»WTO abschaffen!« …

… bleibt eine legitime Forderung. Von Ulrich Brand

Die politische Forderung, die WTO oder andere internationale wirtschaftspolitische Institutionen abzuschaffen, wirkt heute absolut unsinnig und wie linker Schnee von gestern. In der Tat ist eine Perspektive verkürzt, die meint, das Böse (WTO & Co.) sei die Wurzel allen Übels und mit ihrer Abschaffung ginge die Überwindung globaler Macht- und Ausbeutungsverhältnisse einher. Wenn nur erst die internationalen Machtapparate wegfielen, könnten sich insbesondere die peripheren Länder zur Freude aller entwickeln. Nur, das behauptet ohnehin kaum jemand.

Vielmehr ist zu fragen: Wofür steht die WTO (wie auch Weltbank oder IWF), warum wird ihre Reform gefordert – und wer fordert sie wie? Eine progressive Position muss einige Sachverhalte und Ambivalenzen klären.

Erstens und vor allem sind WTO, IWF und Weltbank weiterhin Ausdruck eines neoliberalen Gesellschaftsumbaus – was insbesondere bedeutet: die Unterordnung sozialen Handelns unter den Imperativ internationaler Wettbewerbsfähigkeit und die Nicht-Infragestellung kapitalistischer Eigentums- und Produktionsverhältnisse. Die realen negativen Auswirkungen der Handelsliberalisierung im Agrar-, Textil- oder Gesundheitssektor sind weitgehend bekannt. In den letzten Jahren wird zudem deutlich, dass diese Entwicklungen mit offener Gewalt einhergehen.

Zweitens: Internationale Institutionen sind selbst Akteure. Die neoliberalen Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank in peripheren Ländern haben ganz erheblich zur Durchsetzung des Neoliberalismus beigetragen. Die WTO als »Kind der neunziger Jahre« ist die neoliberale Institution schlechthin. Die neoliberalen Institutionen haben zunehmend Legitimitätsprobleme. Daher der jüngste Schwenk Weltbank zur Armutsbekämpfung und Comprehensive Developments Frameworks oder der WTO zu einer so genannten Entwicklungsrunde. Die diversen »Umorientierungen« geschehen allerdings unter klaren Vorzeichen – nämlich ohne die neoliberalen Verhältnisse in Frage zu stellen.

Drittens: Gerade auf internationaler Ebene erleben wir heute eine »Refeudalisierung der Politik«, d.h. demokratische Entscheidungsprozesse, Transparenz und eine politische Öffentlichkeit fehlen fast vollständig. Das euphorische Gerede um Netzwerke ist unsinnig, solange nicht beachtet wird, dass die Internationalisierung politischer Prozesse vor allem in Grauzonen und weitgehend ohne Transparenz stattfindet. Ein Beispiel sind die Streitschlichtungsverfahren der WTO selbst, die »Daumenschraubenpraktiken« und green-room-Verhandlungen bei WTO-Ministerkonferenzen.

Ein Aspekt ist wichtig, um politische Gestaltungsspielräume einschätzen zu können: Eine Reformperspektive droht viertens – strategisch oder aus Überzeugung – dem Glauben aufzusitzen, die aufgeklärten Eliten von einem notwendigen Politikwechsel überzeugen zu können. Dahinter steht eine derzeit sehr wirkungsmächtige Annahme, nämlich dass »die« Politik den ökonomischen Globalisierungsprozess einzubetten habe. Damit stellt sich aber die Frage, welche Rolle Politik in den jüngsten Veränderungen spielt. Sie hat den neoliberalen Prozess aktiv mit vorangetrieben. Auch staatliches Handeln (und mehrheitlich zivilgesellschaftliches) misst sich an der Herstellung von internationaler Wettbewerbsfähigkeit des »eigenen« Standortes.

Gerade deshalb reicht der Appell an die herrschenden Kräfte, nun beim Uno-Entwicklungsgipfel einen »Neuanfang zu machen« und die »Chance zu nutzen«, nicht. Die neoliberalen Regierungen wissen genau, was sie tun. »Entwicklung«, »Umwelt« und »Armutsbekämpfung« sind etwas für Präambeln und Sonntagsreden. Im Kern geht es darum, die kapitalistische Eigentumsordnung weltweit abzusichern, Investitions- und Planungssicherheit zu schaffen und immer neue Bereiche der Kapitalverwertung zu erschließen. Die KleinbäuerInnen im Süden werden allenfalls als Kollateralschäden gesehen.

