»Wollt ihr helfen?«

Asilie Barre-Dirie und Fana Asefaw engagieren sich in einem Projekt, das über Genitalbeschneidungen aufklärt. Ein Interview

Asilie Barre-Dirie ist zweite Vorsitzende der deutschen Sektion von Forward, einem internationalen Projekt zur Aufklärung über und Bekämpfung von Genitalbeschneidung bei Frauen in Europa und Afrika. Fana Asefaw ist Assistenzärztin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Humboldt-Klinikum Berlin und Mitglied von Forward.

Worin besteht das besondere Problem für afrikanische Frauen in Deutschland, wenn es um das Thema Beschneidung geht?

Asilie Barre-Dirie: Die jugendlichen Afrikanerinnen, die hier groß geworden sind, sind auf eine rassistische Weise mit dem Thema Beschneidung konfrontiert. Denn viele hier stellen es so dar, als ob beschnittene Frauen keine richtigen Frauen mehr seien. »Die haben keinen Sex, die sind alle psychisch krank«, und dann wird darüber spekuliert, wie sie sich jetzt fühlen. Unser Schwerpunkt liegt darauf, den schwarzen Mädchen das Selbstbewusstsein zu geben und sich mit dem Thema selbst und damit, wie sie von Deutschen mit dem Thema konfrontiert werden, auseinanderzusetzen. Zum einen, damit sie auf dumme Fragen antworten können und zeigen können: »Auch, wenn ich betroffen bin, bin ich okay«, zum anderen, weil sie ja auch die nächste Generation von Müttern sind.

Wie knüpfen Sie die Kontakte zu den afrikanischen Mädchen, die in Deutschland leben?

Barre-Dirie: Wir haben ein Pilotprojekt in Hessen durchgeführt. Das waren somalische Mädchen aus Familien, die ich kannte. Es bestand mit den Eltern eine Vertrauensbasis, so dass ich mit den Mädchen ein Wochenende verbringen konnte. Da haben wir nicht nur über FGC (Female Genital Cutting; d.Red.) geredet, denn die Mädchen haben auch andere Probleme. Vielleicht waren eines oder zwei der Mädchen betroffen, das weiß ich nicht. Ich habe auch nicht gefragt, es geht mich nichts an. Die Mädchen sind betroffen, weil sie schwarz sind und entsprechend behandelt werden. Weil sie schwarz sind, sind sie mit dem Thema konfrontiert. Also, wenn ich sage, so, und nun reden wir über FGC, komme ich nicht weiter. Ich muss erst mal mit ihren anderen Problemen anfangen. Die Mädchen haben Identitätsprobleme: »Wo gehöre ich hin?« Ich bin eine Brücke zwischen den Mädchen und ihren Eltern und eine Brücke zwischen den Mädchen und der Gesellschaft. Ich sage ihnen: »Was die Eltern erzählen, z.B. über ihre Traditionen, ist nicht falsch. Aber ich versuche, auch zu sehen, was hier gut ist und was ich davon haben will.« Das gebe ich auch meinen Kindern weiter. Die meisten Mädchen haben keinen weiteren Kontakt zu anderen, mit wem sollen sie also über ihre Probleme reden? Oft sind sie z.B. frustriert darüber, dass die Jungen mehr machen dürfen als sie. Darüber haben wir auch geredet an dem Wochenende. Die Mädchen haben dann gesagt: »Ich dachte, das sei nur mein Problem, aber ich sehe, damit bin ich nicht allein.«

Jetzt gibt es diese Gruppe seit zwei Jahren, und sie haben Verbindungen hergestellt, sie treffen sich und übernachten zusammen, sie rufen mich auch an, wenn sie Probleme haben. Als wir mal über FGC redeten, stellte ich fest, dass die Mädchen überhaupt nichts darüber wussten. Das Problem ist dann aber, wie z.B. die Schule mit dem Thema umgeht. Da haben einige Mitschülerinnen ein Mädchen aus Somalia gefragt: »Bist du verstümmelt?« Was meinst du, wie sie sich dann fühlt? Daran denkt keiner, wie sich diese Mädchen dann fühlen. Das berührt sie in ihrer Intimssphäre. Da kommt ein Mädchen zum Arzt, und weil der vielleicht gestern was darüber im Fernsehen gesehen hat, fragt er sie: »Bist du auch verstümmelt?«

Wie gehen Sie mit der Problematik der Begriffe um? Benutzen Sie den Begriff »Verstümmelung«?

