Opas Oradour

Vom Reiseführer bis zum »Ploetz«: In Deutschland bestimmt die Version der Täter bis heute die Darstellung des SS-Massakers. Von Kerstin Eschrich

Wer im Limousin Urlaub machen will und seine Informationen dem seither nicht wieder aufgelegten DuMont Kunst-Reiseführer »Das Limousin« von 1992 entnimmt, ist schlecht beraten. Unter dem Stichwort Oradour-sur-Glane heißt es: »Auf dem Wege von Limoges zu den Monts de Blond kommt man durch Oradour-sur-Glane, einen Ort, der in diesem Jahrhundert Schlimmes erleben musste. Am 9./10. Juni 1944 gab es hier über 600 Tote. Besatzungssoldaten, am 10. Juni auf der Suche nach einem von der Résistance entführtem Offizier und einem Führungsstab der Widerstandskämpfer, fanden nach ihren Berichten am Ortsrand von Oradour-sur-Glane die Leichen eines am Vortag von den Maquisards überfallenen Verwundetentransports und in den Häusern des Dorfes versteckte Waffen und Munition. Daraufhin erschossen sie die meisten aufgegriffenen Männer als Partisanen und brannten die Häuser nieder. Viele der Frauen und Kinder, in die Kirche gesperrt, kamen bei dem Brand ums Leben. Die Ruinen und ausgebrannten Mauerreste sind heute eine eingezäunte Geisterstadt und ein gut organisiertes, viel besuchtes Touristenziel. Einige der Objekte, die dem Flammeninferno entgingen, sind im Ort ausgestellt; für die Kirchenruine steht ein Führer zur Verfügung.«

Das ist die Version, die von der SS über das Verbrechen an der Bevölkerung von Oradour in die Welt gesetzt wurde. Die Tat wird und wurde als Maßnahme gegen angebliche Waffenlager des französischen Widerstands und als Repressalie für »heimtückische Partisanenangriffe« ausgegeben. So behauptet der vormalige SS-Obersturmbannführer Otto Weidinger in seinem Buch »Division Das Reich«, man habe »am Ortsausgang von Oradour-sur-Glane die Überreste einer deutschen Sanitätsstaffel gefunden, welche mit allen Verwundeten offensichtlich bei lebendigem Leib verbrannt sind«. Zudem schreibt er, in den Häusern habe sich Munition befunden. Diese Lüge findet sich auch im Tagesbericht des SS-Regiments »Der Führer« für den 11. Juni 1944: »Nach Durchsuchung des Ortes wurde dieser niedergebrannt. Fast in jedem Haus war Munition gelagert.« Behauptungen, die entgegen allen Tatsachen auch heute noch verbreitet werden.

Interessant sind in diesem Zusammenhang die Aussagen des SS-Obersturmführers Heinz Barth, der als einer der wenigen Mörder von Oradour überhaupt vor Gericht gestellt wurde und als einziger vor ein deutsches. Ihm wurde 1983 in der DDR vor dem Ersten Strafsenat des Stadtgerichts Berlin der Prozess gemacht. Barth war in Oradour Führer des Ersten Zuges des Panzergrenadierregiments »Der Führer«. 45 Soldaten waren ihm unterstellt, denen er u.a. den Befehl gab, 20 Männer, die in einer Garage eingesperrt waren, zu erschießen.

Barth sagte aus: »(Von SS-Hauptsturmführer Otto Kahn; Anm. K.E.) erhielt ich den Befehl, mit einer Gruppe von Männern meines Zuges Personen zu erschießen, die sich in einem garagenähnlichen Gebäude befanden. Sie standen in Zweierreihen. Es handelte sich um eine Männergruppe von 20 Personen im Alter von 20 bis 50 Jahren. Es können auch Jüngere dabei gewesen sein. Die Gruppe war erregt. Es war mir gesagt worden, dass, wenn ein Schuss als Signal in die Luft abgegeben wird, durch mich zu befehlen sei: ›Legt an, Feuer!‹« Befragt vom Vorsitzenden Richter Dr. Hugot, ob er erschrocken gewesen sei über diesen Auftrag, verneinte er und erklärte, dass er »den Befehl kannte«.

Barth wurde zu lebenslänglicher Haft verurteilt. 1997 wurde er im wieder vereinten Deutschland aus dem Gefängnis entlassen. Seit 1991 kassierte er vom neuen deutschen Staat bereits eine zusätzliche Opferrente wegen einer Kriegsverletzung. 1998 wurden die Zahlungen eingestellt. Zwei Jahre später entschied das Potsdamer Sozialgericht, dass die sieben Jahre lang erhaltene Rente nicht zurückgezahlt werden muss.

Bemerkenswert sind Barths Aussagen nicht nur, weil er wiederholt der Darstellung widersprach, dass es Widerstandsgruppen oder Munition in dem Ort gegeben habe. Stattdessen beschrieb er, wie die SS dafür sorgte, dass die unwahre Version über das Massaker verbreitet wurde. Barth erklärte in der Hauptverhandlung am 30. Mai 1983: »(Der SS-Offizier und Bataillonskommandeur des Panzergrenadierregiments ›Der Führer‹, August Dieckmann) befahl uns, über das Geschehen der letzten Stunden Stillschweigen zu bewahren. Falls es doch einmal zur Sprache käme, sollten wir sagen, es habe Widerstand gegeben, im Zuge der Abwehr sei alles in Flammen aufgegangen und die Menschen getötet worden. Ich unterrichtete so die Gruppenführer und diese die Mannschaften, fortan wurde in dieser Weise über Oradour gesprochen.«

