Madison und Lenin

Die neue Wissenschaft von der Demokratie.

Im gesamten Verlauf dieses Buches haben wir uns mit den ontologischen, sozialen und politischen Grundlagen der konstituierenden Macht der Multitude beschäftigt. Nun müssen wir sie zu einem stimmigen Ensemble zusammenführen. Was den ontologischen Standpunkt betrifft, so haben wir uns ausführlich mit dem biopolitischen Charakter der Multitude und mit der intensiven, sich wechselseitig bedingenden Beziehung zwischen der Produktion der Multitude und der Produktion des Gemeinsamen befasst. Biopolitische Produktion ist insofern eine Sache der Ontologie, als sie ständig ein neues soziales Wesen, eine neue menschliche Natur schafft. Die Produktions- und Reproduktionsbedingungen für das soziale Leben der Multitude werden in ihrer Gesamtheit, also von den allgemeinsten und abstraktesten Aspekten bis hin zu den konkretesten und nuanciertesten, im Rahmen des fortwährenden Zusammentreffens, Kommunizierens und Verkettens der Körper entwickelt.

Paradoxerweise taucht das Gemeinsame an beiden Enden der biopolitischen Produktion auf: Es ist sowohl Endprodukt als auch Vorbedingung für die Produktion. Das Gemeinsame ist sowohl natürlich als auch künstlich; es ist unsere erste, zweite, dritte usw. Natur. Es gibt somit keine Singularität, die sich nicht im Gemeinsamen herausbildet; es gibt keine Kommunikation, die nicht auch über eine gemeinsame Verbindung verfügt, die sie aufrechterhält und in Gang setzt; und es gibt keine Produktion, die nicht auf Kommunalität beruhende Zusammenarbeit ist.

In diesem biopolitischen Gewebe verknüpft sich die Multitude mit anderen Multitudes, und aus den Tausenden von Verknüpfungspunkten, aus den Tausenden von Rhizomen, die diese Produktionen der Multitude miteinander verbinden, aus den Tausenden von Gedanken, die in jeder Singularität geboren werden, entsteht unausweichlich das Leben der Multitude. Die Multitude ist eine diffuse Ansammlung von Singularitäten, die ein gemeinsames Leben produzieren; sie ist eine Art soziales Fleisch, das sich zu einem neuen sozialen Körper zusammensetzt. Das ist es, was die Biopolitik ausmacht. Das Gemeinsame nämlich, das zugleich künstliches Ergebnis und konstitutive Grundlage ist, bildet die mobile und flexible Substanz der Multitude. Vom ontologischen Standpunkt aus ist die konstituierende Macht der Multitude somit Ausdruck dieser Komplexität und dasjenige Mittel, das dafür sorgt, dass sich das biopolitische Gemeinsame immer weiter und immer wirkungsvoller ausbreitet.

Vom soziologischen Standpunkt aus zeigt sich die konstituierende Macht der Multitude in den kooperativen und kommunikativen Netzwerken sozialer Arbeit. Die Beziehung des Gemeinsamen zur Multitude, die in ontologischer Perspektive paradox erschienen war, weil das Gemeinsame sowohl Vorbedingung als auch Ergebnis der Produktion der Multitude ist, erweist sich in sozialer Hinsicht und ganz besonders im Hinblick auf die Arbeit als völlig unproblematisch. Wie wir gesehen haben, lässt sich heute weltweit ein fortschreitendes Gemeinsam-Werden der verschiedenen Formen von Arbeit in allen Wirtschaftszweigen feststellen.

Wir erleben im Augenblick eine Auflösung der früher undurchlässigen Trennlinien, die die in der Landwirtschaft Tätigen von den Industriearbeitern, die Arbeiterklassen von den Armen und so weiter unterschieden. Nunmehr gewinnen durch zunehmend gemeinsame Arbeitsbedingungen in allen Bereichen Wissen, Information, affektive Beziehungen, Kooperation und Kommunikation neu an Bedeutung. Auch wenn jede einzelne Arbeitsform singulär bleibt – landwirtschaftliche Arbeit bleibt an den Boden gebunden, Industriearbeit an die Maschine –, entwickeln sie gleichwohl gemeinsame Grundlagen, die heute weitgehend Bedingung jeder wirtschaftlichen Produktion sind; im Gegenzug bringt diese Produktion ihrerseits das Gemeinsame hervor – gemeinsame Beziehungen, gemeinsames Wissen und so weiter.

