Weg vom Eigenen

Ein Interview mit dem israelischen Soziologen Natan Sznaider über »Globale Erinnerung«

Was ist ein »globales Gedächtnis«?

Das ist in erster Linie ein Versuch, die nationalstaatliche Einstellung von der Analyse des sozialen Gedächtnisses zu trennen. Im gewissen Sinn ist die schon einige Jahrzehnte andauernde Diskussion um Gedächtnis eine Reaktion auf die Ängste, die die Globalisierung bei vielen Menschen auslöst. Man beruft sich dann gerne auf das Eigene, selbst wenn das Eigene – wie in Deutschland – negativ besetzt ist. Globales Gedächtnis heißt erst einmal nur, dass Menschen sich nicht mehr ausschließlich über die nationalstaatliche Geschichte definieren.

Wie äußert sich das?

Der Menschenrechtsdiskurs ist ein gutes Beispiel. Man glaubt an einen abstrakten Begriff des Menschen, einen nackten Menschen ohne ethnische oder nationale Zugehörigkeit, dessen Würde und körperliche Unversehrbarkeit vor den Eingriffen des Staates geschützt werden muss. Ich glaube nicht, dass diese enorme Empathie für Menschenrechte auf eine aufklärerische Einsicht zurückzuführen ist. Es hat viel mehr mit kultureller Orientierung zu tun, und es hat auch mit Gedächtnis zu tun – mit der Erinnerung an eine Situation, in der die Menschenrechte völlig außer Kraft gesetzt waren und Menschen daher ohne weiteres vernichtet wurden.

Sie haben Ihre These von der Herausbildung eines globalen Gedächtnisses deshalb an den Formen der Erinnerung an den Holocaust festgemacht. Als historisches Ereignis ist der Holocaust aber eine rein deutsche und jüdische Angelegenheit.

Für viele Deutsche ist eine universale Aneignung des Holocaust eine delikate Angelegenheit, weil man nicht ohne weiteres seinen Standortvorteil als Täternation par excellence aufgeben will. Das hat wohl auch etwas mit negativem Nationalismus zu tun, aber man kann sich heute wahrscheinlich kein Menschenrechtsregime ohne die negative Erinnerung an den Holocaust vorstellen. Deshalb gibt es die ständigen Vergleiche mit den Nazis. Das ärgert natürlich.

Niemand will mit Nazis verglichen werden, da sie und der Holocaust zur dominanten symbolischen Repräsentation des Bösen an sich wurden. Doch wenn man verstanden hat, dass der Menschenrechtsdiskurs an sich ja ein entkontextualisierter Diskurs ist, da er sich der historischen Einbettung von Menschen verweigern muss – sonst wäre es ja kein Menschenrechtsdiskurs, sondern ein Bürgerrechtsdiskurs –, dann wird man auch verstehen, warum der Holocaust als symbolische Repräsentation des Bösen ebenfalls entkontextualisiert wird. Das verärgert im Übrigen auch das Opferkollektiv, die Juden, etwa wenn gerade Deutsche Israelis als Nazis beschimpfen. Das ist unerträglich.

Können Sie jenseits der symbolischen Repräsentation des Holocausts als des Bösen und der zwanghaften Nazivergleiche Beispiele nennen, wo sich ein »globales Gedächtnis« zeigt?

In den fünfziger Jahren sprach man vom »nuklearen Holocaust« und es gab die Erinnerung an Hiroshima und Nagasaki, die weite Teile der Welt erfasste und eine klare pazifistische Botschaft hatte: Nie wieder Krieg. Im nuklearen Krieg sind alle Opfer. Es gibt die Teilung zwischen Täter und Opfer nicht, wie sie in der späteren Erinnerung an den Holocaust so deutlich wird. Aber der »nukleare Holocaust« verlor bald seine Wirkungskraft als globale Ikone und ist heute kaum noch als Bedrohung wahrnehmbar. Heute ähnelt eher die Erinnerung an Kolonialismus der Erinnerung an den Holocaust, sowohl inhaltlich als auch der Form nach. Und vielleicht wird die Erinnerung an den Terror bald ebenfalls ikonenhaften Status erreichen.

In welchen Debatten haben sich die globale Aneignung des Holocaust und seine Ikonisierung gezeigt?

Vor allem im Jugoslawien-Krieg, wo der Begriff der humanitären Intervention heiß diskutiert wurde. Gerade in den Jahren 1998 und 1999 wurden von höchster politischer Instanz die so genannten Lehren des Holocaust – der Schutz der allgemeinen Menschenrechte und die Verhinderung eines weiteren Völkermordes – als Hauptgründe für eine militärische Intervention angeführt. Ich habe das »Kosovocaust« genannt. »Nie wieder Auschwitz« hieß damals die Rechtfertigung für das Eingreifen. Es war dieser besondere historische Moment in der neuen Identitätsfindung Deutschlands, wo die so genannte besondere Verantwortung Deutschlands im Einklang mit der westlichen demokratischen Weltgemeinschaft stand. Der Holocaust wurde unvergleichbar vergleichbar. Aber das war nur ein Moment in der Geschichte Deutschlands und in der Geschichte der Zeit nach dem Kalten Krieg. Und es war eine Geschichte, die am 11. September 2001 zu Ende ging.

