Das Leben war ein Kampf

In einem Heim in London leben alte Leute, die im Dienst ihrer Majestät gearbeitet haben. Finanziert wird die Einrichtung durch Spenden und Events. von stefan kaufer

Der Blaue taumelt und hält sich die Hände schützend vors Gesicht. »Come on, soldier!« brüllt jemand aus dem Publikum, »come on, army!« Das grelle Scheinwerferlicht lässt die tätowierten Oberarme des Roten besonders markant erscheinen, als seine Fäuste den Kopf des Gegners treffen. »By knockout, Red is the winner!«, gellt es bald danach aus den Lautsprechern. Und während eine kleine Blaskapelle »We are the Champions« von Queen intoniert, gehen die beiden Kämpfer ab, einer mit und einer ohne Pokal, verfolgt von den wohlwollenden Blicken der Gäste in Abendkleidung.

Mitten im Queen’s Room des Royal Star & Garter Heims steht ein Boxring, in den nacheinander die Kämpfer des Londoner Clubs Battersea und der Britischen Armee steigen. Die Hauptstadt muss heute Abend einiges einstecken, aber sie tut es gerne, denn schließlich ist es doch für einen guten Zweck. Für die Plätze an den mit Union Jacks dekorierten Tischen, die um den Kampfplatz herum aufgestellt sind, haben die Besucher immerhin 55 Pfund bezahlt.

Nachdem der weiße Schiedsrichter verschwunden ist, betritt bald noch ein älterer, aber sehr agiler Gentleman die Arena, die in diesen betulichen Saal mit den würdevollen Ölbildern der Queen so gut passt wie die Faust aufs Auge.

»15 000 Pfund haben wir letztes Mal eingenommen«, ruft er, dieses Mal müssen es daher mindestens 15 001 werden! Und zwei junge weibliche Volunteers in grauen Anzügen mit schwarzen Schlipsen kommen hinzu, und die Auktion beginnt. Ein kleiner Fernseher wird in die Luft gehoben, das Trikot des Fußballclubs Arsenal geschwenkt, mit Gutscheinen für ein Golf-Wochenende oder einen Fallschirmsprung gewunken. »200 Pfund«, ruft der Gentleman, »200 sind geboten, wer bietet 250?« Eine Hand wird gehoben. Und gleich noch eine. Der Fallschirmsprung geht schließlich für 700 weg. »Thank you, Sir, well done.«

In dem gleichmäßig warmen Licht, das den hohen Saal während der Auktion ausfüllt, fallen ein paar an den Rand geschobene Außenseiter auf, die, während des Kampfes ins Dunkel gehüllt, gleichmütig lächelnd vor sich hinstarren und ab und zu langsam ein Weinglas an die Lippen führen, das ihnen jemand gebracht hat. In die müden Gesichter der etwa fünfzehn greisen Rollstuhlfahrer ist wieder ein bisschen Leben gekommen. In einer Reihe im Eingangsbereich wurden die Alten abgestellt.

Ingesamt 172 Männer und Frauen, die sich im Dienste Ihrer Majestät eine Behinderung zugezogen haben, wohnen in den Stockwerken oberhalb dieses vaterländischen Veranstaltungsorts. Die meisten von ihnen schlafen bereits seit dem frühen Abend in ihren kleinen Zimmern in Gebäudetrakten mit Namen wie »The Battle of Britain Suite«. Ein Soldat des Falklandkrieges von 1982 ist dabei, oder ein junger Kerl, der sich beim Rugbyspielen auf dem armeeeigenen Sportplatz so unglücklich hingelegt hat, dass er jetzt vom Hals abwärts gelähmt ist. Doch die meisten Heimbewohner haben ihre Blessuren und Behinderungen aus der Zeit des großen Kriegs gegen die Deutschen.

Den hilfsbedürftigen Klienten stehen knapp doppelt so viele Betreuer gegenüber, die in dem Heim im pittoresken Londoner Vorort Richmond als Krankenschwestern, Therapeuten, Köche oder Putzbedienstete arbeiten. »Aber ohne unsere Freiwilligen würden wir das alles niemals schaffen«, sagt Belinda Cuthbert, die für das Fundraising zuständig ist. Ungefähr 150 Volunteers helfen regelmäßig aus, sei es wie heute Abend an den Türen, an der Bar oder im Ring bei der Versteigerung. Ohne sie ginge es genauso wenig wie ohne das Geld, das durch Veranstaltungen wie diese eingenommen wird.