Eine auf Kooperation und Kommunikation beruhende Produktion macht vollends deutlich, inwiefern das Gemeinsame sowohl Voraussetzung als auch Ergebnis ist: Ohne bereits bestehende Kommunalität gibt es keine Kooperation, und Ergebnis der kooperativen Produktion ist neue Kommunalität; ähnlich kann ohne gemeinsame Basis keine Kommunikation stattfinden, und Ergebnis von Kommunikation ist eine neue gemeinsame Ausdrucksform. Die Produktion der Multitude befördert das Gemeinsame in einer sich ausweitenden, virtuosen Spiralbewegung. Dabei negiert diese zunehmende Produktion des Gemeinsamen keineswegs die Singularität der Subjektivitäten, welche die Multitude bilden. Vielmehr kommt es zu einem wechselseitigen Austausch zwischen den Singularitäten und der Multitude als Ganzer, der sich wiederum auf beide auswirkt und eine Art konstituierenden Motor darstellt.

Diese gemeinsame Produktion der Multitude impliziert insofern eine Form konstituierender Macht, als die Netzwerke kooperativer Produktion selbst eine institutionelle Logik der Gesellschaft darstellen. Auch hier können wir also wieder die Bedeutung der Tatsache erkennen, dass die Unterscheidung zwischen dem Ökonomischen und dem Politischen bei der Produktion der Multitude allmählich verschwindet und dass die Produktion von Wirtschaftsgütern zunehmend auch Produktion von sozialen Beziehungen und letztlich von Gesellschaft an sich ist. Die künftige institutionelle Struktur dieser neuen Gesellschaft ist in die affektiven, kooperativen und kommunikativen Beziehungen sozialer Produktion eingebettet. Anders gesagt: Die Netzwerke sozialer Produktion liefern eine institutionelle Logik, die eine neue Gesellschaft aufrechterhalten kann. Die gesellschaftliche Arbeit der Multitude führt uns somit direkt zur Multitude als konstituierender Macht.

Die Tatsache, dass biopolitische Produktion zugleich ökonomisch und politisch ist, das heißt, dass sie unmittelbar soziale Beziehungen schafft und dass sie die Grundlagen für eine konstituierende Macht bereitstellt, verhilft uns zu der Erkenntnis, dass die Demokratie der Multitude, um die es uns hier geht, so gut wie gar nichts mit »direkter Demokratie« im traditionellen Sinne zu tun hat, bei der jeder von uns Lebens- und Arbeitszeit opfern müsste, um ständig über jede politische Entscheidung abstimmen zu können. Man denke an Oscar Wildes ironische Bemerkung, das Problem mit dem Sozialismus sei, dass er zu viele Abende in Anspruch nähme.

Die biopolitische Produktion bietet uns die Möglichkeit, die politische Arbeit der Schaffung und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen gemeinsam in den gleichen kommunikativen, kooperativen Netzwerken sozialer Produktion zu verrichten und nicht auf endlosen abendlichen Sitzungen. Soziale Beziehungen zu produzieren ist schließlich nicht nur von ökonomischem Wert, sondern auch Aufgabe und Werk der Politik. In dieser Hinsicht würden somit ökonomische und politische Produktion zusammenfallen, und das kollaborative Netzwerk der Produktion könnte als Rahmen für die neue institutionelle Struktur der Gesellschaft dienen. Diese Demokratie, in der wir alle durch unsere biopolitische Produktion gemeinsam Gesellschaft schaffen und aufrechterhalten, wollen wir daher als »absolut« bezeichnen.

Bislang haben wir – vom ontologischen und soziologischen Standpunkt aus – die Demokratie der Multitude lediglich als eine theoretische Möglichkeit thematisiert, als eine Möglichkeit, die auf den realen Entwicklungen in unserer sozialen Welt beruht. Die Definition der Demokratie der Multitude und ihrer konstituierenden Macht bedarf jedoch auch eines politischen Standpunkts, der die gemeinsame Macht der Multitude und ihre Entscheidungsfähigkeit zeitlich und örtlich konkretisieren kann. Das heißt nicht, dass unsere bisherigen Erkenntnisse sekundär oder gar irrelevant wären. Einer der schwerstwiegenden Irrtümer politischer Denker besteht darin, konstituierende Macht für einen rein politischen Akt jenseits des bestehenden sozialen Daseins zu halten, für eine lediglich irrationale Kreativität, für den mehr oder weniger obskuren Punkt, an dem sich Macht irgendwie gewaltsam artikuliert.