Die globalen sozialen Bewegungen sind weiterhin recht erfolgreich in der Delegitimierung der herrschenden neoliberal-militaristischen Globalisierung. Sie können sich auf die Fahnen schreiben, die festgefügten Machtverhältnisse zu politisieren. Um dies voranzutreiben, ist m. E. eine gut politisierbare Forderung jene nach der Abschaffung der Welthandelsorganisation WTO (und/oder von Weltbank und Weltwährungsfonds).

Auch wenn das zunächst ziemlich unrealistisch ist, können hiermit Argumente über die Verfasstheit des internationalen Systems transportiert werden. »Eine andere Welt ist möglich!« – aber das geht nicht mit WTO, IWF und Weltbank. Die hochgradig vermachteten Organisationen repräsentieren einen Politiktypus, der suggeriert, dass Probleme am besten »von oben« gelöst werden. Damit kommen all jene Kräfte unter Argumentationszwang, die meinen, diese Institutionen seien reformierbar. Marita Wiggerthale schreibt in der Frankfurter Rundschau vom 30. Dezember 2004 im Hinblick auf den vielfach verteidigten Multilateralismus der WTO, diese deshalb zu unterstützen, »ohne ihre neoliberale Ausrichtung kritisch zu hinterfragen, ist kurzsichtig und entwicklungspolitisch fatal«. Und in der Tat scheint die WTO heute vielen BeobachterInnen, die sie noch vor wenigen Jahren scharf kritisierten, angesichts des US-Unilateralismus als »kleineres Übel«.

Neben ihrer materiellen Macht – über finanzielle Ressourcen oder Rechtsetzungskompetenz – sind diese Organisationen auch »organische Intellektuelle« des Neoliberalismus. Denn hegemoniale, d.h. auch von den Beherrschten akzeptierte Verhältnisse müssen immer wieder hergestellt werden, was nicht zuletzt heißt: Kritik partiell aufzunehmen und zum dynamischen Moment zu machen, jedoch zur und unter Beibehaltung grundlegender Machtverhältnisse. Die immer wieder formulierten und trügerischen Reformhoffnungen von NGO werden zur Legitimationsfolie von WTO & Co. Denn offenbar sitzt ja die »globale Zivilgesellschaft« mit am Tisch, zeternd zwar, aber dennoch hoffend, vorschlagend, sich einladen lassend.

Aus einer radikalen Reformperspektive geht es zuerst darum, Spielräume zu öffnen, auch über Zuspitzungen. So verstanden, ist die Forderung, WTO, IWF und Weltbank abzuschaffen, legitim und wichtig. Von diesen Organisationen ist aus kritisch-emanzipativer Perspektive nichts zu erwarten. Im Gegenteil, ihre Abschaffung könnte Teil eines Prozesses sein, die bürgerlich-kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse und ihre aktuelle neoliberale Ausformung umfassend zu verändern.

Neben der Kritik muss insbesondere die Diskussion um Alternativen intensiviert werden. Emanzipative soziale Bewegungen sollten sich dabei nicht an das Schmieden alternativer Masterpläne machen. Genauso wenig sollten sie sich in die Lage von PolitikerInnen oder bürgerlichen Medien begeben und darauf beschränken, realpolitisch durchzudeklinieren, was die konkreten Für und Wider von WTO-Politiken sind.

Vielmehr geht es darum aufzuklären, Denk- und Handlungsräume zu öffnen, das offenbar Unsagbare zu formulieren, Sachverhalte auch mal provokativ zuzuspitzen, Menschen von der Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderungen und eigenem Engagement zu überzeugen. Denn die Debatte um die WTO darf sich nicht darin erschöpfen, wie vielleicht doch der ein oder andere Aspekt »reinverhandelt« werden kann oder dass die RegierungsvertreterInnen »eigentlich« Interesse an Umwelt und Entwicklung haben müssten. Die gesamte institutionelle Struktur und die darin geronnenen grundlegenden Orientierungen sind das Problem.

Die Auszüge entstammen dem Band: Ulrich Brand: Gegen-Hegemonie. Perspektiven globalisierungskritischer Strategien. VSA, Hamburg 2005. Ca. 200 Seiten, ca. 13,80 Euro. Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Das Buch erscheint Ende März.