Metamorphosen der Aneignung

Ob Ladendiebstahl, Herunterladen von CDs aus dem Internet, Hausbesetzungen oder Plagiate: Strategien der Aneignung gibt es viele. Aber sind sie auch revolutionär?

Take this

Das am meisten geklaute Buch Großbritanniens soll »Trainspotting« von Irvine Welsh sein. Ist das für einen Autor nicht eine einzigartige Auszeichnung, viel besser als Platz eins in der Bestsellerliste des Spiegel? Ihm geht dadurch noch nicht mal etwas verloren, geklaut wird schließlich in der Buchhandlung.

»Steal This Album« heißt eine CD von System of a Down, gegen die an und für sich nichts einzuwenden ist. Der Titel, der den Verkaufszahlen sicher nicht geschadet hat, deutet allerdings darauf hin, dass die Band mit ihrem politischen Anspruch wohl nichts dagegen hätte, zu ähnlichen Ehren zu kommen wie Welsh. Aber wer brächte es über sich, eine CD zu klauen, die genauso heißt?

Winona Ryder, die Schauspielerin, und Petra Sitte, die PDS-Politikerin, gerieten in die Schlagzeilen, weil sie beim Klauen erwischt wurden. Die eine mopste Sachen im Wert von 5 000 Dollar in einer Edelboutique in Beverly Hills, die andere bloß einen Lippenstift für zehn Mark. Dennoch dürften sich beide zumindest in manchen Kreisen wachsender Sympathien erfreut haben.

Wer heutzutage klauen geht, tut das meist für sich. Es wird ja auch immer komplizierter, mit all den Magnetstreifen und Plastikdingern. Und erwischt wird man schließlich auch allein. Wer nicht erwischt wird, kann stolz die Beute zeigen, sich freuen und die anderen ganz schön neidisch machen. Je größer und teurer, desto besser. Hier zeigt sich der Wettbewerb von seiner anderen Seite. Beschaffungsklau, »Banken machen«, »organisieren gehen« für die WG oder die Clique ist out, ungefähr so wie offensive Arbeitsverweigerung und das Trampen.

Klauen ist so etwas wie Mundraub: Aus Hunger oder aus Appetit nimmt man sich, was einem nicht gehört. Das Oberlandesgericht Hamm urteilte im vergangenen November, dass auch der Diebstahl von 43 Schokotafeln als Mundraub zu gelten habe. Jedes größere Geschäft geht davon aus, dass mal etwas abhanden kommt und rechnet das in die Preise mit ein. Blieben die Diebe plötzlich aus, so würden der Unternehmer oder seine Versicherung mehr Gewinn einstreichen als vorgesehen. Das sollte unbedingt vermieden werden.

anna gärtner

Ladendiebstahl global

Jeden Tag eignen sich Hunderttausende auf der Welt Musik über das Internet an. Dürfen die das? Und ist der Kapitalismus deshalb in Gefahr?

Software-Tauschbörsen wie früher Napster, heute Kazaa und andere Programme, ermöglichen Ladendiebstähle im Weltmaßstab. Einer klaut etwas, kopiert es und verteilt es an alle anderen gratis, in der Hoffnung, etwas dafür zurückzubekommen.

Tauschbörsen funktionieren nur, wenn es Tauschpartner gibt. Nur die wenigsten, die Musik herunterladen und damit das Urheberrecht unterminieren, fühlen sich als Robin Hood und wollen den Armen etwas geben, was die Reichen vorher besessen haben. Musik ist wichtiger als Texte. Wären Bücher über Madonna so interessant wie ihre Songs, gäbe es schon Tauschbörsen, um illegal kopierte Texte zu verbreiten.

Klauen und kopieren sind zwei Seiten einer Medaille. Der kapitalistische Markt regelt auch Diebstähle. Es besteht Bedarf an kostenloser oder preiswerter Musik oder an Software, die das leistet, was kommerzielle Programme auch können, nur eben nicht umsonst. Da das Angebot die Nachfrage nicht ausreichend befriedigt, hat sich das Prinzip »Open Source« entwickelt.

Raubkopien und Freeware-Programme sind ein Indikator dafür, dass der Markt nicht flexibel genug auf die Bedürfnisse der Konsumenten reagiert. Das gilt für Software wie für Autos, Wohnungen und andere Artikel des täglichen Bedarfs. Die These der Anbieter von Produkten, die legal, illegal oder ganz egal angeeignet wurden, das sei subversiv, ist nur eine trickreiche Verkaufsstrategie, ihre corpoarte identity, mit Blick auf die Zukunft. »Angeeignete« Waren schaffen ein neues Marktsegment, das sich bald auch kommerziell verwerten lässt. Ein Beispiel: Das Betriebssystem Linux kostet eigentlich nichts, und dennoch können schon zahlreiche Firmen davon leben, es zu verkaufen oder indem sie Service anbieten.