Carl Schmitt und mit ihm all die anderen faschistischen und reaktionären Denker des 19. und 20. Jahrhunderts haben stets versucht, den Teufel der konstituierenden Macht, der ihnen Angstschauder über den Rücken jagte, auf diese Weise auszutreiben. Konstituierende Macht ist jedoch etwas ganz anderes: Sie ist eine Entscheidung, die aus dem ontologischen und sozialen Prozess produktiver Arbeit heraus entsteht; sie ist eine institutionelle Form, die einen gemeinsamen Inhalt entwickelt; sie ist die Einsetzung einer Kraft, die den historischen Fortschritt von Emanzipation und Befreiung verteidigt; kurz: sie ist ein Akt der Liebe.

Politische Liebe

Die Menschen sind heute offenbar unfähig, Liebe als politischen Begriff zu verstehen; um die konstituierende Macht der Multitude erfassen zu können, ist jedoch gerade ein Begriff von Liebe nötig. Die moderne Liebesvorstellung ist fast ausschließlich auf das bürgerliche Paar und die klaustrophobischen Grenzen der Kernfamilie beschränkt. Liebe ist zu einer strikt privaten Angelegenheit geworden. Was wir jedoch brauchen, ist eine viel umfassendere und unbegrenztere Vorstellung von Liebe. Wir müssen uns die öffentliche und politische Vorstellung von Liebe wieder zu Eigen machen, die den vormodernen Traditionen gemeinsam war. Christentum und Judentum etwa begreifen die Liebe als politischen Akt, der die Multitude entstehen lässt.

Liebe heißt ja gerade, dass unsere sich ausweitenden Begegnungen, unsere fortwährende Zusammenarbeit uns Freude verschaffen. Die christliche wie die jüdische Gottesliebe sind in Wahrheit keineswegs zwangsläufig metaphysisch: Sowohl Gottes Liebe zur Menschheit wie auch die Liebe der Menschheit zu Gott finden ihren Ausdruck und ihre Inkarnation im gemeinsamen materiellen politischen Projekt der Multitude. Dieses materielle und politische Verständnis von Liebe, einer Liebe, die so stark ist wie der Tod, gilt es heute wieder zu entdecken. Das heißt natürlich nicht, dass man seinen Partner, seine Mutter oder sein Kind nun nicht mehr lieben kann, sondern lediglich, dass sich die Liebe darin nicht erschöpft, dass sie als Basis unserer gemeinsamen politischen Projekte und der Schaffung einer neuen Gesellschaft dient. Denn ohne diese Liebe sind wir nichts.

Das politische Projekt der Multitude muss jedoch einen Weg finden, um sich mit den Bedingungen der Gegenwart auseinanderzusetzen. Angesichts des derzeitigen Zustands unserer Welt scheint das Projekt der Liebe ein wenig fehl am Platz zu sein, beruht doch die globale Ordnung auf Krieg und wird ihre Macht darüber legitimiert, dass alle demokratischen Mechanismen hintangestellt oder gar ganz aufgehoben werden. Die Krise der Demokratie ist nicht beschränkt auf Europa und Amerika oder auf irgendeine andere Weltregion; die Krise der Repräsentation und der Verfall der Demokratieformen sind ein weltweites Phänomen, das sich unmittelbar in allen Nationalstaaten zeigt, in den regionalen Gemeinschaften benachbarter Staaten nicht zu überwinden ist und auf globaler, imperialer Ebene in Form von Gewalt zum Ausdruck kommt. Die globale Krise der Demokratie lässt keine Regierungsform auf dieser Welt unberührt. Der endlose globale Kriegszustand trägt noch zur gegenwärtigen Tendenz in Richtung eines einzigen, monarchischen, die ganze Welt umfassenden Herrschaftssystems bei.

