Das Praxis-Experiment

Wie jugoslawische Philosophen versuchten, die Welt zu verändern, und ihre Hoffnungen in der Negation verschwanden. Ein Rückblick auf das Jahrzehnt der Praxis-Gruppe von 1964–1974. von boris kanzleiter, belgrad

Gedenktage und Jubiläen sind oft eine trügerische Angelegenheit. Nicht wegen der Ereignisse, deren gedacht wird, sondern aufgrund der Form, in der dies geschieht. Ob es um aufregende politische Geschehnisse oder den Geburtstag einer prägenden Persönlichkeit geht, das Muster ist meist ähnlich: Unter dem Vorwand, an ein besonderes Ereignis zu erinnern, vergewissert sich ein bestimmtes Publikum seiner eigenen Position. Der Blick auf die Vergangenheit soll dabei Identität und Legitimität stiften. So sagen die Erinnerungsaktivitäten meist mehr über das Hier und Heute als über ihren historischen Gegenstand. Diese Beobachtung kann auch umgedreht werden: Wenn geschwiegen wird, obwohl erinnert werden könnte, muss etwas vergessen gemacht werden, das in der Gegenwart unangenehm, unpassend und vielleicht sogar gefährlich scheint.

Ein solches verdrängendes Schweigen legte sich im vergangenen Jahr über das intellektuelle Leben zwischen Ljubljana, Zagreb und Belgrad, den städtischen Zentren des ehemaligen Jugoslawien. Und das, obwohl es mehr als einen Anlass gegeben hätte, an ein philosophisches Experiment zu erinnern, dessen Bedeutung weit über die Grenzen des einstmals sozialistischen Landes hinausging. An ein Experiment im Inneren der jugoslawischen Gesellschaft, das die erstaunlichen Möglichkeiten menschlicher Emanzipation skizzierte und dessen Scheitern in ihrer nahezu totalen Negation mündete. Die Rede ist von der theoretischen Grundlegung einer jugoslawischen »Philosophie der Praxis« und ihrer Umsetzung in ein politisches Projekt, das aufklärerischen Rationalismus mit einem humanistischen Sozialismusbegriff verband. Was heute angesichts des Elends einer in Zerschlagung und Suizid gescheiterten Linken anachronistisch erscheint, war zwischen 1964 und 1974 in Jugoslawien ein lebendiger Versuch, dessen Optimismus in der Zeit fortwährender Zersetzung verblüfft.

1964 – »radikale Kritik alles Bestehenden«

Die »radikale Kritik alles Bestehenden« als methodisches Postulat, so lautete der Konsens unter den führenden Philosophen und Sozialwissenschaftlern an den Universitäten in Zagreb und Belgrad, die im September 1964 die erste Nummer der »philosophischen Zeitschrift Praxis« herausgaben. Die »Praxis-Gruppe« – so wurde der in sich widersprüchliche und vielfältige Zirkel der Herausgeber bald genannt – hatte sich nichts weniger zur Aufgabe gestellt als die Neuformulierung eines »humanen, demokratischen Selbstverwaltungssozialismus«, der den vorherrschenden »stalinistischen Positivismus« des sowjetischen Schulmarxismus und seiner Apologie als »Ideologie des techno-bürokratischen Etatismus« verwarf.

»Sozialismus ist die einzige menschliche Lösung, die der Menschheit und den Problemen, mit denen sie kämpft, zur Verfügung steht«, heißt es im Editorial der ersten Nummer. Und mit Blick auf den offenkundigen Autoritarismus der sich sozialistisch nennenden Gesellschaftssysteme: »Eine der grundsätzlichen Ursachen für den Mangel an Erfolg und die Deformation der sozialistischen Theorie und Praxis im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte muss in der mangelnden Aufmerksamkeit für die ›philosophische Dimension‹ der Marxschen Gedanken und der offenen oder verschleierten Negation ihrer humanistischen Essenz gesucht werden.« So leitete Praxis – bald auch in einer internationalen Ausgabe – eine breite Rezeption des »jungen Marx«, seiner »ökonomischen und philosophischen Manuskripte« und »Thesen ad Feuerbach« ein, die auch im Westen ein Grundstein für die Formulierung der Positionen einer kritischen, undogmatischen Linken wurden. Zum Kernpunkt wurde die Erkenntnis erklärt, dass »menschliches Sein« nur durch »freie schöpferische Tätigkeit« – jenseits von »Entfremdung« und »Verdinglichung« – realisiert werde, »durch die der Mensch seine Welt und sich selbst schafft«, wie der Zagreber Professor Gajo Petrovic, einer der Praxis-Gründer, schrieb. Die Philosophie wurde folgerichtig als »Denken der Revolution« verstanden.