Als unabhängige Einrichtung bekommt das Star & Garter keinerlei direkte Fördermittel vom Staat und kann nur die Hälfte seines jährlichen Etats von knapp zehn Millionen Pfund durch Mietzahlungen begüterter Klienten oder Hilfszahlungen der Gesundheitsbehörde für mittellose Kunden bestreiten. »Die andere Hälfte müssen wir eben durch Spenden, Vermächtnisse oder publikumswirksame Events wie klassische Konzerte, Pferderennen oder Boxabende hereinbekommen.«

Nur eine weitere vergleichbare Institution in Großbritannien fällt Belinda ein: das Erskine Hospital in Edinburgh. »Mehr als zwei oder drei andere gibt es im ganzen Land aber bestimmt nicht.« Und das sogar noch etwas größere schottische Gegenstück wird – ebenfalls als Wohltätigkeitsverein organisiert – auch nicht vom Staat gestützt. Es könnte sich daher der Eindruck aufdrängen, dass das Vereinigte Königreich, das Londons Bushaltestellen derzeit mit knackigen Werbeplakaten für den Beitritt zu Army und Navy beklebt, sich nicht sonderlich viel um die Risiken und Nebenwirkungen des Jobs kümmert. Oder ist der Hang zum Privatwirtschaftlichen auf der Insel einfach nur Ausdruck einer eigenverantwortlichen Einstellung zum Leben?

Die Mittdreißigerin zuckt mit den Achseln, entnimmt ihrer Handtasche ein Etui mit einer Spritze, füllt diese mit Insulin und drückt sie sich in eine Bauchfalte, wobei auf ihrem Nabel ein Ring sichtbar wird, der dem in ihrer Nase gleicht. Auf ihre Zuckerkrankheit angesprochen, zuckt Belinda nochmals mit den Achseln. »Die Klienten hier müssen mit so schlimmen Dingen klarkommen und die akzeptieren, da kann ich mich mit meinen paar Spritzen am Tag doch nicht beklagen.«

Charlie Hankins ist so einer. Mit 18 war er der beste Boxer im schottischen Team der Army. Als junger Mann kämpfte er 1942 in Nordafrika in einer der entscheidenden Schlachten gegen den »Wüstenfuchs« der Nazis, Erwin Rommel. Verlor darin beide Beine, ein Auge und muss seit nunmehr 60 Jahren mit seiner Behinderung leben. Doch bislang hat er sich davon nicht unterkriegen lassen: 1984 auf einem im Heim gebastelten Floß von Richmond bis in die City geschwommen, 2 000 Pfund an Spendengeldern verdient. 1990 mit seinem selbst gebauten Rollstuhl-Fahrrad öffentlichkeitswirksam das ganze Land durchquert und in einer Pause im Loch Ness getaucht, 250 000 Pfund für das Heim eingenommen. 2002 noch an einem Tandem-Fallschirmspringen teilgenommen, 700 Pfund verdient.

Doch derzeit denkt er nicht ans Springen. Fast so langsam wie die anderen schiebt er sich durch die Gänge der »Black Watch Suite«, die nach seinen früheren Truppenkameraden aus der Wüste benannt ist. Nein, er möchte nicht über sich sprechen, »es steht doch alles in meinem Buch«. Charlie, der vor ein paar Monaten noch jede Möglichkeit genutzt hätte, die Öffentlichkeit auf die finanziellen Bedürfnisse seines Heims aufmerksam zu machen, rollt mit versteinertem Gesicht weiter, langsam und verbissen. »Es geht ihm sehr schlecht«, sagt Belinda später, »nehmen Sie das nicht persönlich, er ist jetzt zu jedem so.« Und während der Nicht-Aufgeber mühevoll die Tür zu seinem Zimmer öffnet, wird klar, dass auch dieses Heim dem Dilemma eines jeden seiner Art nicht entkommen kann.

1916, bei seiner Gründung als »dauerhafter Hafen« für Kriegsversehrte, und 1924, bei seinem Umzug in das heutige Gebäude, das Königin Mary und George V. eröffneten, mag das ganze Star & Garter so deprimierend dunkel und erdrückend monumental gewesen sein, wie heute die säulenbestückte Eingangshalle, der Essenssaal oder der Queen’s Room es immer noch sind. Erst 1986 wurden hier, wo lange Jahre die meisten Veteranen bloß wie in einem historischen Museum gelagert worden sein müssen, Frauen überhaupt zugelassen.

Doch heute kann es mit Recht behaupten, modernste Therapiemethoden mit menschlicher Wärme zu verbinden. Wo man früher mit »electrotherapy« reglosen Gliedern Leben einpauken wollte, befindet sich nun ein Bad für Unterwasserübungen, dessen Raum mit angenehmen Farben und beruhigender Musik angefüllt werden kann. Wo früher bloß gestickt, geflickt und genäht wurde, kann nun auch gekocht, gepflanzt und gelernt werden. Die Klienten surfen mit speziellen Tastaturbelägen für Zitterige im Internet, spielen mit Greifarmen für verlorene Bälle ausgerüstet Tischtennis und malen unter geduldiger Anleitung mit Wasserfarben das Flugzeug, in dem sie abgeschossen wurden, in hellem Kampfgrün.

