»Jazz ist eine Protestmusik«

Der Musiker Sonny Rollins im Interview. Von Christian Broecking

»The Greatest Living Jazz Musician« – das war die Headline des Sonny-Rollins-Specials in der New Yorker Village Voice zu seinem 65. Geburtstag. Rollins, Jahrgang 1930, gibt nur sehr selten Interviews. Diese werden, in der Regel nach langem Vorlauf, von seiner Ehefrau, Managerin und Koproduzentin Lucille Rollins genehmigt und organisiert. Wer eine solche Prozedur also mit viel Geduld und noch besseren Gründen durchsteht, wird belohnt. Mit einem Interviewpartner, der vorbereitet ist und sich Zeit nimmt. Wenn man ihn bittet, spricht er von damals. Über Heroin. Über Selbstzerstörung. Über Charlie Parker und seine Mutter, die bei ihm war während des Entzugs. Über Werbespots, bei denen er mitmachte. Über Werbespots, die er ablehnte. Über das, was Ishmael Reed mit den »pat jubas« der Sklavenzeit vergleicht: jenes mediale Ausspielen von John Coltrane gegen Rollins, von Rollins gegen Coltrane. Motto: Nur einer kann der Sieger sein. »Wir wurden damals als die zornigen Young Tenors gelabelt – wir waren so etwas wie die Antwort auf Stan Getz und Birth of the Cool.« Rollins spricht auch über heute, über seinen permanenten Kampf, den Sound zu finden, der mehr sagt als Worte.

1958 öffneten Sie mit Ihrer »Freedom Suite« (mit Oscar Pettiford und Max Roach) das »Fenster für politisch motivierte Jazz-Platten«. Sie bezeichneten die 19minütige Suite selbst einst als »den ersten ausführlichen sozialen Kommentar im Jazz«. Wie denken Sie heute darüber?

Ich machte die »Freedom Suite«, die »Freedom Now-Suite« wurde später dann von Max Roach gemacht. Das war sehr wichtig, und ich denke, dass die Musik und die Thematik auch heute noch relevant sind. In der heutigen Gesellschaft bestehen immer noch die gleichen Probleme. Man muss immer noch gegen die Haltung gewisser Leute kämpfen. Man kann sagen, dass sich einiges verbessert hat, und genauso kann man sagen, dass die Dinge schlechter geworden sind, doch letztlich geht es um den permanenten Kampf, aus der Welt einen sichereren Ort für alle Menschen zu machen, und eben das versuche ich, daran glaube ich. Deshalb denke ich, dass die »Freedom Suite« auch heute noch genauso treffend ist wie damals, als sie entstand.

Max Roach sagt heute, dass die Kämpfe, die Sie in den fünfziger und sechziger Jahren für eine gerechtere Welt austrugen, nichts gebracht haben, zumindest für die schwarzen Amerikaner. Im Gegenteil, es habe sich alles zum Schlechteren gewendet. Die Schwarzen seien die großen Verlierer der so genannten Integrationspolitik. Roach plädiert heute für eine Rückkehr zur Segregation, zu einer Politik des Separatismus. Wie ist das für Sie? Gibt es positive Veränderungen, die Sie noch auf etwas anderes hoffen lassen?

Einige positive Dinge sind geschehen seit damals, seit der Segregation, aber es ist schwierig, sie genauer zu bestimmen, denn gleichzeitig ist auch eine Menge Negatives vorgefallen. Ich würde eher sagen, dass die wesentlichen Probleme weiter bestehen, sie werden nicht innerhalb von zehn oder 20 Jahren gelöst. Da muss man Geduld haben. Es bleibt zwar nicht alles beim Alten, doch die Existenz neuer Probleme macht es erforderlich, dass wir uns ihrer bewusst sind und sehen, dass wir in gewisser Weise auch mit ihnen verstrickt sind.

Wenn ich zu dieser Thematik befragt werde, verweise ich immer auf die Tatsache, dass wir in einer sehr gefährlichen Welt leben, in der es eine Menge ökologischer Probleme gibt. Das ist auch sehr wichtig. Man sollte sich, statt nur über Rassismus zu diskutieren, auch das bewusst machen. Wir befinden uns in einer Situation, in der jeder bedroht ist, also müssen wir versuchen, alle zusammen eine Lösung zu finden, und zwar als Planetarier und nicht als Deutsche, Amerikaner, Schwarze oder Weiße, Araber oder Juden. Wir müssen als Planetarier zusammenfinden und erkennen, dass diese Probleme relevant sind für die Spezies Mensch und alle miteinander zusammenhängen.