Praxis erschien 1964 nicht aus dem Nichts. Bereits 1960 war auf dem jährlichen Kongress der jugoslawischen Philosophen im slowenischen Bled der »mechanistische Determinismus« des dogmatischen Marxismus verworfen, und bereits im Jahrzehnt zuvor waren die Vorarbeiten für diese radikale Wende geleistet worden. Statt das menschliche Bewusstsein lediglich als subjektive Widerspiegelung einer objektiven Wirklichkeit zu verstehen, betonten die jugoslawischen Philosophen die Möglichkeiten des handelnden Subjektes. In Verbindung mit Georg Lukacs’ Frühwerk »Geschichte und Klassenbewusstsein« und Elementen der Kritischen Theorie – freilich mehr von deren »linkem Dissidenten« Herbert Marcuse als von den »Skeptikern« Max Horkheimer und Theodor W. Adorno – wurde die Kritik der »Entfremdung«, des »Geld- und Warenfetischismus«, »technokratischer und bürokratischer Herrschaft der Apparate« und der »Verdinglichung« des Menschen in den modernen Gesellschaften in Ost und West zum Stichwort der Diskussion. Mit der Organisation einer jährlichen internationalen Sommerschule auf der schroffen Adria-Insel Korcula suchten die Praxis-Philosophen ab 1963 den Kontakt mit Diskussionspartnern in aller Welt. Und die gab es: Bald wurde »Korcula« zum Synonym für den Aufbruch der internationalen Linken in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, und von Marcuse über Henri Lefebvre und Agnes Heller bis zu dem Trotzkisten Ernest Mandel kamen alle, die etwas zu sagen hatten.

Sonderfall Jugoslawien

Diese Wende zu einer offenen und kritischen Marx-Interpretation war einmalig in einem sozialistischen Land. Aber Jugoslawien stellte eben einen Sonderfall dar. Bereits 1948 war es zwischen den Tito-Kommunisten und der von Moskau gelenkten kommunistischen Weltbewegung zu einem irreparablen Bruch gekommen. Hatte das Zerwürfnis vor allem machtpolitische Hintergründe, sahen sich die jugoslawischen Kommunisten bald auch zu einer theoretischen Neufundierung ihrer Politik genötigt. 1950 wurde die »Arbeiterselbstverwaltung« als eine Form der »direkten Produzentendemokratie« proklamiert, die ein schnelles »Absterben des Staates« ermöglichen sollte. Die Realität hielt den Versprechen freilich auch in Jugoslawien zu keinem Zeitpunkt stand, klammerte sich die Partei doch an ihre politische Monopolstellung und erreichte die Arbeiterselbstverwaltung in ihrer konkreten Form mehr die Dezentralisierung bürokratischer Kontrolle als deren Aufhebung.

Dennoch war Jugoslawien anders. Insbesondere als die Partei zu Beginn der sechziger Jahre einen Liberalisierungskurs einschlug, barg die ideologische Festlegung auf die Selbstverwaltung die Möglichkeit, die offizielle Kritik am Sowjetsozialismus auch auf die eigene Realität des »inneren Stalinismus« anzuwenden. Die Praxis-Philosophen konnten so, an ideologische Grundlagen der Partei anknüpfend, mit der Thematisierung von »Entfremdung« und »Verdinglichung« gleichzeitig weit über sie hinausweisen. Sie betraten den schmalen Grad zwischen dem Formulierbaren und der Dissidenz. Was das Praxis-Experiment dabei schützte, war nicht nur der schnell erworbene gute Ruf unter linken Intellektuellen im Ausland, sondern auch die unbestrittene persönliche Integrität ihrer Herausgeber, von denen einige – wie Rudi Supek, der im KZ Buchenwald eine Gefangenenorganisation aufgebaut hatte – im Widerstand gegen die Deutschen gekämpft hatten.