Wir sind jedoch nicht davon überzeugt, ja, wir sind sogar in hohem Maße skeptisch, ob sich eine solche monarchische, unilaterale Kontrolle über das Empire wirklich erfolgreich installieren lässt, aber schon die Tendenz dazu destabilisiert alle bisherigen Autoritätsformen, stürzt jede politische Ordnung in die Krise und drängt die Hoffnung auf Demokratie in immer weitere Ferne. Politische, ökonomische und soziale Krisen verschärfen sich wechselseitig und verbinden sich miteinander zu einem unauflösbaren Gewirr. Sie senden Flutwellen und schwere Unwetter der Krise und der Erschütterung quer über alle Weltmeere: über den Nordatlantik von Nordamerika bis nach Europa, über den Südatlantik von Lateinamerika bis nach Afrika, über den Indischen Ozean von der arabischen Welt bis nach Südasien, über den Pazifik von Ostasien bis zum amerikanischen Kontinent.

Viele von uns haben heute das Gefühl, dass die Weltordnung unserer jüngsten Vergangenheit, also der Kalte Krieg, paradoxerweise der letzte Augenblick einer relativ friedlichen globalen cohabitation war und dass die bipolare Struktur expliziter Gewalt und reziproker, sich gegenseitig legitimierender Regime möglicherweise eine Grenzsituation darstellte, die dann rasch ins extrem Zerstörerische umschlug. Nun, da der Kalte Krieg vorbei ist und die ersten Experimente mit einer neuen Weltordnung abgeschlossen sind, können wir nicht umhin, unseren Planeten als kranken Körper und die globale Krise der Demokratie als Symptom für Korruption und Unordnung wahrzunehmen.

Es gibt jedoch noch eine andere Seite der realen Situation, vor der das politische Projekt der Multitude steht. Trotz der ständigen Bedrohung durch Gewalt und Krieg, trotz des schlechten Zustands des Planeten und seiner politischen Systeme war das rastlose Streben nach Freiheit und Demokratie auf der ganzen Welt noch nie so verbreitet wie heute. Wie wir weiter oben gesehen haben, gibt es endlose Listen mit Beschwerden gegen das gegenwärtige globale System, nicht nur gegen Armut und Hunger, nicht nur gegen politische und ökonomische Ungleichheit und Ungerechtigkeit, sondern auch gegen die Korruption des Lebens in seiner Gesamtheit. Wir haben überdies gesehen, dass es neben diesen Klagen unzählige Reformvorschläge gibt, um das globale System demokratischer zu machen.

Diese globale Unruhe und all die Ausdrucksformen von Wut und Hoffnung zeigen ein wachsendes und unbezähmbares Verlangen nach einer demokratischen Welt. Jedes Anzeichen für die Korruption von Macht und jede Krise demokratischer Repräsentation auf allen Ebenen der globalen Hierarchie sieht sich einem demokratischen Willen zur Macht gegenüber. Diese Welt aus Zorn und Liebe ist die wahre Grundlage, auf der die konstituierende Macht der Multitude ruht.

Die Demokratie der Multitude bedarf angesichts dieser neuen Situation einer »neuen Wissenschaft«, das heißt eines neuen theoretischen Paradigmas. Erste und wichtigste Aufgabe dieser neuen Wissenschaft ist die Zerstörung der Souveränität zugunsten der Demokratie. Die Souveränität geht in all ihren Formen von der Macht des einen aus und untergräbt damit die Möglichkeit einer vollständigen und absoluten Demokratie. Das Projekt der Demokratie muss deshalb heute als Voraussetzung für die Einführung von Demokratie alle bestehenden Souveränitätsformen in Frage stellen.

Weg mit der Souveränität!

In der Vergangenheit war die Zerstörung von Souveränität Kernbestandteil des kommunistischen und anarchistischen Vorhabens von der Abschaffung des Staates. Lenin erneuerte diese Vorstellung in seiner Schrift Staat und Revolution theoretisch, und die Sowjets waren darauf ausgerichtet, sie während der Revolution in der Praxis neu zu erfinden. Als vorrangiger Ort der Souveränität, die über der Gesellschaft stehe, transzendent sei und demokratische Artikulation verhindere, galt der Staat.

Heute muss die Multitude die Souveränität auf globaler Ebene abschaffen. Und genau das ist mit der Parole »Eine andere Welt ist möglich« gemeint: Souveränität und Autorität müssen zerstört werden. Was damals jedoch von Lenin und den Sowjets als Ziel eines von einer Avantgarde zu bewerkstelligenden Aufstands verstanden wurde, muss heute im Begehren der gesamten Multitude zum Ausdruck kommen. Heute entstehen allmählich die Bedingungen, die es der Multitude ermöglichen, demokratisch zu entscheiden und damit Souveränität überflüssig zu machen.