Ich möchte niemanden diskriminieren, sondern anderen gegenüber ein guter Bürger sein, und ich hoffe, dass man sich mir gegenüber ähnlich verhält. Es ist wichtig, dass man Leute nicht mehr nach rassistischen Kriterien trennt. Dafür ist es endgültig zu spät, wir müssen uns alle zusammentun und uns um eins kümmern, nämlich um die Erhaltung dieses Planeten. Wenn wir das jetzt nicht tun, wird in 20 oder 30 Jahren vielleicht niemand mehr dazu in der Lage sein, weil dann alles zerstört sein wird. Das ist also für sämtliche Gruppierungen relevant.

Was Jazzmusik anbetrifft, so beurteilen wir in dieser Community die Leute nach ihren Fähigkeiten; es handelt sich um eine Elite von guten Spielern, mit Hautfarbe hat das nichts zu tun. Wenn jemand gut spielt, wird er auch akzeptiert, deshalb ist der Jazz auch eine so wichtige musikalische Form, eben sehr demokratisch. Das ist ein gutes Prinzip, an dem sich die restliche Welt ein Beispiel nehmen sollte. 1929 wurde in Deutschland eine Oper geschrieben (Ernst Krenek: »Jonny spielt auf«, 1926), die zum Thema hat, inwieweit Jazz die Welt miteinander verbinden könnte. Ich glaube, sie wurde in Berlin uraufgeführt; zu jener Zeit könnte auch bereits Duke Ellington davon erfahren haben.

Die große Kraft des Jazz, Leute zusammenzubringen und Menschlichkeit in eine geteilte Welt zu bringen, ist also nichts Neues. Sie war schon immer da und ist immer noch sehr wichtig, denn es gibt nach wie vor Kräfte, die versuchen, Leute zu trennen, und genauso gibt es Kräfte, die versuchen, diesen Planeten zu zerstören, es hängt also irgendwie alles miteinander zusammen. Es macht einen zum Außenseiter, wenn man solche Dinge äußert, denn man wird dann beschuldigt, gegen das System zu sein. Ich bin aber inzwischen alt genug, für mich hat das keine Wichtigkeit mehr; außerdem bin ich nur ein Jazzmusiker, dem nicht so viel Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Niemand wird versuchen, mich für das, was ich sage, umzubringen. Ich habe ein Recht darauf, das, was ich denke, zu äußern.

Kann man mit Musik die Welt verändern?

Ja, man kann sicher mit bestimmten Titeln eine Wirkung erzielen, aber die Musiker sollten sich auch dessen bewusst sein, dass Jazz eine sehr fließende und kreative Musik ist und viel mit den sozialen Bedingungen überall in der Welt zu tun hat. So ist Jazz ja auch entstanden, er war ja eine Art von Protestmusik. Zwar hat Jazz auch Unterhaltungswert, die Leute hören ihn gern, doch es steckt viel Protest darin und das Anliegen, Dinge zu verbessern. Man kann zwar heutzutage in Form von Musikstücken und -titeln die Frage nach mehr Gerechtigkeit, Freiheit, Arbeit für alle etc. stellen, sollte aber vorsichtig damit sein, denn man wird schnell von einigen Leuten ausgegrenzt und als Verrückter bezeichnet, wenn man die eigene Position so geradeheraus und direkt präsentiert.

Was ich jetzt vielmehr versuche, ist, mit meiner Musik eine Message zu formulieren, ohne die Dinge konkret beim Namen zu nennen. Wenn man das nämlich tut, wird man von den Medien zu schnell kategorisiert und dafür kritisiert. Das beste ist also, einfach nur Musik zu machen. Natürlich sollten die Musiker sich dessen bewusst sein, und ich denke, viele sind es auch, doch die meisten denken nicht, dass sie viel verändern können. Einige denken natürlich auch nur an ihre nächste CD-Veröffentlichung und einen dicken Vertrag, doch sie sollten sich bewusst sein, dass Jazz eine Musik mit einer Vision sein muss, die eine Existenzberechtigung hat und vielleicht auch auf einige Umstände, mit denen wir auf dieser Welt konfrontiert sind, Einfluss nehmen kann.

Mit welchem Druck müssen Jazzmusiker rechnen, wenn sie sich als Künstler politisch engagieren?

Jazz ist eine Subkultur. Die Leute, die die Musikindustrie kontrollieren, kümmern sich nicht so sehr um Jazz. Der Jazzmarkt ist wahrscheinlich mit dem Klassikmarkt vergleichbar, es wird nur wenig Geld damit gemacht. Also kümmert man sich auch nicht so sehr um die einzelnen Künstler; Jazz erreicht einfach zu wenige Leute, so denken zumindest die Leute aus der Musikindustrie darüber. Ich fühle mich von ihnen nicht unter Druck gesetzt, es ist einfach so, dass sie etwas vernachlässigen, das nicht genug Geld einbringt.