Die Revolte des Juni 1968

Die Nagelprobe kam am Abend des 2. Juni 1968, als im riesigen Belgrader Neubaustadtteil Novi Beograd die Revolte der Studenten begann. Hunderte Jugendliche wollten an diesem warmen Sommersonntagabend ein Konzert besuchen, für das es nicht genügend Eintrittskarten gab. Als es am Einlass zu Tumulten kam, war schnell die Miliz zur Stelle, um Ordnung zu schaffen. Eine eskalierende Straßenschlacht war die Folge. Die Miliz prügelte unterschiedslos auf die aus den nahe liegenden Studentenwohnheimen zusammenströmenden Jugendlichen ein und feuerte mit scharfer Munition. Die Empörung war groß, und sie wurde noch größer, als sich das Szenario am folgenden Vormittag bei einer spontanen Protestdemonstration wiederholte. Nun gab es kein Halten mehr. Der Generalstreik des Pariser Mai war gerade vorbei, in den USA und in Deutschland tobten Straßenschlachten, und auch in Warschau und Prag waren die Studenten schon auf der Straße gewesen. Die Belgrader Studenten hatten die internationale Revolte aufmerksam verfolgt und sahen nun ihren Augenblick gekommen: Am Nachmittag des 3. Juni besetzten sie die Fakultäten der Universität, bildeten Aktionsausschüsse und proklamierten den Streik. Ihre Hochschule tauften sie um in »Rote Universität Karl Marx«.

In den folgenden Tagen kam es zu einem nie gekannten Ausbruch von Spontanität und Kreativität und gleichzeitig zu einem Nervenkrieg. In den von der Miliz umstellten Fakultätsgebäuden diskutierten Studenten, Professoren, herbeieilende Parteifunktionäre und Delegationen aus Zagreb, Sarajevo und Ljubljana, wo sich die Studenten mit ihren Kommilitonen solidarisierten. Schnell formulierten die Studenten ein »politisches Aktionsprogramm«, in dem sie eine »schnellere Entwicklung der Selbstverwaltungsbeziehungen«, die »Absetzung der bürokratischen Kräfte«, eine »Abschaffung von Privilegien« und »Demokratisierung« forderten. Erst als nach einer Woche Streik Staats- und Parteichef Tito vor die Fernsehkameras trat, das Engagement der Jugend lobte und zusagte, den Studenten entgegenzukommen, ließen sie sich zur Wiederaufnahme des Lehrbetriebs überreden.

Für die Praxis-Professoren hatte der Aufstand gezeigt, dass in der jugoslawischen Nachkriegsgesellschaft eine Generation herangewachsen war, die sich durch einen »revolutionären Non-Konformismus« auszeichnete, wie Zagorka Golubovic, Soziologieprofessorin an der Belgrader Universität, analysierte. Die Studenten fühlten sich kommunistischer als die kommunistischen Funktionäre und forderten die Verwirklichung dessen, was die Partei wortreich versprach. Unter Berufung auf die Ideen des Selbstverwaltungssozialismus rebellierten sie gegen seine ungenügende Realität. Die Hoffnung der Praxis-Intellektuellen auf die allmähliche Überwindung der Defizite des Systems schien sich in der Revolte der Jugend zu erfüllen.

Angriffe

Ganz anders reagierte die Partei. Tito und seinen alternden Genossen aus der Partisanenzeit war angesichts der Unruhen ein gewaltiger Schrecken in die Glieder gefahren. Die Rebellion konnte nicht so einfach als adoleszentes Fehlverhalten abgetan werden, formulierten die Streikenden doch sehr reale Probleme. Mit einer die Marktelemente stärkenden Wirtschaftsreform waren seit Mitte der sechziger Jahre die sozialen Ungleichheiten schnell gewachsen, die auch viele Arbeiter verärgerten. Die florierende Privilegienwirtschaft der Funktionärskaste sorgte seit jeher für Unmut. Auch Forderungen nach Demokratisierung waren ein heißes Eisen, seitdem 1954 der auf eine Pluralisierung des politischen Systems drängende Partisanenheld Milovan Djilas aus der Parteispitze ins Gefängnis verfrachtet worden war. Zugleich wurde seit 1966 in der Partei ein erbitterter Fraktionskampf geführt, bei dem sich »Konservative« und »Liberale« bekriegten, die Republiksführungen – vor allem im reicheren Slowenien und Kroatien – mehr Kompetenzen verlangten und sich dabei – vor allem in Zagreb – nicht scheuten, auch den überwunden geglaubten Nationalismus wieder zu aktivieren.