Barre-Dirie: Wir versuchen, das sehr differenziert zu sehen und die Sprache der jeweiligen Frau zu benutzen. Wenn ich mit einer somalischen Frau spreche, benutze ich die somalischen Begriffe. Dann muss ich ein Wort wie »Verstümmelung« gar nicht benutzen. Aber wenn ich eine Frau hier auf deutsch oder englisch frage, sagen alle: »Ich bin beschnitten.« Das muss man respektieren. Kein Mensch will hören, wenn ihm ein Arm fehlt, er sei verstümmelt. Warum soll ich das diesen Frauen sagen?

Was halten betroffene Frauen davon, dass Sie den Begriff »Verstümmelung« im politischen Kontext benutzen?

Fana Asefaw: Es gibt afrikanische Aktivistinnen, die den internationalen Begriff FGC oder »weibliche Genitalverstümmelung« im politischen Kontext verwenden, aber wenn man mit den Betroffenen über das Thema sprechen und Aufklärungsarbeit betreiben will, sollten neutrale Begriffe wie FGC oder »Beschneidung« verwendet werden, aus Respekt vor ihnen und auch, um einen sachlichen Dialog führen zu können. Meiner Meinung nach kommt es zwischen den von FGC Betroffenen und den meisten westlichen Aufklärern oder FGC-Gegnern kaum zu einem Dialog, weshalb die Diskrepanz zwischen der Fremddefinition und der Eigendefinition so deutlich wird und wahrscheinlich auch bisher die internationalen Bemühungen um die Beendigung von FGC eher wenig effizient sind.

Was halten Sie davon, wie mit dem Thema in den Medien umgegangen wird?

Asefaw: Das kritisieren wir deutlich. Es ist sensationslüstern, es ist voyeuristisch, es ist inakzeptabel. Schwarze Frauen können damit nichts anfangen. Neulich kam ein Film, der eine Beschneidung zeigte, das Mädchen lag da mit gespreizten Beinen, das Blut spritzte. Wahrscheinlich haben die armen afrikanischen Eltern Geld bekommen, damit sie das filmen lassen, anders kann ich mir das nicht erklären. Ich kann das nur als Perversion ansehen. Das ist versteckter Rassismus. Sie stellen es als das grausame Ritual dar, primitiv. Was man aus der Kolonialzeit eben kennt. Warum fokussieren die Weißen sich so auf dieses Sensationslüsterne? Warum kann man das nicht neutral im Kontext der Gesellschaft darstellen? Sie sagen zwar, sie wollen helfen, aber wem wollen sie helfen? Wollt ihr euch selber darstellen, wie zivilisiert ihr seid, oder wollt ihr uns helfen?

Barre-Dirie: Ich habe einen Mann kennen gelernt, der nach Afrika reisen und Fotos von FGC machen wollte. Ich sag mal, Kindesmissbrauch gibt es überall auf der Welt. Aber hast du jemals im Fernsehen einen Kindesmissbrauch gesehen, um die Leute aufzuklären? Warum macht man das also bei FGC? Stell’ dir vor, ich möchte einen Bericht machen über Kindesmissbrauch in Deutschland. Ich möchte Fotos machen und zahle einer Familie Geld, damit ich den Kindesmissbrauch filmen kann. »Halt mal dem Kind die Beine fest, damit der Winkel der Kamera stimmt.« Wenn jemand sagt, er wolle was dagegen machen und trotzdem eine Beschneidung filmt – das kann er jemand anderem erzählen. Wenn ich dagegen bin, bin ich dagegen und filme es nicht. Wo ist das Recht dieses Kindes?

Asefaw: In ihrer Gesellschaft waren sie okay, die hatten andere Probleme, die haben Hunger, die haben Krieg usw. Dann kommen sie nach Europa und hören von allen Seiten, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Gerade junge Mädchen haben damit viele Probleme, weil sie sich mit der deutschen Sicht auseinandersetzen müssen. Plötzlich stellt ein Mädchen alles in Frage. »Bin ich doch verstümmelt? Hat meine Mutter mir das angetan? Habe ich sexuelle Probleme?« Und plötzlich entwickelt es Probleme, die vorher nicht da waren. Keiner hilft ihm, das zu verarbeiten.

