Reclaim the Sozialamt!

raucherecke

»Sozialhilfe erhält nicht, wer sich selbst helfen kann. Zur Selbsthilfe gehört nach § 18 BSHG insbesondere der Einsatz der Arbeitskraft. Wer sich weigert, zumutbare Arbeit anzunehmen, hat keinen Anspruch auf Sozialhilfe (§ 25 BSHG).« Das Informationsblatt des alten Kreuzberger Sozialamts hängt noch an Ort und Stelle – allerdings mit einem irre grinsenden Clown modifiziert. Ansonsten befindet sich kein Gegenstand mehr dort, wo ihn die SachbearbeiterInnen bei ihrem Auszug nach der Einführung von Hartz IV zurückgelassen haben.

»Zumutbare Arbeit« ist seit der Besetzung durch die BewohnerInnen der geräumten Yorckstraße 59 unübersehbar im vollem Maße geleistet worden: An allen Wänden prangen Graffiti und politische Slogans. Sofas und andere Accessoires sind herangekarrt worden. Anstatt der grellen Neonröhren erleuchten kleine Scheinwerfer in milden Farben die tristen Gänge.

Der gesamte Südflügel des Bethanien, in dem die Behörde bis vor ein paar Monaten untergebracht war, wird an diesem Abend von einer tobenden Masse aus jungen Punks, Autonomen, Antifas, Althippies und normalen Jugendlichen in Beschlag genommen. Im Gang, wo früher SozialhilfebezieherInnen um ihren spärlichen Lebensunterhalt bangten, schmettert eine Punkband den Song »Demokratie ist Völkermord«. Bei Ohren betäubendem Krach und drückender Hitze lächeln ältere Semester milde darüber, »dass Punks es heutzutage auch nicht mehr so leicht haben zu provozieren«. Als beim Refrain »Demokraten sind Mörder« die Irokesenmeute zu wild pogt, fleht sie sogar der Sänger der hart gesottenen Punkcombo an, »doch mal friedlich zu sein«.

Ob sich die SachbearbeiterInnen vorstellen konnten, dass an ihrem Arbeitsplatz einmal eine solche Party stattfinden würde? Dass sich um den in einer Ecke angebrachten Wasserhahn durchgeschwitzte TänzerInnen sammeln, um an das begehrte Nass zu gelangen, während einem DJ der unter der ekstatisch tanzenden Menge bebende Boden zu schaffen macht? Dass auf dem Fensterbrett geknutscht und im ehemaligen Vorzimmer eine seit Hartz IV immer beliebtere Biermarke in großen Mengen ausgeschenkt wird? Wer weiß, welche Phantasien SachbearbeiterInnen im Sozialamt während ihrer Arbeitszeit entwickeln? Selbsthilfe mag zwar nicht ausreichen, um Sozialhilfe zu erlangen; zum politisch korrekten Abfeiern reicht sie allemal.

martin kröger