untertage prädestiniert.

Indem soziale Verhältnisse verkörperlicht und als »Rasseneigenschaften« naturalisiert wurden, konnten diese Menschen als »geborene Erdarbeiter« funktionalisiert werden. In der BRD wurden vieler dieser Stereotypen auf türkische Migranten übertragen, die ebenfalls pathologisiert und kriminalisiert werden. So wie Max Weber 1892 vor einer drohenden »Polonisierung des Ostens« warnte, so wurde die türkische Community in der Nachfolge bevorzugtes Ziel epidemischer Überfremdungsdiskurse. Ebenso wie die Forderung »Deutschland den Deutschen« werden in einer mehr als hundertjährigen Endlosschleife die Metaphern der »Fluten« und »Ströme« im Migrationskontext wiederholt. Auch diese unentbehrlichen Requisiten der Asylpanik sind Bestandteil einer kolonial-rassistischen Imagination.

Macht und Multikultur

Die Einwanderungsfrage wird hauptsächlich als Diskurs über die Chancen und Gefahren für die deutsche Nationalökonomie geführt. Die Wirtschaftsnation als Chiffre kollektiver Sehnsüchte und Ängste knüpft an Vorstellungen über die archetypischen Gefahren des Fremden an. Wie beim Rassismus soll das »Eigene« vor dem drohenden, kostenintensiven oder verderblichen Zugriff des imaginären Fremden geschützt werden.

Der Glaube, die ausufernden »Migrationsströme« und »Flüchtlingswellen« eigenmächtig durch Begrenzung und Steuerung beherrschen zu können, entspringt der Allmachtsphantasie der kolonialen Naturbeherrschung. In diesem Projekt sollte das kolonisierte Andere als Teil der Natur durch westliche Technik und moderne Sozialdisziplinierung gebändigt werden. Solche Kontrollphantasien lassen sich am ehesten als kollektive Psychogramme lesen, die von politischem Extremismus und Paranoia angetrieben werden.

Weil die Ideologie der Nationalökonomie an wohlstandschauvinistische Bauchinstinkte und irrationale Katastrophenängste appelliert, konnte sie als öffentlich anerkanntes Dogma hegemonial werden. Indem sie nach innen integriert wird und sich nach außen abgrenzt, kann sie nationale Überlegenheits- und Bedrohungsgefühle im massenwirksamen Bild der »Schicksalsgemeinschaft« in den ungewissen Zeiten der Globalisierung revitalisieren.

Die nationalökonomische Logik ist auch eine Domäne linksliberaler Diskussionen. So wurde und wird im deutsch dominierten Multikultidiskurs immer wieder eine positive Einwanderungsbilanz vorgerechnet. Gemäß der migrationspolitischen Wertorientierung werden die Gewinnerwartungen schmackhaft angerichtet. Wie selbstverständlich wird Migranten die Aufgabe zugesprochen, Deutschland durch kulturelle Konsumangebote und ökonomische Dienstleistungen bereichern zu müssen. Sie sind anscheinend nur dazu da, um Deutsche zu bedienen und den deutschen Wirtschaftsstandort zu sichern.

Auf diese Weise wird ideologisch und sozioökonomisch das koloniale Machtmodell unhinterfragt reproduziert. Multikulturelle Bereicherungsdiskurse tragen zu einer politischen Haltung bei, die die gesellschaftliche Akzeptanz der Eingewanderten von Vorteilen für Deutschland abhängig macht. Wer das Nützlichkeitskriterium akzeptiert, muss sich fragen, was passiert, wenn die Einwanderung zum Minusgeschäft wird. Konsequenterweise müssten diese Menschen den vielfältigen Formen des »Verschwindens« erliegen, da ihr Existenzrecht in Deutschland nicht selbstverständlich ist.

Neben Unternehmensverbänden und Gewerkschaften setzen sich auch links-alternative bis christlich-konservative Spektren im deutschen Interesse für eine selektive Zuwanderung ein. Diese konzertierte Gemeinschaftsaktion hat sich neben der vermeintlichen Weltoffenheit vor allem der gesellschaftlichen Modernisierung Deutschlands verschrieben. Entsprechend beruft sich der ökonomische Zielkatalog auf Vorteile für deutsche Firmen und verspricht die Sicherung der Sozialsysteme für das deutsche Volk.

Die Kernidee dieses Wirtschaftsprogramms ist der Arbeitseinsatz junger leistungsfähiger Migranten vor allem aus postkolonialen Staaten, die diese Gewinne im globalen Konkurrenzkampf für die deutsche Nation mit erwirtschaften sollen. Das scheint im Klartext das Reformkonzept der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung« unter dem Vorsitz von Rita Süssmuth zu sein.

Der weiße Blick

Mit der Revitalisierung des Nutzenkalküls im nationalen Interesse knüpft die aktuelle Diskussion mit einer modernisierten Akzentsetzung an Zielvorgaben an, die seit der Konstituierung deutscher Migrationspolitik in der kolonialen Kaiserzeit zu ihren Axiomen gehören. Dabei schließt instrumentelles Nützlichkeitsdenken nicht einmal rassistische Präferenzen aus. Einwanderungswillige werden nach nationalen Verwertungsgesichtspunkten hierarchisiert und nach ihrem sozioökonomischen und kulturellen Nutzwert für die deutsche Gesellschaft aussortiert. Dabei wird eine rassistische Subjekt-Objekt-Struktur und eine Hierarchisierung der Welt reproduziert.