Wer meint, »Aneignung« sei etwas Subversives, argumentiert wie ein Seeräuber. Klaus Störtebeker konnte nur existieren, weil es die Hanse gab. Software-Piraten wären nichts ohne Bill Gates. Piraterie torpediert nicht das System, sondern gleicht dessen Mängel aus. Aneignung per Internet verschafft ein gutes Gefühl. Und ein zufriedender Konsument ist aufgeschlossener für Kommerz.

burkhard schröder

Our House

Die Häuser denen, die drin wohnen! Mit diesem Spruch auf den Lippen waren wir in das leer stehende Haus eingezogen. Dass Menschen ein Haus ihr Eigen nennen, nur weil sie es irgendwann gekauft oder geerbt haben, das leuchtete uns nicht ein. Wohnen ist ein Menschenrecht, die Enteignung von Wohnraum für Linke eine Pflicht. Nach der Revolution sowieso, aber wo möglich auch schon vorher. Allerdings folgte der Enteignung dann die Aneignung, und die neuen Eigentümer waren am Ende wir. Über eine Genossenschaft kauften wir »unser Haus«, und es war wie immer der Ralf, der über die Jahre von Etage zu Etage aufstieg und sich schließlich das große Zimmer im vierten Stock mit dem Südbalkon aneignete.

Die anfangs zitierte Parole lässt sich auch so deuten, dass der jeweilige Besitzer eines Hauses, also derjenige, der darüber tatsächlich verfügt, immer auch dessen Eigentümer sein sollte, und dass Eigentum an Immobilien nur dann in Frage gestellt wird, wenn sie als Spekulationsobjekte dienen. Es ist jedoch absurd zu glauben, Leerstand sei nur eine Folge der Spekulation. Wer sich als Westler nach der Wende in Ostberlin umsah, der sah, dass auch enteigneter Wohnraum leer stehen kann und zwar massenhaft. Wir haben so lange »Das ist unser Haus« gerufen, bis es unser Haus war.

Obwohl wir es also nicht geschafft haben, die Kapitalismuskritik wirklich voranzubringen, war die Zeit der Hausbesetzerbewegungen in den achtzigern und in den neunziger Jahren eine der besten Zeiten für die Linke. Die freigesetzte Dynamik, der öffentliche Zuspruch, die geschaffenen Räume und Freiräume waren bedeutende Folgen dieser Bewegung. Und der Anspruch, anders leben zu wollen, jedoch nicht als alternativer Aussteiger in einer Landkommune, sondern in ständiger Konfrontation mit der Polizei, mit den Neonazis und den Hauseigentümern mitten in der Stadt, hat ziemlich gut auf den Punkt gebracht, wofür »die Autonomen« standen.

Inzwischen wohnen nur noch wenige der Erstbesetzer in unserem Haus. Die Stromrechnung wird pünktlich beglichen. Obdachlosen kaufe ich schon mal eine Straßenzeitung ab.

benny rau

Hör den Plunder!

Zwei Typen mit Schweinemasken auf den Gesichtern werfen zu ohrenbetäubendem Lärm abgenagte Knochen ins Publikum, das begierig nach diesen grapscht und sich vor Begeisterung nicht mehr einkriegt. Wir befinden uns auf einem der seltenen Auftritte des anarchischen Anti-Pop-Kollektivs V/VM, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Popbetrieb um jeden Preis aufzumischen. Auf der Bühne mimen sie die Popschweine, die den Leuten auch nur das geben, was sie wollen, und stellen so ihre eigene Rolle als Stars der Popsubversion in Frage.

Auf ihren Platten und auf denen ihres Labels ziehen sie so ziemlich jeden durch den Kakao, der es ihrer Ansicht nach zu weit gebracht hat. Sie bringen Platten von Frank Sinatra heraus, von Kraftwerk, und dem größten Electronica-Star Englands haben sie bereits mehrere Platten unter dem Titel »Help Aphex Twin« gewidmet, die klar machen sollen, dass es der echte Aphex Twin entgegen seinem Ruf eigentlich gar nicht so richtig bringt.

Als das Independent-Label Fat Cat beinahe eine Maxi mit einem Stück des Berliners Pole herausgebracht hätte, das in Wahrheit gar nicht von diesem stammt, sondern nur unter dessen Namen an Fat Cat versandt wurde, waren V/VM die Hauptverdächtigen für diesen Akt der Sabotage an Poles gutem Namen.

V/VM geht es um die Demystifizierung des Starwesens, um ein Update des bekannten Punk-Slogans »Kill Your Idols«. Sie attackieren die anerkannte künstlerische Potenz ihrer Opfer, indem sie sich ihnen mimetisch annähern, und wollen deren credibility der Lächerlichkeit preisgeben. Pole jedenfalls regte sich furchtbar über die Attacke auf und klagte, dass die Nummer, die unter seinem Namen veröffentlicht werden sollte, furchtbar schlecht sei.

Aneignungsprozesse in der Popmusik haben eine lange Tradition. Normalerweise haben sie nicht nur mit Zerstörung, sondern auch mit Huldigung zu tun. Selbst die dekonstruktivistischste Coverversion verleiht einem schlechten Popsong die Aura des Kults. Und Platten wie »The Residents Play The Beatles/The Beatles Play The Residents« oder das Gesamtwerk der Tape Beatles zerstören nicht nur das Werk der Beatles, sie setzen es – wenngleich unter veränderten Bedingungen und im Namen der Kunst – auch wieder zusammen.

Sampling und Plunderphonics-Künstler zeigen, dass Kunst im 21. Jahrhundert nur noch postmodern sein und auf bereits existierendem Material aufbauen kann. Vermeintlich unkreatives »Aneignen« wird gegen kreatives »Schaffen« ausgespielt. V/VM wollen mit derartigen künstlerischen Strategien jedoch nichts mehr zu tun haben. Sie wollen sich etwas aneignen, aber nicht weil sie Künstler, sondern weil sie Schweine sind.

andreas hartmann