Dieser Prozess verläuft freilich alles andere als spontan und improvisiert. Die Zerstörung der Souveränität muss einhergehen mit der Bildung neuer demokratischer institutioneller Strukturen, die auf den bestehenden Voraussetzungen basieren. Die Schriften von James Madison in den Federalist Papers liefern die Methode eines solchen konstitutionellen Projekts, der es – bestimmt vom Pessimismus des Willens – darum geht, ein System von checks and balances, Rechten und Garantien zu schaffen. Madison betrachtete die konstitutionelle Republik als fortschrittlichen Weg, den es vor Korruption und Selbstzerstörung durch einen internen Mechanismus zu schützen galt; die konstitutionellen Verfahren des öffentlichen Rechts sind für ihn die Instrumente, mittels derer man allmählich eine politische Organisationsstruktur aufbauen könne.

Der Inhalt von Madisons Konstitutionalismus, der gewöhnlich als demokratisch bezeichnet wird, in Wirklichkeit jedoch liberal war, lässt sich somit als eine Verfahrensweise beschreiben, der es um die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der gesellschaftlichen Klassen geht, wobei mit Gleichgewicht das Kommando des Stärkeren über den Schwächeren gemeint ist. Gleichwohl sollten wir nicht vergessen, dass Madisons Denken vollkommen von einem republikanischen Utopismus durchdrungen ist, dem gleichen Utopismus, den wir heute in den Revolten der armen Weltbevölkerung finden. Madisons Ziel war es, eine institutionelle Form zu finden, mit der sich dieses utopische Verlangen zumindest so weit verwirklichen ließ, wie es die realen Bedingungen seiner Zeit erlaubten.

Wie lassen sich heute die Zielsetzung von Staat und Revolution – das heißt die Zerstörung der Souveränität durch die Macht des Gemeinsamen – und die institutionellen Methoden des Federalist so organisieren und miteinander verbinden, dass sich damit in unserer globalen Welt ein demokratisches Projekt verwirklichen und auf Dauer erhalten lässt? Wie können wir in der konstituierenden Macht der Multitude das Projekt des »Eine andere Welt ist möglich« erkennen – einer Welt jenseits von Souveränität, Autorität und jeglicher Tyrannei –, das mit einem institutionellen Verfahren ausgestattet ist, das Garantien und konstitutionelle Antriebskräfte gewährleistet?

Wir müssen dieses Projekt auf den institutionellen Mechanismen aufbauen, die wir weiter oben beschrieben haben und die von den entstehenden Formen biopolitischer Produktion bereitgestellt werden. Die Institutionen der Demokratie müssen heute mit den kommunikativen und kooperativen Netzwerken zusammenfallen, die fortwährend unser soziales Leben immer wieder aufs Neue produzieren. Wäre es heute, angesichts der Gewalt der Biomacht und der strukturellen Formen von Autorität, möglich, zum Zwecke einer Revolution auf die konstitutionellen Instrumente der republikanischen Tradition zurückzugreifen, um damit die Souveränität zu zerstören und eine Demokratie freier Männer und Frauen von unten zu schaffen?

Wenn wir Madison und Lenin miteinander verbinden, so werfen wir nicht einfach frevelhafterweise zwei völlig unvereinbare Traditionen politischen Denkens und politischer Praxis zusammen in einen Topf. Wir wollen vielmehr sicherstellen, dass unser Traum von Demokratie und unser Verlangen nach Freiheit nicht wieder nur in eine weitere Form von Souveränität zurückfallen und wir in einem Alptraum von Tyrannei erwachen. Revolutionäre weisen schon lange immer wieder auf die Tatsache hin, dass bis heute alle Revolutionen die Form des Staates nur weiter vervollkommnet, aber nicht zerstört haben. Die Revolution der Multitude jedoch darf nicht mehr unter dem Fluch des Thermidor stehen. Sie muss ihr Projekt an den aktuellen Verhältnissen ausrichten, es muss bestimmt sein von konstituierenden Mechanismen und institutionellen Verfahrensweisen, die es vor dramatischen Kehrtwendungen und tödlichen Irrtümern bewahren.