Erst kürzlich fragte mich ein Freund, warum Jazz nicht stärker in große Projekte wie die Bekämpfung des weltweiten Hungers involviert sei, woraufhin ich ihm erklärte, dass der Jazz sich glücklich schätzen würde, etwas Derartiges zu tun, dass nur Jazzmusiker leider nie gefragt würden, weil Jazz eben nur ein sehr kleiner Teil der Musikindustrie ist. Die Verantwortlichen für solche Projekte wissen oft kaum etwas über Jazz. Als ich »Times Slimes« (auf »Old Flames«) machte, womit ich gegen die Art der New York Times, der größten Zeitung der Vereinigten Staaten, protestierte, gesellschaftliche Probleme zu behandeln, um dadurch die Wahrnehmung der Bürger zu manipulieren, war das noch ein anderer Ansatz.

Inzwischen habe ich meine Methode geändert, ich benutze keine Titel mehr, sondern versuche, mehr durch die Musik auszudrücken, ohne große Worte darüber zu verlieren. Ich denke, man erreicht mehr mit der Musik selbst, als z.B. eine Massenbewegung aller Jazzmusiker zu organisieren, die dann Stücke wie »Freedom Suite« oder »Times Slimes« präsentieren würde. Meiner Meinung nach ist das nicht erforderlich, man sollte in der heutigen Zeit alles in der Musik selbst unterbringen. Zumindest versuche ich es auf diese Weise, ich kann natürlich nicht für andere sprechen. Ich versuche, meine Position Teil der Musik werden zu lassen, so erreiche ich bestimmt mehr Leute, als wenn ich versuchen würde, zu ihnen sprechen.

Die Leute mit Worten zu erreichen, ist ohnehin sehr schwer. In Amerika und sicher auch in anderen Teilen der Welt wird man sehr schnell belächelt, für verrückt erklärt und kategorisiert, wenn man zu viel über bestimmte Dinge wie etwa Rassismus zu den Leuten spricht. Ich bemühe mich stattdessen, solche Gedanken in meiner Musik zu formulieren; ich denke auch, das ist das Einzige, was wir tun können, schließlich bin ich Musiker. Genauso wie ich solche Gedanken mit meiner Musik zum Ausdruck bringe, sollten auch andere Musiker versuchen, ihre Erkenntnisse musikalisch zu vermitteln; ich glaube, dann hätte die Musik viel mehr Kraft, etwas zu bewirken.

Im Moment sind zu viele Musiker ausschließlich um ihren guten Namen, einen Plattenvertrag etc. bemüht. Diese Haltung hat jedoch keine Zukunft, wenn der Protest fehlt. Man kann nicht nur ans Geldverdienen denken, das ist zumindest meine Meinung dazu. Ich brauche mich heute nicht mehr damit auseinanderzusetzen, dass ich als Rebell und Irrläufer verschrien werde, nur weil ich mich in die Tradition des Jazz als Protestmusik stelle. Aber ich weiß um diese Erfahrung. Ich habe sie gemacht. Und das hat sich – zumindest in den Staaten – nicht verändert.

Was verbinden Sie mit dem Terminus »Jazz Business«?

Ich denke vor allem nicht, dass Jazzmusiker kein Geld verdienen und stattdessen leiden, keine Jobs bekommen und in irgendwelchen Löchern hausen sollten. Ich meine jedoch, dass sich Musiker über bestimmte Dinge bewusst werden sollten, eben über alles, was so vor sich geht. Das hat jetzt nichts damit zu tun, eine CD zu machen, sondern vielmehr sollte ein Bewusstsein dafür vorhanden sein, was um einen herum passiert, und eine Methode gefunden werden, es in die Musik zu integrieren.

Wie man es macht, muss jeder selbst herausfinden, das hängt von den Individuen ab. Musik ist breit gefächert, es gibt da viele Möglichkeiten; wichtig ist eben vor allem, zunächst ein Bewusstsein für alles, was in der Welt so vor sich geht, zu schaffen. Auf diese Weise könnte Jazz zu einer musikalischen Kraft werden, die weltweit wirkt, und nicht nur eine Musik sein, die man bei Champagner und Cocktails hört.

Wie ist Ihre Erfahrung mit jungen Musikern?