Aber gegen den Feind Hoffnungslosigkeit und gegen das Gefühl, mit einem mehr und mehr den Gehorsam verweigernden Körper auf dem Abstellgleis der Gesellschaft zu stehen, kommt keiner auf Dauer an. Charlie genauso wenig wie Denis Hills, »hero of our times«, wie ihn der Spectator einmal genannt hat. 1943 und 1944 war er dabei, als die Alliierten beim Vormarsch auf Rom Monte Cassino einzunehmen versuchten, und wurde verwundet. Ungefähr 18 000 russische und ukrainische Gefangene, die auf Seiten der Deutschen gegen Stalin gekämpft hatten, hätte nach Kriegsende bei ihrer Rückkehr in die Heimat der Tod in den Gulags erwartet. Denis Hills bewahrte sie davor, indem er sie als Polen oder Staatenlose einstufte. Der Major mit einem Abschluss aus Oxford lebte später in der Türkei, in Iran und Uganda. An einer Universität der ehemaligen afrikanischen Kolonie war er Dozent und ließ es sich in einem Buch nicht nehmen, den Diktator Idi Amin als »Dorftyrannen« zu bezeichnen, was ihm prompt ein Todesurteil einbrachte.

Wochenlang wartete Denis in einer Einzelzelle auf seine Erschießung, die sich nur durch heftigste Bemühungen der Queen abwenden ließ. In den ersten Tagen dachte er daran, sich mit einer gefundenen Glasscherbe die Pulsadern aufzuschneiden. »Aber dann dachte ich mir: nein, das kannst du nicht tun. Das wäre unter deiner Würde, und deine Würde ist das letzte, was du jetzt noch hast.«

Der 90jährige braucht sie auch jetzt, um seine neue Zelle, wie er sein kleines Zimmer hier selber nennt, ertragen zu können. Und um darüber lachen zu können, dass er nach einem Leben, das ihn vor fünf Jahren noch durch die Gebirge Armeniens führte, ausgerechnet auf dem eben gewischten Boden in seiner Küche ausrutschen und mit dem Gesicht nach vorne auf den Boden fallen musste. Seitdem starrt der Mann, der nie wieder gehen wird, nur noch gedankenverloren aus dem Fenster auf Richmond Park. »Die Aussicht ist ja sehr schön, sie hat nur einen Fehler«, meint Denis leise, »sie bewegt sich nicht. Nein, ich habe keine Pläne mehr.« Er rollt ein Stück zurück zu seinem Bett, steckt sich eine Zigarette an, rollt wieder ein Stück vor, zum Regal, wo der Aschenbecher steht. Faltet die runzeligen Hände über den kaputten Knien. »Ich bin ja froh, dass sie mich hier aufgenommen haben, schließlich hat das Heim einen sehr guten Ruf, aber ich habe die Nase voll.«

Jeden Tag bietet das Star & Garter seinen Bewohnern durchschnittlich drei Events an, von einem Besuch im botanischen Garten über den Besuch eines Rugbyspiels bis zu Tanzen im Rollstuhl. Doch genauso wie Denis würde auch Nancy Wake, eine andere Prominente, daran niemals teilnehmen. »Ich bleibe im Bett«, sagt die 91jährige Neuseeländerin, die als junge Journalistin nach Europa kam und sich dazu entschloss, ihre Wahlheimat Frankreich gegen die deutschen Besatzer zu verteidigen. Sie schloss sich der Résistance an, half Verfolgten bei der Flucht und wurde später in Schottland zur professionellen Spionin ausgebildet. Während der Vorbereitungen zur Invasion sprang sie über dem Feindesgebiet ab und verteilte versteckte Waffen an die Wiederstandskämpfer.

Die magere Frau, die mit einem schwarzen Pullover und einem seidenen Tuch unter dem Laken liegt, soll einen Wachposten mit bloßen Händen getötet und eine deutsche Spionin persönlich exekutiert haben. Doch das weiß die »weiße Maus« schon gar nicht mehr, die unter diesem Spitznamen 1943 die Meistgesuchten-Liste der Gestapo anführte. Fünf Millionen Francs wäre den Feinden ihr Leben damals wert gewesen, das nun vor einem laut eingestellten Fernseher dämmert. »Meinen Gin Tonic kann ich auch hier im Bett trinken, dafür muss ich mich nicht runter an die Bar bringen lassen.« Den Minikran, mit dem im Heim alle Patienten vom Bett in den Rollstuhl und zurück gehievt werden, empfindet die Frau, die immer, auch in den finstersten Löchern und unter den schlimmsten Strapazen, auf ihr gutes Aussehen achtete, als unerträgliche Zumutung.

»Ich war keine Spionin, ich habe für die Freiheit gekämpft.« Kein weiblicher Held des Zweiten Weltkriegs hat mehr Medaillen bekommen als sie. »Sehen Sie die da«, fragt sie, auf eine an der Wand hängende Auszeichnung zeigend, »möchten Sie die vielleicht haben?« Wer hat das da aufgehängt, will sie wissen. Neben ihr auf dem Nachtkästchen liegt eine weiße Stoffmaus. Ein Geschenk, von wem erinnert sie sich nicht. Am Ende wird Nancy doch noch gefangen. Nicht von den Nazis, sondern von ihrem eigenen Körper.