Das Wir-Gefühl der Selbstzerstörer

in die presse

Es scheint mittlerweile Usus zu sein, wirklich jeden Artikel oder Kommentar zum drohenden EU-Beitritt der Türkei nur noch mit billigsten Klischees und den abgefeimtesten Thesen zum Kulturgefälle auszustatten. Die FAZ, »Zeitung für Deutschland«, macht da keine Ausnahme, setzt jedoch ein paar eigene Akzente. So skizziert unter dem Kürzel »Nm« – das vermutlich für »No mercy« steht – der Kommentator der FAZ die gängige Schreckensvision: Nach einem Beitritt der Türkei sei es noch schwieriger, »Aufnahmebegehren abzuwehren – beispielsweise jene, die noch aus dem nördlichen Afrika und aus dem Nahen Osten kommen könnten, oder von weiteren Anwärtern aus dem ehemaligen Sowjetreich in Osteuropa bis hinunter zum Kaukasus, vielleicht sogar von Russland selbst.« So weit, so bekannt.

Jetzt aber folgt die Geschichtslektion: »Mit dem am Mittwoch wahrscheinlich gewordenen Beitritt der Türkei fände das historische Projekt Europa, so wie es in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts als Konsequenz der europäischen Selbstzerstörung in zwei Weltkriegen begonnen wurde, sein Ende.« Denn es gebe »im Verhältnis zur Türkei nicht jenes Wir-Gefühl, das die Europäer auch dann noch hatten, wenn sie Krieg gegeneinander führten«.

Ende des historischen Exkurses. Und ja – wir erinnern uns wieder und haben deutlich vor Augen, wie irgendwelche SD-Einsatzgruppen vor der Kulisse des brennenden Warschau den selbstzerstörerischen Polen ihr »Wir-Gefühl« ausdrückten resp. Europäer in ihnen erkannten.

So kann man in einem Aufwasch den Muselman ablehnen und zugleich zwei Angriffskriege verharmlosen. Jeder Stoß ein Franzos, jeder Schuss ein Russ, mit’m Gewehr einen Europäer.

philipp steglich