Ich denke, dass einige von den jungen Musikern wirklich gut sind, Leute wie Kenny Garrett, James Carter, Roy Hargrove. Sie sind eigentlich genauso wie die Leute, mit denen ich damals anfing, nur gibt es einen großen Unterschied: In den vierziger und fünfziger Jahren gab es wesentlich mehr Musiker, einfach größere Bands, wie die Basie Band, Ellington, dann gab es Erroll Garner, Billie Holiday, Charlie Parker, Dizzy Gillespie und Billy Eckstine – eben viele unterschiedliche Gruppen von Leuten. Diese Aktivität im Musikbusiness gibt es heute nicht mehr. Dennoch würde ich sagen, dass die heutigen Musiker sich auf einem ähnlich hohen Niveau befinden, und wir arbeiten natürlich daran, es weiter zu entwickeln.

Seit über 30 Jahren veröffentlichen Sie auf dem Milestone/Fantasy-Label. Warum?

Es gibt keinen bestimmten Grund, warum ich zu ihnen ging. Der ursprüngliche Gedanke war nur, vom Kommerzialismus der meisten Plattenfirmen wegzukommen, die versuchen, einen zu steuern, indem sie einen nur eine bestimmte Art von Musik machen lassen. Das ist sehr verbreitet bei diesen Firmen; manchmal geben sie einem zwar einen großen Betrag, doch dann wollen sie, dass man genau das macht, was ihre Künstler machen, und versuchen, einen auf diese Weise zu lenken.

Bei Fantasy ließen sie mir freie Hand, und ich machte das, was ich machen wollte. Man hat hier zwar nicht ein so großes Budget, wie man es bei einer Firma wie Columbia haben würde, aber mein Standpunkt ist sowieso, dass zuviel Rummel falsch ist. Jazz hat damit nichts zu tun, er ist etwas Beständiges und eben gerade keine Popmusik. Also hat er auch keine Künstler nötig, die jede Woche neue Hits produzieren und in den Top Ten vertreten sind. Jazz sollte gleichbleibenden Wert besitzen, deshalb ist es auch nicht wichtig, einen Vertrag mit einer dieser großen Plattenfirmen zu haben, die von einem erwarten, dass man genau die Musik macht, die sie wollen. Meine Erfahrung mit Fantasy war die, dass sie mich mit einem Minimum von Einmischung ihrerseits meine Sache machen ließen.

Wenn Sie Songs aus der Geschichte des Jazz spielen, ist das Ihre Art, Respekt für die Tradition zu zeigen?

Das ist mir immer wichtig gewesen. Aus diesem Grunde habe ich auch »H.S.« geschrieben, eine Komposition, die ich Horace Silver gewidmet habe. Es ist keine direkte Kopie, aber für mich so etwas wie eine Erinnerung an das, was Horace Silver vor Jahren gemacht hat. Ich wollte einen Song über ihn schreiben, weil ich denke, dass er von Anfang an einer der tapfersten Kämpfer im Musikbusiness gewesen ist. Dafür wollte ich ihn würdigen.

Ein anderer Song, »Cabin In The Sky«, ist eine Ballade, die ich hörte, als ich als junger Mann ins Kino ging und Duke Ellington sah. Er machte in einem Film mit, der »Cabin In The Sky« hieß; ich weiß nicht, wie viele Leute ihn damals in Deutschland gesehen haben. Jedenfalls gab es viele tolle Künstler darin, u. a. Ethel Waters und Louis Armstrong. Die Musik kam von Duke. Es war wirklich eine sehr eindrucksvolle Vorführung für die Zeit, als es nicht viel schwarzen Jazz im Film gab, das muss etwa 1941 gewesen sein. Ich war elf Jahre alt, als ich den Film sah, und für mich war es sehr wichtig, die Musik zu hören und diese Bilder auf einer großen Leinwand zu sehen. Dieser Song war das Titelstück des Films, gesungen von Ethel Waters, und er war einer der Lieblingssongs meiner Kindheit, den ich auch von Zeit zu Zeit spielte.

Ich mochte »What A Difference A Day Makes« schon immer, insbesondere die Interpretation von Dinah Washington, einer meiner Sängerinnen. Ich habe immer noch ihren Gesang im Ohr, der einen großen Eindruck auf mich machte. Als Instrumentalist höre ich auch eine Menge Vokalmusik, und dieses ist ein Stück, das mir immer in Erinnerung geblieben ist. Ich wählte diesen Song aus, weil ich meine Musik mit ihm in Beziehung setzen und dieses Stück als Jazzvehikel einbringen wollte.