Auf eines sollten wir dabei jedoch nachdrücklich hinweisen: Diese neue Wissenschaft der Multitude, die auf dem Gemeinsamen beruht, impliziert keinerlei Vereinigung bzw. Vereinheitlichung der Multitude oder Unterdrückung von Differenzen. Die Multitude setzt sich aus radikalen Differenzen zusammen, aus Singularitäten, die sich niemals zu einer Identität synthetisieren lassen. Die Radikalität der Geschlechterdifferenz etwa lässt sich nur dann in die biopolitische Organisation des sozialen Lebens, des durch die Multitude erneuerten Lebens, einbeziehen, wenn jede Arbeits-, Affekt- und Machtdisziplin, die die Geschlechterdifferenz zu einem Hierarchiemerkmal macht, zerstört ist. »(Es) muss sich die ganze Welt ändern«, sagt Clarisse Lispector, »damit ich darin Platz habe.«

Erst dann wird die Gechlechterdifferenz zu einer kreativen, singulären Macht werden, und erst dann, auf der Grundlage solcher Differenzen, wird die Multitude möglich sein. Eine solch radikale Veränderung der Welt, die es den Singularitäten erlaubt, sich frei zu artikulieren, ist jedoch kein in weiter Ferne liegender utopischer Traum, sondern sie gründet in den Entwicklungen unserer konkreten sozialen Wirklichkeit. Die amerikanischen Revolutionäre des 18. Jahrhunderts pflegten zu sagen: »Die kommende Menschheit wird vollkommen republikanisch sein.« Ähnlich könnten wir heute sagen: »Die kommende Menschheit wird ganz Multitude sein.«

Den neuen Bewegungen, die globale Demokratie fordern, gilt nicht nur die Singularität jedes Einzelnen als grundlegendes Organisationsprinzip, sondern sie begreifen diese Singularität auch als Prozess der Selbstveränderung, Hybridisierung und Métissage. Die Vielheit der Multitude bedeutet nicht nur, unterschiedlich zu sein, sondern auch unterschiedlich zu werden. Werde anders als du bist! Diese Singularitäten handeln freilich gemeinsam und bilden damit einen neuen Menschentypus, das heißt, eine politisch koordinierte Subjektivität, die von der Multitude geschaffen wird. Die grundlegende Entscheidung, die von der Multitude getroffen wird, ist diejenige, eine neue Menschheit zu schaffen. Wenn man Liebe politisch begreift, dann ist diese Schaffung einer neuen Menschheit der höchste Akt der Liebe.

Was wir brauchen, um die Multitude zum Leben zu erwecken, ist eine Form großer Politik, die man traditionellerweise als Realpolitik oder politischen Realismus bezeichnet. Anders gesagt: Wir brauchen eine Politik, die auf der verändernden Macht der Wirklichkeit beruht und in unserer gegenwärtigen geschichtlichen Epoche gründet. Politischer Realismus gilt zumeist als konservativ oder reaktionär, da er strikt auf Gewalt, Hegemonie und Zwang beruhe.

Dem Revolutionär jedoch geht es dabei weniger um die reine Kohärenz der Gewalt als vielmehr um den nachdrücklichen Mechanismus des Begehrens. Die Gewalt, auf die der Revolutionär zurückgreift und die er benutzt, taucht nicht am Beginn, sondern erst am Ende des Prozesses auf: Revolutionärer Realismus produziert und reproduziert die Entstehung und Ausbreitung des Begehrens. Dieses Eintauchen in die revolutionäre Bewegung erfordert jedoch wie alle Realpolitik die Fähigkeit, sich selbst aus der unmittelbaren Situation gleichsam auszuklinken und unermüdlich nach Vermittlungswegen zu suchen, indem man (wenn nötig) Kohärenz vortäuscht und im Rahmen einer kontinuierlichen Strategie auf verschiedene taktische Spielereien zurückgreift. Wie Titus Livius und Machiavelli uns lehren, gibt es niemals nur einen »politischen Realismus«, sondern immer mindestens zwei Standpunkte bzw. genauer: einen Standpunkt, der sich in zwei konfligierende Sichtweisen aufspaltet: Der einen geht es um das Verlangen nach Leben, der anderen um die Angst vor dem Tod – Biopolitik gegen Biomacht.