Niemand hat Verständnis dafür, dass ich plötzlich nicht mehr weiß, wer ich bin. Durch die Beschneidung ist das Mädchen zu einer stolzen Frau geworden oder wurde sozial integriert. Deshalb fand sie diese Prozedur okay. Kommt sie hierher, wird ihr erzählt, dass sie keine richtige Frau sei, weil sie keine Klitoris hat. Du bist nur eine halbe Frau, du fühlst nichts beim Sex. Deshalb überlege ich, ob es nicht gut wäre, mal eine Frau im Fernsehen zu zeigen, die sagt: »Ich bin beschnitten, deshalb fühle ich mich gut.« Also, was wollen wir erreichen? Wenn mir jemand sagt, Afrika sei grausam und barbarisch, dann gehe ich weg, dann höre ich nicht mehr zu. Aber sie fokussieren nur auf diesen Punkt, auf das Geschlechtsteil der Frau, doch dass sie sich trotz ihrer Beschneidung als vollwertig, weiblich, zufrieden und stark fühlen kann, scheint unverständlich. Sie stellen sie nur als Objekt dar, das ist das Rassistische daran. Wenn man einen sexuellen Missbrauch von weißen Mädchen in den deutschen Medien debattiert, wird eine sensible Art der Darstellung deutlich, denn es könnten viele Mädchen und Frauen als potenzielle Missbrauchte sich damit identifizieren, oder in der Tamponwerbung wird das Blut mit einer blauen Farbe dargestellt und nicht mit einer roten, Blut ist bekanntlich rot, doch es geht hierbei um Identifikation und Schutz der betroffenen deutschen Frauen, die sich mit all dem identifizieren könnten.

Stellen Ihnen Ihre Töchter Fragen zu diesem Thema?

Barre-Dirie: Meine Töchter sind damit aufgewachsen, weil ich mich seit ihrer Geburt damit beschäftige. Das habe ich auch nie vor ihnen versteckt, sie sind auch oft bei meiner Aufklärungsarbeit dabei.

In Europa wird den betroffenen Frauen gesagt, sie seien keine »richtigen Frauen«, während sie in Afrika beschnitten wurden, um »richtige Frauen« zu werden.

Barre-Dirie: Ja. Ich traf kürzlich eine ältere Dame aus Afrika. Als ich ihr die Hand geben wollte, hat sie ihre Hand zurückgehalten, weil sie dachte, ich sei nicht beschnitten. Sie sagte: »Ich will ja nicht in die Hölle kommen, weil ich einer unbeschnittenen Frau die Hand gebe.« Die Frau fühlt sich als »richtige Frau«, weil sie beschnitten ist. Diese Frauen sind auch stolz darauf und haben mit dem Thema kein Problem.

Welche Bedeutung hat die Beschneidung für den Übergang vom Mädchen zur Frau?

Asefaw: Das hat nicht in allen Gesellschaften die gleiche Bedeutung. Manche werden in der Pubertät beschnitten, andere als Säuglinge, im Kleinkindalter, wieder andere vor der Hochzeit, vor der ersten Geburt etc. Dabei wird natürlich daran gedacht, dass das Mädchen mal eine Frau wird, aber das hat nicht unbedingt etwas mit dem Übergang zu tun. Es ist also nicht bei allen ein Initiationsritual. Aber in allen diesen Gesellschaften gehört eine nicht beschnittene Frau nicht wirklich dazu und ist keine richtige Frau. Wie eine Nichtgetaufte in einer christlichen Gemeinschaft. Das muss man sich vorstellen wie in Europa vor hundert Jahren. Da wurde Mädchen auch erzählt: »Wenn du masturbierst, bekommst du Tuberkulose oder andere schlimme Krankheiten.« Und da gab es auch medizinische Eingriffe. Mädchen wurden beschnitten, weil sie masturbiert haben.

Das wurde in den USA bis in die vierziger Jahre praktiziert, ohne dass die Medizingeschichte bis heute dazu Stellung nimmt. Was wird den Mädchen über FGC erzählt? Wissen sie, was mit ihnen passieren wird?

Barre-Dirie: Ja, das wissen sie schon.

Fragen sie andere Mädchen, was eigentlich passiert?

Barre-Dirie: Es kommt darauf an. Manche Gesellschaften machen Gruppenbeschneidungen, manche beschneiden die Mädchen einzeln. Aber auch wenn sie die Schmerzen ihrer Schwestern oder Freundinnen mitbekommen haben, wollen sie das machen und laufen nicht fort. Denn vorher sind sie ja nur kleine Mädchen, und sie wollen machen, was die Großen machen. In einigen Gesellschaften gibt es große Feste, und die Mädchen bekommen Geschenke und Goldschmuck. Über die Schmerzen sagt man ihnen aber nichts.

Wie nennen Sie in Ihrer Sprache die Beschneidung?

Asefaw: Es gibt Begriffe, die übersetzt »Beschneidung« bedeuten, aber man denkt da nicht an Messer und ans Schneiden.

Barre-Dirie: Bei uns in Somalia bedeutet es: »Du wirst sauber gemacht.« Was da allerdings schmutzig sein soll, sagt dir kein Mensch.