Auch den Sänger Nat King Cole habe ich in meinen Entwicklungsjahren viel gehört. Ich mag seine Arbeit sehr, und manchmal ertappte ich mich beim Spielen meiner unbegleiteten Soli dabei, dass ich einfach ein paar Noten von »Mona Lisa« spielte. Also dachte ich, dass es eine gute Gelegenheit sei, mal das ganze Stück zu spielen. Nat King Cole war jemand, der mich inspirierte, mich mit diesem Song näher zu befassen. Als kleiner Junge bin ich mindestens einmal in der Woche ins Kino gegangen. Es gab ja noch kein Fernsehen damals. Und einige Melodien der Songs aus den alten Filmen haben mich mein Leben lang verfolgt, deshalb spiele ich sie. Nicht um sie endgültig loszuwerden, sondern um sie zu bewahren. Sie haben lyrische Qualitäten, die man in den heutigen Kompositionen nicht mehr findet.

Im Black-Culture-Diskurs dieser Tage ist viel von Bestandssicherung des kulturellen Erbes die Rede.

Was meinen sie mit kulturellem Erbe? Da müssen sie präziser fragen.

Im positiven Sinne würde ich darunter verstehen, etwas so zu erhalten, damit es den nachfolgenden Generationen verfügbar bleibt. Auf eine kurze Formel gebracht: konservieren für das kollektive Gedächtnis. Ist das auch Ihre Intention, wenn Sie heute die Songs Ihrer Kindheit interpretieren?

Natürlich spielt das eine Rolle. Die erste Platte, die ich als Bandleader machte, oder überhaupt meine erste Platte – das ist so lange her, dass ich mich gar nicht mehr genau erinnern kann – enthält ein Spiritual, das war ungefähr 1950, vielleicht war es sogar ein ganzes Album. Auf meinem ersten eigenen Album ist also bereits ein Negro Spiritual zu finden, womit ich nur sagen möchte: Man muss sich immer der Tradition bewusst sein, in die man sich stellt – eigentlich braucht man darüber auch gar nicht zu diskutieren, die Musik sagt schon alles. Es ist schwarze Musik, was jedoch nicht heißt, dass Weiße sie nicht spielen können, es ist schließlich globale Musik. Genauso verhält es sich, wenn man Chopin spielt. Wer sagt, dass ihn kein Schwarzer spielen kann, der führt Schlechtes im Schilde. Es handelt sich bei Chopin einfach um großartige Musik.

Jazz ist natürlich eine sehr schwarze Musik, und das ist auch eines der Probleme dabei: Viele Leute wollen ihn aus eben diesem Grund einfach nicht respektieren. Wenn man ehrlich ist, muss man jedoch zugeben, dass es sich hier um eine ganz besondere Musikform handelt, die sich grundlegend den Rhythmen verdankt. Natürlich ist auch die Melodie wichtig, jedoch sind es vor allem die Rhythmen, die Jazz von anderen Musikformen unterscheiden. Was zählt, sind die Beats, die Drums; ich glaube, davon sprach auch Ishmael Reed. Das ist eine Tatsache, die man berücksichtigen sollte.

Welche Musik hören Sie heute?

Ich höre heute eigentlich nicht so viel Musik; ich habe einfach nicht die Zeit, da ich so voll von meiner eigenen Musik bin, dass es mir unmöglich ist, mich hinzusetzen und andere Musik zu hören, geschweige denn zu genießen. Ich versuche, das, was mir so einfällt, zusammenzusetzen; eine bestimmte Richtung von Musik, die ich hauptsächlich höre, gibt es nicht. Manchmal höre ich zwar etwas, auch im Radio, doch ich setze mich nicht weiter damit auseinander. Vielmehr versuche ich, mit dem zu arbeiten, was ich bereits im Kopf habe.

Welche Projekte wollen Sie unbedingt realisieren?

Besondere Projekte habe ich zurzeit nicht; ich versuche nur, wie schon gesagt, meine Musik noch kraftvoller werden zu lassen, indem ich sie mehr durchdenke. Ich versuche das, was ich zu sagen habe, durch die Musik auszudrücken, nicht durch Dialog, indem ich den Leuten etwas erzähle, und auch nicht mit Songtiteln, das ist nicht meine Intention. Mir kommt es vor allem auf den instrumentalen Aspekt an, mit Worten habe ich nichts zu tun. Die kann man später immer noch hinzufügen.

Ich bin Instrumentalmusiker, deshalb arbeite ich auch mehr daran, eine starke instrumentale Message zu entwerfen. Das ist es, worum ich mich vor allem kümmere und wofür ich mich engagiere; bestimmte Pläne, mit anderen Leuten etwas zu machen oder etwas aufzunehmen, gibt es nicht. So was ist inzwischen unwesentlich für mich, mir kommt es ausschließlich darauf an, meine Musik noch kraftvoller werden zu lassen und mehr mit ihr auszudrücken.

In Ihren frühen Musikerjahren lebten Sie in Sugar Hill in Harlem, New York. Schildern Sie doch bitte, wie das damals war – für jene Menschen, die sich unter Sugar Hill gar nichts mehr vorstellen können.