Nicht nur von den Mördern. Auch deutsche Nachschlagewerke tun sich schwer damit, das Massaker in Oradour den Tatsachen entsprechend darzustellen. So ist im Bertelsmann-Lexikon von 1995 über das Massaker zu lesen: Der Ort »wurde am 10. Juni 1944 als Vergeltung für Partisanentätigkeit von dt. SS-Truppen zerstört, die Bev. zum größten Teil erschossen; der Ort ist an anderer Stelle wieder aufgebaut«. Noch schwammiger formulierte die Brockhaus Enzyklopädie von 1971: »Am 10. Juni 1944 von SS-Truppen als Repressalie gegen Partisanentätigkeit eingeäschert; der größte Teil der Bevölkerung kam dabei um.«

15 Jahre später ist die Version im Brockhaus relativiert worden. Von Repressalien gegen Partisanentätigkeit ist nicht mehr die Rede. Kurz geschildert werden das Verbrechen, die Anzahl der Ermordeten und dass »die Ruinen als Mahnmal an das schwerste dt. Kriegsverbrechen im besetzten Frankreich erhalten« wurden.

Gleichzeitig wird allerdings als erste Literaturangabe das Buch »Wo ist Kain?« von Herbert Taege empfohlen, das 1981 im neofaschistischen Askania-Verlag erschien. Die ersten Sätze aus diesem Machwerk sind der »Brockhaus Enzyklopädie, Band 16, Seite 695« entnommen: »Im zweiten Weltkrieg wandten die Kommunisten in den von deutschen besetzten Ländern die Volksfront-Taktik an, um eine führende Position in den Widerstandsbewegungen zu gewinnen.« Und genau darum geht es in dem Buch, das die SS-Version über die Massenmorde in Oradour verbreitet. Partisanen hätten »die Frauen und Kinder in der Kirche als Schutz benutzt«. Das Gebäude sei explodiert, weil »ehemalige Rotspanier« die darin gelagerte Munition zündeten. Die Taktik der Partisanen sei es gewesen, »Hass zu erzeugen«. Keine Schuld trifft daher die deutschen Nazis, so die Argumentationslinie. Der Prozess in Bordeaux wird unter dem Stichwort »Schauprozess« abgehandelt.

Anders stellte dagegen Meyers Neues Lexikon aus einem Volkseigenen Betrieb in Leipzig 1971 die Massenmorde in Oradour dar. »Der Ort wurde als angebliches Versteck von antifaschistischen Widerstandskämpfern am 10. Juni 1944 durch die von General Lammerding befehligte SS-Division ›Das Reich‹ vernichtet.« Danach geht es in dem Text um die Urteile im Prozess von Bordeaux und die Weigerung »der BRD«, den Befehlshaber der Division »Das Reich«, SS-Brigadeführer Heinz Lammerding, an Frankreich auszuliefern. 1993 heißt es dann in Meyers Neuem Lexikon – inzwischen kein volkseigener Betrieb mehr – ganz lapidar: »Am 10. Juni 1944 von SS-Verbänden zur Vergeltung von Partisanentätigkeit eingeäschert; alle Einwohner wurden dabei getötet. Der Ort wurde in der Nähe neu aufgebaut.«

Auch in Werken, die sich ausführlich mit dem Nationalsozialismus befassen, gibt es ähnlich unkritische Versionen des Massakers in Oradour. 2002 wird das Buch »Ploetz Das Dritte Reich« erneut publiziert. Herausgeschichte. In der Chronik wird der 10. Juni 1944 kurz erwähnt: »Zur Vergeltung brennen Einheiten der SS-Panzerdivision ›Das Reich‹ das Dorf Oradour-sur-Glane nieder. Über 600 Bewohner, auch Frauen und Kinder, werden getötet.«

Auch der Historiker Sönke Neitzel verfasste in der Militärgeschichtlichen Zeitschrift zum Thema »Anmerkungen zur Operationsgeschichte der Waffen-SS« im Jahre 2002 eine kurze Bemerkung zu dem Massaker in Oradour, die offen ist für Interpretationen. »Am 10.Juni hatte sich Sturmbannführer Dieckmann mit einer SS-Kompanie auf der Suche nach einem entführten Kameraden nach Oradour-sur-Glane begeben. Dieckmann ließ rund 180 Männer erschießen, über 440 Frauen und Kinder verbrannten eingesperrt in der Kirche des Ortes.« Im Satz danach behauptet er, dass »die genauen Vorgänge in Oradour bis heute nicht aufgeklärt werden konnten«. Eine Version, mit der die SS-Täter und ihre Nachkommen zufrieden sein können.

In Frankreich werden solche Behauptungen gerichtlich verfolgt und bestraft. Ende des vergangenen Jahres wurde der 33jähriger ehemalige Lehrer Vincent Reynouard in Limoges wegen »Rechtfertigung von Kriegsverbrechen« zu einer Haftstrafe von einem Jahr (von der neun Monate zur Bewährung ausgesetzt wurden), einer Geldstrafe von 10 000 Euro und einem dreijährigen Aufenthaltsverbot im Département Haute-Vienne verurteilt. Er hatte ein Video hergestellt, dem die Version der SS verteidigt wurde, es habe sich um Vergeltung gehandelt, und die Aussagen der Überlebenden in Frage gestellt wurden. Der vorbestrafte Holocaustleugner hatte sein Machwerk an die letzten Überlebenden des Massakers geschickt. »Diese Kassette ist ein Horror«, sagte Marcel Darthout beim Prozess gegen Reynouard.