Um Ordnung zu schaffen, würgte die Parteispitze nach dem Juni 1968 die vorsichtige Liberalisierungspolitik wieder ab, ohne freilich die Probleme zu lösen. Die Repressionswelle war lang und widersprüchlich: Kaum hatte sich die Situation an der Universität etwas beruhigt, trat Tito ein zweites Mal an die Öffentlichkeit. Auf dem Kongress der Gewerkschaften beschuldigte er nun die Praxis-Gruppe, hinter der Revolte der Studenten zu stehen. Die Parteiorganisation der philosophischen Fakultät in Belgrad wurde ausgeschlossen. Die Professoren bezeichnete er als »Philosöphchen«, welche mit ihrem »Kritizismus« die Jugend »verderben«.

Gleichzeitig trat die kroatische Parteiführung an und identifizierte die Praxis-Anhänger in Zagreb – die sich vehement gegen den neu auftauchenden kroatischen Nationalismus wandten – demagogisch als »Unitaristen«, die dem »Zentralismus« in die Hände spielten. Ende 1971 eskalierte indes der nationalistische »Kroatische Frühling« so weit, dass nun Tito wieder selbst auf mehr Zentralismus drängte und die kroatische Parteiführung rüde absetzte. So wurden zwar tatsächlich »nationalistische Exzesse« gestoppt – wie es im Sprachgebrauch der Partei hieß –, zugleich aber auch die noch immer vorhandenen Spielräume aller anderen nonkonformen Gruppen schrittweise verschlossen. Nach langem Ringen an der Belgrader Universität erteilte das serbische Parlament am 28. Januar 1975 den acht »Praxis-Professoren« ein Lehrverbot. Die Zeitschrift war 1974 zum letzten Mal erschienen.

Negationen

40 Jahre seit der Gründung und 30 Jahre seit der Einstellung der »philosophischen Zeitschrift Praxis« sind mehr als ein Grund für eine Nachbetrachtung. Aber bis auf wenige Versuche der noch aktiven ehemaligen Herausgeber herrschte im vergangenen Jahr Stille. Liegt es daran, dass mit der Zerstörung des sozialistischen Jugoslawien der Bezugsrahmen und Gegenstand der Praxis-Kritik abhanden gekommen ist? Oder daran, dass nach der Ermordung von über 250 000 Menschen in den grausamen Kriegen der neunziger Jahre dem optimistischen Menschenbild der Praxis-Generation nur noch schwer etwas abzugewinnen ist?

Vielleicht. Aber das Schweigen hat noch weitere Gründe, die auch für die Zukunft nichts Gutes verheißen: Der ehemalige Praxis-Herausgeber Bozidar Jaksic meint, dass nach der Brutalität der vergangenen Jahre heute alles negiert werden müsse, was an die Existenz des sozialistischen Jugoslawien auch nur erinnert, selbst wenn es seine auf Demokratisierung drängende Dissidenz ist: »Mit der ›sozialistischen Last‹ werden auch die Ideen der Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit der Menschen und die Menschenrechte abgewiesen. Alles muss vernichtet werden, was nicht einen strikt nationalen Charakter hat. Die Träger universaler Ideen werden als ›Verräter‹ gebrandmarkt.«

Und Nebojsa Popov, ehemaliger Praxis-Herausgeber aus Belgrad, fügt hinzu, dass in einem Klima des »Rückfalls in den Naturzustand«, in dem so getan wird, als bestimme das »Schicksal« von auf Blut und Boden gegründeten »Stammesgemeinschaften« die Geschichte, kritisches Denken keinen Gegenstand mehr besitze. Denn: »Tatsächlich ist es der Kern, dass das kritische Denken die Offenheit der historischen Veränderungen gegen die These des Endes der Geschichte verteidigt.«

Hierin liegt vielleicht auch eine der heutigen Bedeutungen des »Praxis-Experiments« und seiner Negation, die wiederum weit über das gerne vergessene Jugoslawien hinaus weist. Denn möglicherweise ist diese zerbrochene Gesellschaft ja nur ein Spiegel, in dem sich vieles deutlicher zeigt, was anderswo bisher nur Tendenzen sind. Dazu gehört auch die unangenehme Tatsache, dass einer der im Ausland wohl bekanntesten Praxis-Professoren, Mihailo Markovic, Ende der achtziger Jahre aus den langen Jahren der politischen Quarantäne als ideologischer Wegbereiter des Nationalpopulismus Slobodan Milosevics wieder auftauchte.