Es handelte sich um eine Community, die sich in Folge der damaligen Segregationsgesetze in den Vereinigten Staaten bildete. Viele prominente Schwarze lebten in ihr. Ich wurde in Lower Harlem geboren, und Sugar Hill war im so genannten Upper Harlem.

Später war es meiner Familie dann möglich, nach Sugar Hill zu ziehen, wo es eben diese florierende schwarze Community gab, das heißt, dort lebten wesentlich mehr bekannte Schwarze aus allen möglichen Bereichen. Künstler, Richter, Anwälte, Leute wie W.E.B. Du Bois oder Thurgood Marshall, ein ehemaliger Supreme-Court-Richter der Vereinigten Staaten – alle diese Leute lebten zu der Zeit in derselben Gegend, eben in Sugar Hill. Auch bekannte Ärzte und natürlich all die großartigen Musiker: Don Redman, Coleman und Erskine Hawkins, Andy Kirk und Sid Catlett, Jackie McLean, Duke Ellington lebte direkt um die Ecke, Jimmy Rushing lebte direkt bei uns im Block, dann Lester Young etc. Alle Prominenten der Jazz Community wohnten dort. Es war zwar eine segregierte, aber gleichzeitig eine sehr lebendige und fruchtbare Gegend, wenn man dort wohnte. Die Community hatte auf die jungen Leute, die dort lebten, einen sehr positiven Effekt, denn wir hatten Gelegenheit, unsere Idole in natura zu sehen, wodurch wir inspiriert wurden, auch selbst ins Musikbusiness einzusteigen.

Was wurde daraus?

Das Leben in der Community hatte Vor- und Nachteile. Alles vibrierte dort, weil alles Mögliche aufeinander traf. Mit dem Leben in einer Community verhält es sich so: Insbesondere die Vereinigten Staaten sind ein Land, das nicht an Tradition glaubt, sowohl alte Häuser als auch die Metropolitan Opera werden abgerissen, wie auch andere alte Institutionen, z. B. das Yankee Stadium – alles Orte, die eine lange Geschichte haben. Die Vereinigten Staaten haben die Tendenz, alles ganz neu machen zu wollen und darüber die Geschichte zu vergessen. »Es gibt keine Geschichte, wir schaffen alles ganz neu.« Das ist der Unterschied zu vielen Orten in Europa, so hoffe ich zumindest. In Europa versucht man, alte kulturelle Wahrzeichen zu erhalten, und hoffentlich ändert sich das auch nicht. Ich war nicht oft genug dort, um das beurteilen zu können.

Sobald sozialere Gesetze geschaffen wurden, begann die Gegend sich zu verschlechtern. Möglicherweise war diese Entwicklung sogar geplant, darüber weiß ich jedoch zu wenig. Gleichzeitig bot sich den Bewohnern natürlich die Möglichkeit, diese Gegend zu verlassen und woandershin zu ziehen. Harlem zerstreute sich; es begann eine Art Zerfall, als alle Prominenten in Gegenden wie Long Island und dahin zogen, wohin es ihnen zu ziehen erlaubt war. Das hatte auch sein Gutes, denn die Leute bekamen mehr Wohnraum. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg wollte man größere Häuser, außerdem konnte man aufs Land ziehen. Die Kehrseite war nur, dass diese lebendige vibrierende Community zerstört wurde.

Stattdessen zogen dorthin Leute, die keinen Sinn für die kulturelle Bedeutung dieses speziellen Stadtteils hatten, sodass bald darauf die Kriminalität wuchs. Das scheint in den Staaten fast eine natürliche Entwicklung zu sein; ich weiß nicht, ob das auch für andere Teile der Welt gilt, ob es möglicherweise ein notwendiger Teil der industrialisierten Welt ist. Ich weiß nur, dass es an vielen Orten in Amerika so geschah, z.B. auch im Distrikt Downtown von Detroit. Dort gab es mal eine tolle schwarze Community, doch wenn man heute dort durchgeht, denkt man, man hat zerbombte Baracken aus dem Zweiten Weltkrieg vor sich. Es bleibt den Historikern überlassen zu entscheiden, ob das eine gute Sache ist oder nicht. Diese Entwicklung hatte also einige positive Aspekte, aber leider auch viele bedauerliche, nämlich den Verlust einer Community, die die Tradition hätte bewahren können.

Als Sie sich damals den Irokesenhaarschnitt zulegten, war das Image, Provokation oder beides?