Wenn wir somit gezwungen sind, uns den Horizont des politischen Realismus zu Eigen zu machen, müssen wir dann nicht auch die alte maoistische Parole wiederholen: »Groß ist die Verwirrung unter dem Himmel; die Lage ist ausgezeichnet«? Nein, unsere heutige Situation ist nicht wegen der globalen Krise der Demokratie, dem permanenten Ausnahmezustand und dem endlosen globalen Krieg günstig, sondern weil die konstituierende Macht der Multitude so weit herangereift ist, dass sie durch ihre Netzwerke der Kommunikation und Kooperation, durch ihre Produktion des Gemeinsamen eine andere demokratische Gesellschaft eigenständig aufrechtzuerhalten vermag.

Der Augenblick

Und hier kommt die Frage der Zeit als wesentliches Element ins Spiel. Wann ist der Augenblick des Bruches gekommen? Weiter oben haben wir über die politische Entscheidungsfindung durch Netzwerke biopolitischer Bestimmungen und einen Apparat zur Kooperation der singulären Willen gesprochen, aber in diesem Fall müssen wir Entscheidung auch als Ereignis begreifen – nicht als lineare Anhäufung des Chronos und monotones Ticken seiner Uhren, sondern als plötzlichen Ausdruck des Kairòs.

Kairòs ist der Augenblick, in dem sich der Pfeil vom Bogen löst, der Augenblick, in dem die Entscheidung für eine Handlung getroffen wird. Revolutionäre Politik muss in der Bewegung der Multitudes und durch die Akkumulation gemeinsamer und kooperativer Entscheidungen den Augenblick des Bruches erfassen, der eine neue Welt schaffen kann. Angesichts des zerstörerischen Ausnahmezustands der Biomacht muss es somit auch einen konstituierenden Ausnahmezustand der demokratischen Biopolitik geben. Große Politik ist immer auf der Suche nach diesem Augenblick, mit dem sich, wie Machiavelli in seinem Principe ausführt, eine neue konstitutive Zeitlichkeit schaffen lässt. Von der Sehne des Bogens löst sich der Pfeil einer neuen Zeitlichkeit, mit der eine neue Zukunft beginnt.

Der richtige Zeitpunkt ist entscheidend. Ein philosophisches Buch wie das vorliegende ist jedoch nicht der richtige Ort, um darüber zu befinden, ob die Zeit der revolutionären politischen Entscheidung schon gekommen ist oder nicht. Wir besitzen keine Kristallkugel, und wir geben nicht vor, wie die alten Hexen des Macbeth die Saat der Zeit zu lesen. Es bedarf an dieser Stelle keiner Eschatologie und keines Utopismus. Ein Buch wie dieses ist auch nicht der Ort, um die Frage »Was tun?« zu beantworten. Darüber muss ganz konkret in gemeinsamen politischen Diskussionen entschieden werden.

Wir können jedoch erkennen, dass es eine unüberbrückbare Kluft gibt zwischen dem Verlangen nach Demokratie, der Produktion des Gemeinsamen, und dem rebellischen Verhalten, mit dem sie im globalen System der Souveränität zum Ausdruck kommen. Nach so langer Zeit der Gewalt und der Widersprüche, des globalen Bürgerkriegs, der Korruption imperialer Biomacht und der unendlichen Mühen der biopolitischen Multitudes muss die enorme Menge an Klagen und Reformvorschlägen, die sich inzwischen angehäuft hat, an irgendeinem Punkt durch ein schlagendes Ereignis, durch eine radikale Aufforderung zur Erhebung eine Verwandlung erfahren. Wir können bereits erkennen, dass die Zeit heute gespalten ist zwischen einer Gegenwart, die schon tot ist, und einer Zukunft, die bereits lebt – und der Abgrund, der zwischen diesen beiden klafft, wird immer größer. Zur rechten Zeit wird uns ein Ereignis wie ein Bogen den Pfeil mit einem Schlag in diese lebendige Zukunft schleudern. Dies wird der wahre politische Akt der Liebe sein.

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Michael Hardt/Antonio Negri: Multitude. Krieg und Demokratie im Empire. Übersetzt von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn. Campus, Frankfurt/Main 2004. 432 S., 34,90 Euro. Das Buch erscheint am 16. September. Die im Dossier verwendeten Texte wurden redaktionell gekürzt.