Es gibt auch Gesellschaften, in denen man sich Narben beifügt, und da steht der Schmerz auch nicht im Vordergrund, oder?

Asefaw: Genau. Kein Mensch tut das ja, um jemanden zu verletzen. Das ist Nebensache. Es ist ein Schönheitsideal.

Es gibt ja auch immer verrücktere Schönheitsoperationen bei Weißen, die massive körperliche Beeinträchtigungen und Risiken mit sich bringen, trotzdem werden sie immer populärer. Es werden Schamlippen verkleinert oder symmetrisch gemacht, bei intersexuellen Menschen werden die Geschlechtsteile oft mit drastischen medizinischen Eingriffen vereindeutlicht.

Barre-Dirie: Ja, Korsette, Stöckelschuhe, Piercings, das bereitet auch Schmerzen. Das muss man ertragen, wenn man in bestimmten Gruppen Anerkennung will.

Wenn Mädchen Schmerzen wegen Entzündungen haben, können sie das ihren Eltern erzählen oder machen sie das eher mit ihren Freundinnen aus?

Barre-Dirie: Man muss ja erst mal die Verbindung herstellen zwischen der Beschneidung und den Beschwerden. Wenn es Schmerzen hat, kann das Mädchen das nicht verheimlichen, die Mutter bekommt das mit und versucht auch zu helfen, zu Ärzten zu gehen oder Kräuterwickel zu machen. Ich habe aber erlebt, dass Frauen es verheimlichen, wenn sie Hämatome und Geschwülste bekommen, weil sie sich schämen.

Asefaw: Arztbesuche sind in afrikanischen Gesellschaften nicht so üblich wie hier, aus verschiedenen Gründen, es wird erst mal versucht, das Problem mit Vertrauten und Freundinnen zu lösen. Bei manchen infibulierten Frauen, die nach Europa kommen, meinen Ärzte, man könne die einfach aufmachen und dann sei alles wieder in Ordnung. Wenn du ihnen das vorschlägst, sind sie ganz entsetzt. »Warum soll man mich ›aufmachen‹, hat doch alles geklappt?« Denn sie würde sich ja schlecht und schmutzig fühlen, wenn man sie einfach ohne Grund aufmachen würde. Sie wüsste nicht, wofür.

Wie reden die Frauen über das Thema?

Asefaw: Also bei der einen Ethnie, in der der Ehemann in der Hochzeitsnacht die Frau öffnen muss, da erzählt oft die Brautjungfer, die Freundin, die schon die Erfahrung gemacht hat, der Braut vor der Hochzeit, was passieren wird. Die ist dann für sie da: »Sei tapfer, das schaffst du schon, ich steh’ dir bei.« Genauso ermutigt ein Freund den Bräutigam, was er am besten tut in der Hochzeitsnacht. So wird es immer weitergegeben, aber immer nur in derselben Generation. Die wissen schon, was passiert, und gehen nicht unvorbereitet da durch. Doch man redet nicht so in der Öffentlichkeit darüber.

Wie werden die Kinder denn allgemein aufgeklärt?

Barre-Dirie: Die afrikanische Gesellschaft ist eine offene Gesellschaft. Die Familien sind nicht klein und Kinder werden von vielen Personen erzogen. Deshalb bekommst du das mit, wenn vielleicht eine große Schwester ihre Blutung hat. Aufklärung in dem Sinne, dass dir das erklärt wird, gibt es aber nicht. Ich habe auch meine Töchter nicht aufgeklärt. Die Große hat das von ihren Freundinnen mitbekommen und die Kleine von der Großen. Sie sehen ja auch, dass die Mädchen sich verändern, dass sie Brüste bekommen und anfangen, BHs zu tragen.

Reden die Väter mit ihren Töchtern darüber?

Barre-Dirie: Nein. Sie wissen auch oft nicht so genau, was da passiert. Mir hat mal ein Mann erzählt, wenn eine Frau schwanger ist, soll sie wenig zu essen bekommen, damit das Kind bei der Geburt nicht so groß ist und besser durch die Vagina passt.

Asefaw: Zwischen Mann und Frau gibt es keine Kommunikation über Sexualität in dem Sinne. Aber wenn ich meine Patientinnen hier anschaue, haben die meisten sexuelle Probleme in ihrer Partnerschaft, sie reden nicht darüber. Es gibt zwar viel Pornographie und Sexfilme, doch in vielen Partnerschaften gibt es auch keine Kommunikation über ein erfüllteres Sexualleben.

interview: sarah diehl

Das Interview ist dem folgenden Band entnommen: Sarah Diehl: Brüste kriegen. Verbrecher Verlag 2004, Berlin, 208 S., 13 Euro