Das war mehr ein Image für die Eingeborenen Amerikas, und für mich eher ein individuelles Ding als ein Jazz-Image. Zu der Zeit sah ich mich nicht als Repräsentanten der Jazz Community, ich war einfach nur ein Jazzmusiker. Ich dachte folglich nicht, dass es als Statement gewertet werden würde. Innerhalb der Community war es bloß ein persönliches Ding.

Wie wichtig ist das Image für einen Jazzmusiker?

Das sollte individuell gehandhabt werden, da sollte man von außen nichts auferlegt bekommen. Klar, als ich bekannt wurde, trugen viele Musiker diese großen Brillen und ein Barett wie Dizzy Gillespie. Das war eine Art Uniform für die Bebop-Periode. Das sind Dinge, mit denen sich eine Gruppe von anderen abhebt und die auch ein Zeichen für Solidarität in einem bestimmten Moment sein können, doch ich denke nicht, dass so etwas große Wichtigkeit besitzt.

Nehmen wir meinen Freund Thelonious Monk. Er trug diese chinesischen Hüte. Meiner Meinung nach sollte damit eher eine bestimmte Verbundenheit aller Menschen ausgedrückt werden, als etwas besonders Exzentrisches darzustellen, wie es häufig in der Presse und in Filmen benutzt wird.

Wenn heutzutage ein Musiker etwas Besonderes tragen möchte, ist das jedoch okay. Es geht eigentlich niemanden etwas an, außer ihm selbst.

Als Sie den Gitarristen Jim Hall in Ihre Band holten, warf man Ihnen Rassismus vor, weil Sie einen Weißen beschäftigten. Wie erinnern Sie diese Zeit?

Ja, da gab es Probleme. Es gab Leute, die dagegen ankämpften und es für schlecht befanden. Für mich war es zu jener Zeit – also um 1960 – eine positive Entwicklung, da es einen Versuch darstellte, Solidarität zu zeigen. Außerdem war ich ja nicht der erste, der so was tat; Charlie Parker hatte auch weiße Musiker in seiner Band, genauso wie andere Leute aus der Bebop-Ära. Dizzy Gillespie hatte in seiner Band Al Haig am Piano, so war es für mich eigentlich nichts Besonderes, und es sollte auch nicht viel Aufhebens darum gemacht werden.

Ich kann mir jedoch vorstellen, warum es gerade in schwarzen Kreisen soviel Unmut erregte; schließlich war ich derjenige, der die »Freedom Suite« geschrieben hatte, da muss ihnen eine solche Handlung wie ein Betrug vorgekommen sein. Ich denke, das war es, was die ganze Kritik an dieser Entwicklung ausgelöst hat. Ja, dafür habe ich wirklich Kritik geerntet.

Was bedeutet Ihnen Erfolg?

Es ist für mich völlig ohne Bedeutung, ob ich erfolgreich bin oder nicht.

Sie verlangen bis 70 000 Dollar für ein Konzert. Das rechnet sich für viele Veranstalter nur mit Sponsoren. Warum sind Sie so teuer?

Ich bin ein bescheidener, unkäuflicher Mensch. Ich bin weder Millionär, noch versuche ich, einer zu werden. Der Preis mag sehr hoch sein, aber dafür kann man mich doch nicht verantwortlich machen. Für diesen ökonomischen Aspekt dürften die Politiker die besseren Ansprechpartner sein: Sie sind es, die die Preise hoch oder niedrig halten.

Sie bestimmen selbst über Ihr Output?

Die Leute kommen andauernd mit irgendwelchen Angeboten oder Engagements an, die unter meiner Würde sind und die ich dann ablehne. Daher sind viele der Meinung, ich sei zu smart. Ich lebe ein sehr bescheidenes Leben und bin nicht darauf aus, das große Geld zu machen, deswegen muss ich den Clubbesitzern, den Labelbossen und den Medien nicht hinterherrennen. Meinetwegen können sie zur Hölle fahren! Dafür kann ich aber tun, was ich will.

Was liegt denn unter der Würde von Sonny Rollins?

Wenn mir jemand einen Vertrag andrehen will, in dem festgelegt ist, dass ich mit Musikern spielen soll, die meinen Erwartungen nicht standhalten können, dann sage ich einfach Nein. Ich bin mit Leuten wie Miles Davis, John Coltrane und Thelonious Monk groß geworden. Ich sehe nicht ein, weshalb ich mich für ein Festival buchen lassen sollte, bei dem Musiker wie Michael Brecker als große Stars angekündigt werden, Wayne Shorter und ich aber nur die zweite Reihe stellen. Das hat rein politische Gründe.

Sie meinen Rassismus?

Rassismus ist überall. Rassismus ist ein Problem gesellschaftlicher Natur. Im Musikbusiness wird lediglich die Gesellschaft reflektiert.

Benny Goodman war der King of Swing, und er war weiß.