Diesmal stehen nicht Fragen »biologischer Wertigkeit«, sondern die Qualität bzw. der Qualifizierungsgrad des migrantischen »Humankapitals« im Vordergrund. Nur eine kleine, westlich orientierte Bildungselite wird diese Auswahlprozedur überstehen. Aber auch sie bleiben innerhalb der Struktur eines flexibilisierten Rassismus Verfügungsobjekte, die nicht frei über ihre Anerkennungskriterien und Zugangsbedingungen bestimmen können. Auch die postkoloniale Elite der Marginalisierten bleibt vom weißen Blick abhängig, der sie kategorisiert und entsprechend auf- oder abwertet.

Obwohl VIP-Migranten bessere Ausgangsbedingungen und mehr Optionen haben, verfügen auch sie innerhalb des »neuen« Migrationsregimes nicht über autonome Handlungsräume und einen eigenständigen Wert. Damit beschreitet die Flexibilisierung deutscher Zuwanderungspolitik mit ihrer Differenzierung von hierarchisierten Rechten und Zugängen anhand von Nationalität (EU) und beruflich-sozialem Status (Dritte-Welt) Wege, die uns bei Beibehaltung der europäischen Wohlstandsburg konzeptionell auf den Stand der kolonialen Migrationspolitik Preußens bringen. (3)

Die angestrebte Liberalisierung der Migrationspolitik ist kein Menschenrechtsprojekt der Bewegungsfreiheit. Ihre wirtschafts- und nationalliberale Motivlage folgt kolonialen Traditionen. In der derzeitigen Debatte bleibt unbeachtet, dass die ideologischen Wurzeln kolonialer Politik in Deutschland im modernisierungswilligen Reformliberalismus der Jahre um 1840 liegen, der mit Hilfe von Migrationspolitik die soziale Frage zu lösen beabsichtigte. (4)

Es ist kein Zufall, dass im heutigen Migrationsdiskurs koloniale Metaphern wiederkehren. Ohne Unbehagen werden Strategien für das »head-hunting« im »Kampf um die besten Köpfe« für die Deutschland AG entwickelt, um vom kannibalistischen »brain drain« zu profitieren. Hier zeigt sich wie ungehemmt die tief verwurzelten Machtverhältnisse einer eurozentrierten Diskursstruktur in der Gegenwart funktionieren. In dem Maße, in dem Weiße durch ihre dominanten Positionen es schaffen, die Anderen von weißen Konstruktionen des Anderen abhängig zu machen, in dem Maße können sie ihre Interessen als Selektionskriterien einsetzen und über die Distribution von Lebenschancen entscheiden.

Neuerdings sollen auch die Goethe-Institute als zeitgemäße Anwerbebüros für akademische und kreative Kopfarbeiter fungieren, um etwa die neu entdeckte Cyborg-Spezies des »Computerinders« für deutsche Dotcom-Startups und Blue Chips zu sichern. Dieses Menschenbild spiegelt koloniale Wunschträume nach einem menschlichen Perpetuum mobile wider.

Ferdinand Freiherr von Richthofen war nicht nur ein preußischer Kolonialreisender des 19. Jahrhunderts. Er wäre mit seinen migrationspolitischen Vorstellungen auch in der Berliner Republik en vogue: »Allein China birgt andere Schätze für den Weltmarkt, welche ihrer Hebung warten. Der Bedeutendste unter ihnen ist die unermesslich große, überaus billige und intelligente menschliche Arbeitskraft (…) Das mechanische Talent des Chinesen macht es ihm leicht, auf allen Gebieten der technischen Industrie, die ihm gelehrten Handgriffe mit Geschicklichkeit auszuführen (…) Er erfüllt am vollkommensten das Ideal einer menschlichen Arbeitsmaschine, nicht allein weil er gleichförmig wie eine Maschine, sondern weil er zugleich intelligent arbeitet.« (5) Der Unterschied zur Gegenwart scheint sich darin zu erschöpfen, dass das Indienfieber zur Zeit eindeutig stärker grassiert.

Kien Nghi Ha ist Politikwissenschaftler und Autor von »Ethnizität und Migration« (Westfälisches Dampfboot, 1999). Er promoviert zum Thema »Hybridität und kulturelle Selbstrepräsentationen«.

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Hito Steyerl, Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik. Unrast Verlag, #Münster 2003. 304 Seiten, 18 Euro

Anmerkungen

(1) Knuth Dohse: Ausländische Arbeiter und bürgerlicher Staat, Berlin 1985; Klaus J. Bade: Billig und willig – die »ausländischen Wanderarbeiter« im kaiserlichen Deutschland; in: Ders. (Hg.): Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland, München 1993, S. 311–324; Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland, München 2001.

(2) Ernst Klee: Die Nigger Europas: Zur Lage der Gastarbeiter, Düsseldorf 1973.

(3) Klaus J. Bade: Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland. Deutschland 1880–1980, Berlin 1983, S. 33.

(4) Woodruff D. Smith: Colonialism and Colonial Empire; in: Roger Chickering (Hg.): Imperial Germany, Westport 1996, S. 430–445.

(5) Ferdinand Freiherr von Richthofen: China, Berlin 1882, zit. nach Helmuth Stoecker: Preußisch-deutsche Chinapolitik in den 1860/70er Jahren; in: Hans Ulrich Wehler (Hg.): Imperialismus, Köln 1976, S. 243–258, hier S. 254.