Spielte der Bezug auf den Holocaust im Zusammenhang mit dem 11. September und dem »Krieg gegen den Terror« denn keine Rolle mehr?

Doch, aber anders. Im Kosovo konnte man sich noch der Holocaustmetaphern bedienen, was sich durch die Bilder der Lager auch anbot. Mit dem Anschlag in New York kam hingegen ein neues Element dazu, eine aktuelle Definierung des Verbrechens gegen die Menschheit, nämlich der globale Terror.

Und dann begann in Deutschland eine andere Entwicklung. Nun war die Holocausterinnerung nicht mehr auf »wehret den Anfängen« angelegt, sondern man berief sich auf »Völkerrecht«. Plötzlich war ein völkerrechtlich nicht legitimierter Krieg ein Verbrechen gegen die Menschheit, als ob der Krieg in Kosovo auf besseren völkerrechtlichen Fundamenten gestanden hätte. Man war nicht imstande, den globalen Terror als das zu erkennen, was er sein mag, nämlich die Wiederkehr eliminatorischer und faschistoider Strukturen, die auch gerade von Deutschland bekämpft werden sollten. Plötzlich wurde ein »Krieg ist keine Lösung« in die Runde geworfen und das Bild eines postnationalen und friedfertigen Europas, dem nun auch Deutschland angehört, und in dem die Bekämpfung des Faschismus nicht mehr angesagt ist. Auch das sind Konsequenzen eines universalisierten Holocaustbewusstseins, welches entkontextualisiert wurde.

Die Aufforderung bin Ladens, Juden und Amerikaner zu töten, weil sie Juden und Amerikaner sind, hat aber auch Erinnerungen an den Holocaust geweckt. Begriffe wie »Islamfaschismus« oder »neuer Totalitarismus« zeugen davon.

Ja, und zwar infolge der jüdischen und israelischen Sichtweise des Holocaust. Diese Sichtweise ist partikularer und auch politischer. Sie hassen uns, sie wollen uns ermorden. Wir müssen uns wehren. Nicht mehr »Nie wieder«, sondern »nie wieder wir«. Da muss man umdenken, verstehen, dass die liberalen Wertvorstellungen und Strukturen nicht einfach selbstverständlich sind, sondern auch verteidigt werden müssen. Dieses partikulare jüdische Gedächtnis erklärt auch die politische Affinität zwischen Israel und den USA. Wie gesagt, nach 2001 wurden die Karten neu gemischt.

Sie haben die Entwicklung des globalen Gedächtnisses in Zusammenhang mit der Globalisierung gestellt. Was sich in den letzten Jahren aber auch globalisiert hat, ist der Antisemitismus.

Der sich jetzt globalisierende Antisemitismus hat eher mit dem Konflikt in Israel zu tun. Israel ist heute der Auslöser für antisemitische Ressentiments, die man nicht nur bei Moslems beobachten kann. Es ist eher ein politischer Antisemitismus, der sich mit dem Begriff und der Realität der ethnonationalen jüdischen Souveränität im Nahen Osten schwer tut. Es geht ja nicht mehr darum, ob man Wohnungen mieten kann, arbeiten kann und nicht mehr in die Badeorte gelassen wird wie beim europäischen Antisemitismus vor Auschwitz. Es geht um den Begriff des jüdischen Staates oder den Staat der Juden, der nun in einem arabischen Raum liegt, der sich militärisch – manchmal auch »unsauber« – verteidigt und auch angreift, der vielen Leuten die Gelegenheit gibt, antisemitische Ressentiments abzurufen.

Daran ändert auch die globale Erinnerung an den Holocaust nichts?

Die Araber haben eine andere europäische Erinnerungsstruktur in den Konflikt gebracht, nämlich den Kolonialismus. Israel ist für sie Ausdruck europäischen Kolonialwesens. Wenn Sie wollten, können Sie noch die Kreuzfahrer dazunehmen – da werden die modernen Juden zu christlichen Kreuzfahrern ummodelliert, und das geht ja auch wegen der israelischen Affinität zu den USA. Israel ist wie Frankreich in Algerien, wie Großbritannien in Ägypten, wie die USA in Saudi Arabien: Kolonialisten, die wie alle Kolonialisten von den antikolonialistischen Bewegungen vertrieben wurden oder vertrieben werden sollen. Europa hat das natürlich nie akzeptiert. Und das hat auch mit der Shoah zu tun.

Spielt die Ikonisierung des Holocaust eine Rolle für das negative Image Israels in der Welt?

Unbedingt, es war der Holocaust, der für Europa die Gründung Israels legitimierte, die für die arabische Welt nicht akzeptierbar war. Aber auch die Europäer können sich der Ikonisierung des Holocaust nicht entziehen. Wenn man früher wegen Auschwitz pro Israel sein konnte, kann man heute wegen Auschwitz gegen Israel sein. In diesem Sinn erfolgt auch die ständige Präsentation von Israel als notorischer Menschenrechtsverletzer, da ja Menschenrechtsverletzung nun ein Teil der Holocaust-Ikonographie geworden ist.

Interview: Jörg Später

Vorabdruck in gekürzter Fassung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion aus iz3w, August 2004, Nr. 278. Das Heft mit dem Schwerpunkt »Globalgeschichte« erscheint dieser Tage. Bestellungen unter info@iz3w.org.