50 Jahre Rock’n’Elend

Ein halbes Jahrhundert Jugendkultur kann man feiern. Man kann damit aber auch nichts zu tun haben wollen. So wie joachim lottmann

Der väterliche Freund Roger Thiede war 49 Jahre alt, als er mir flüsternd gestand, nie eine Schallplatte gekauft zu haben. Ich war verblüfft. Er war damals alt, ich jung, und er hatte in meinen Augen genau das Alter, um 1954 jung gewesen zu sein. Er kam aus gutem Hause. Er war Hamburger. Er kannte Elvis bestimmt nicht nur aus der UFA-Wochenschau. Sicher war er nach Bremerhaven gefahren, im Firmen-Borgward, um ihn zu begrüßen. Doch er flüsterte: »Ich habe mich stets geweigert, über diesen Quatsch informiert zu sein. Ich war immer stolz darauf, nicht zu wissen, wie diese Musikgruppen heißen. Ich weiß es noch heute nicht.« Ich schrie ihn fast an: »Du weißt nicht, wer die Rolling Stones waren und so weiter?!« Er schüttelte störrisch den Kopf. Dies hätte für ihn keine Bedeutung. Er habe immer gern gelesen, habe Hölderlin kommentiert, Lacan entdeckt und Jutta Koether verehrt. Er liebe Wagner, er habe Stockhausen noch persönlich gekannt. Ich wusste, dass er nicht übertrieb. Er war damals Feuilletonchef und mein Vorgesetzter. Er kannte sich auch auf meinen Gebieten besser aus als ich selbst: neue amerikanische Literatur, spanische Lyrik, Kunst, Bret Easton Ellis, Baselitz, Architektur, Theater, Modern Jazz und so weiter und so fort. Er kannte einfach alles, was neu und Avantgarde war; aber diese kleinen Liedchen auf Schallplatte – niemals. Er hatte irgendeine Technik entwickelt, Teeniemusik schlicht nicht wahrzunehmen. Sicher war es eine innere Gedankenübung, ein selbst eingesetztes Lösch-Mantra, das ihn sogar in den neunziger Jahren noch davor bewahrte, die ersten Boy Groups wahrzunehmen oder die Abscheulichkeiten von Madonna. Ich bin mir fast sicher: Würde ihn heute einer fragen, von wem der aktuelle Chart-Titel »Toxic« vorgetragen wird, müsste Roger Thiede passen. Bis heute haben seine Kinder MTV-Verbot und leben liebevoll bei ihm (sie sind 34 und 36 Jahre alt). Würde man ihn fragen, warum er mit 16 nicht James Dean verehrte und Bill Haley hörte, vor nun einem halben Jahrhundert, würde er nur den Kopf schütteln: So unreif war er eben nie.

Ich auch nicht. Oder doch – mit acht Jahren! Als kleiner Junge war ich in einer Bande, und das ist auch das passende Alter dafür. Wir überfielen andere kleine Achtjährige und quälten sie. Sie gehörten nämlich einer feindlichen Bande an, die wiederum uns quälte. Ja ja, es war auch nicht besser als in der »West Side Story«, bis auf eines: Im Gegensatz zu den Erwachsenen dort, die sich gegenseitig überfielen und quälten, wussten wir Kinder sehr wohl, dass wir nur spielten und unser Tun nichts als mittelschwerer Blödsinn war. James Dean und seine Homies in »Rebel Without a Cause« wussten das nicht. Bis heute wissen die Protagonisten der Jugendkultur nicht, wie kindisch ihre in die reale Welt übertragenen Schulhofkämpfe sind. Auch Eminem stirbt in »8 Mile« fast den Tod for nothing, einfach, weil er sich weigert, seinen Kaugummi aus dem Mund zu nehmen. In »Honey«, dem »Flash dance goes hiphop«-Flop-Movie von kürzlich, geht es ebenfalls um Ehre und Gewalt. Von Anfang an ging es in der Jugendkultur immer und immer nur und gänzlich sinnentleert um Ehre und Gewalt, wie übrigens auch bei unseren Freunden, den Arabern. Man muss dem Bin Laden ja fast dankbar sein, dass er in die ewigen Blutkreisläufe von Familienehre und Stammesrache noch andere Motive eingeführt hat. Bevor ich jetzt politisch werde oder Missverständnisse verursache, beschränke ich mich auf den Satz: Jugendkultur war und ist seit 50 Jahren vorzivilisatorisch. Und damit der größte Rückschritt der Menschheitsgeschichte seit dem Ende der Antike.

Aber wir wollen nicht undifferenziert sein. Gab es vielleicht innerhalb der endlosen Fehlentwicklung »Rockgeschichte« bessere und schlechtere Phasen? War Jimi Hendrix weniger blöd als Buddy Holly, Babylon Zoo anregender als die Puhdys? Ton, Steine, Scherben gehaltvoller als Nena, und die gehaltvoller als Wir sind Helden? Und vor allem: überragte Jochen Distelmeyer nicht sie alle? (Ja, aber das war auch kein Rock.) Und muss man nicht das Jahrmarkts-Geschrammel namens Rock’n’Roll strikt abtrennen von allem, was ein Jahrzehnt später dank der Beatles als Popmusik bekannt wurde?

Das sind Fragen, die natürlich nur der dazu vom Kultusminister berufene Diedrich Diederichsen beantworten kann. Musikalisch ist es eine Soße, von Peter Kraus bis Judith Holofernes. Aber inhaltlich ist die Trennung umso schärfer, ja tödlich. Ich selbst habe als Kind alle verachtet, die eine Band vor den Beatles gekannt hatten (und sich nicht scheuten, derlei auf schlechten Hochzeiten als Stimmungsmusik einzusetzen). Aber sogar innerhalb der vergleichsweise guten Phasen der Popmusik überwog natürlich der Schund, und auf ein Goldkorn kam viel Sand ins Getriebe. Das begann mit den Rolling Stones, die ihren Cheftheoretiker im Pool ertränkten und danach 35 Jahre lang denselben Akkord spielten. Ein Star nach dem anderen ging den ewigen Weg des Elvis, und das ist der Weg vom Elvis-the-Pelvis-Exhibitionisten zum »White Chapel«-Schnulzensänger. Der Weg vom halbkriminellen »Siebzehn Jahr, blondes Haar«-Mädchenficker zum gereatrischen »Aber bitte mit Sahne«-Dudelsack. Wir wissen, dass es so läuft – warum sich dafür noch erwärmen? Fan werden? Die CD kaufen? Wissen wir nicht längst, was für ein gottverlassenes Schlampenleben auf Christina Aguilera in zehn Jahren wartet, wenn sie auf Aids-Benefizveranstaltungen alten Whitney-Houston-Lärmbrei »sexy« aufbereitet und ansonsten nichts mehr zu sagen hat? Da werfe ich die CD doch lieber jetzt schon in den Ofen, um mich später an nichts mehr erinnern zu müssen. Und bewundere meinen väterlichen Freund Roger Thiede, der schon heute völlig zu Recht fragt: »Christina – who?«