Genau, das ist es. Musikbusiness und Sozialpolitik, diese Kombination. Ihr Schwarzen seid Untertanen.

Die gesellschaftliche Integration der afroamerikanischen Community ist in den letzten Jahren praktisch zu einem konservativen Wert geworden. Entweder sieht man die Sache als erledigt an, oder, wie die »neuen« Segregationisten, als gescheitert.

Nur weil eine Idee vielleicht noch nicht so weit ist, akzeptiert zu werden, heißt das nicht, dass sie nicht gut ist. Das ist das gleiche Phänomen wie bei der Demokratie. Die Idee damals in der Community war gut, aber es bestanden keine guten Aussichten auf Erfolg, denn den Leuten aus den Communities wurde der Zugang zu der »besseren Welt« verwehrt. Die Ghettos wurden zerstört, und die meisten blieben ohne irgendetwas zurück.

Ihre CD »Global Warming« knüpfte an die Taktik des sozialen Kommentars an, den Sie 1958 mit Ihrer »Freedom Suite« in den Jazz einführten.

Jazz steht für mich in der Tradition der Protestmusik. »Global Warming« spiegelt meinen Bezug zur bevorstehenden Umweltkatastrophe wider, der die Welt entgegenblickt. Diese CD war wie die »Freedom Suite« vor 40 Jahren mein Beitrag dazu, dass Jazz zu mehr taugt, als die Backgroundmusik für eine Cocktailparty zu sein. Für meine CD »This Is What I Do« habe ich den Titel »Salvador« komponiert. Salvador ist die Hauptstadt Bahias, jener Region Brasiliens, wo einst viele Sklaven lebten und die afrikanische Tradition bis heute bewahrt wurde. In den USA ist aus der kulturellen Erfahrung der ehemaligen Sklaven der Jazz entstanden, in Bahia kann man heute noch spüren, was dem vorausging.

Die Rhythmen?

Die Rhythmen spielen eine Hauptrolle in diesem Stück, wie in unserer Musik überhaupt.

Was würden Sie als die Hauptzutaten des Jazz bezeichnen?

Das wichtigste Element im Jazz ist die spontane Kreation von Sounds. Auch bei geschriebener Musik gilt: Setz dich an dein Instrument und spiel es. Die »kreative Improvisation« ist es, auf die es ankommt, und das wird vermutlich auch so bleiben.

Wie wichtig ist die visuelle Bühnenpräsenz für Sie?

Ich habe immer darauf geachtet, dass meine Band das Publikum respektiert – das heißt, nicht in zerrissenen T-Shirts oder abgewetzten Schuhen aufzutreten. Auch ein solcher Auftritt könnte ein Statement sein, aber das ist nicht mein Stil. Ich arbeite bis heute daran, einen Sound und ein Konzept zu finden, um alle Momente des Protestes, die man vielleicht auch visuell oder durch Sprache artikulieren könnte, allein durch die Musik auszudrücken. Würde das gelingen, wäre die Wirkung wohl subtiler und nachhaltiger.

Noch einmal: Glauben Sie, dass Musik die Gesellschaft verändern kann?

Sie hat auf jeden Fall mein Leben verändert. Und das gilt wahrscheinlich auch für einige andere. Ich weiß nicht, was ich wirklich von Platten wie »Global Warming« und »Freedom Suite« erwarte, vielleicht ist es einfach nur meine Art, mich auszudrücken. Ich nutzte die Chance, die mir als Künstler gegeben ist: mich zu äußern und vielleicht sogar Gehör zu finden. Manch einer denkt vielleicht: Warum halten die sich nicht aus sozialen Fragen raus und befassen sich stattdessen lieber ausschließlich mit der Musik? So etwas höre ich andauernd. Die Leute wollen nicht, dass man seinen Horizont dahingehend erweitert. Wir sollen nur schön unsere Instrumente spielen und das tun, was man von Musikern erwartet.

Welche Rolle spielen die Medien in diesem Kontext?

Es ist heutzutage sehr schwierig, dass Botschaften die Medien erreichen. Die Medien werden von den gleichen Leuten dominiert, die verantwortlich für die Probleme in unserer Welt sind. Wir bekommen also nichts aus den Medien heraus. Demnach liegt es an jedem selbst, Verantwortung für sich zu übernehmen und sich um seine Informationen zu kümmern.

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Christian Broecking: Respekt! Verbrecher Verlag, Berlin 2004. 144 S., 13 Euro. Am 19. April erscheint bei Impulse!/Universal die zum Buch passende CD »Various Artists – Respekt!« mit Stücken von Billie Holiday, John Coltrane, Max Roach, Art Blakey, Charles Mingus u.v.a.