Verworfene Realitäten

Migration und Mobilität im Film. Von Martina Priessner

Wie kaum ein anderes Medium eignet sich das Kino zum Erzählen der Geschichten von Wanderungen, vom Weggehen und vom Ankommen, vom Leben in mehreren Kulturen. Kino kann Prozesse der Migration sichtbar machen.

Bisher spielt(e) in den meisten in der BRD produzierten Filmen das Leben von MigrantInnen, wenn überhaupt, nur klischeehaft eine Rolle. Auf diesem Feld der Darstellung ist in den letzten Jahren etwas in Bewegung geraten. Filme wie »Heimat« von Damir Lukacevic, »Auslandstournee« von Ayse Polat, »Urban Guerillas« von Neco Çelik, die Trilogie »Geschwister« – »Kardesler«, »Dealer« und »Der schöne Tag« – von Thomas Arslan, »Ich Chef, Du Turnschuh« von Hussi Kutlucan, »Plus Minus Null« von Eoin Moore, »Gegen die Wand« von Fatih Akin und »Kleine Freiheit« von Yüksel Yavuz, um nur einige zu nennen, stehen für eine neue Qualität von Filmen.

In diesen Geschichten werden die verschiedenen Facetten von Migration und Mobilität thematisiert und kritische Perspektiven auf selbstverständliche Begriffe wie nationale Zugehörigkeit oder Grenzen eröffnet. Dahinter steckt oftmals ein durch die eigenen Migrationserfahrungen geschärfter Blick, der die Komplexität von Lebensentwürfen, Differenzen und Widersprüche aufzeigt, die im weiterhin sehr mächtigen Bild vom »sprachlosen Migranten am Rande der Gesellschaft« keine Berechtigung haben.

Als folgten sie der Feststellung Ayse Polats, »Unsere Realität sieht anders aus« (Kulaoglu/Priessner 2000), arbeiten die FilmemacherInnen an der Darstellung bisher verworfener Realitäten und bringen so Bewegung in die Darstellung. »Kurz und schmerzlos«, der erste Film von Fatih Akin aus dem Jahr 1998, wird gerne an den Anfang dieser Bewegung gestellt, dabei markiert dieser Film keineswegs den Beginn. Er ist Teil einer Entwicklung, die bereits Mitte der neunziger Jahre ihren Ausgangspunkt hatte. Kurzfilme wie »Ein Fest für Beyhan« (1994) von Ayse Polat, »Totentraum« (1995) von Ayhan Salar und »Berivan« (1996) von Miraz Bezar stehen beispielhaft für erste Versuche, Klischees und stereotype Vorstellungen über migrantisches Leben in Frage zu stellen.

Vor allem im so genannten »Kino der Fremdheit« (Georg Seeßlen) wurden MigrantInnen vorwiegend als Opfer am Rande der Gesellschaft gezeigt. Diese frühen Filme, die im Gefolge der Arbeitsmigration in die Bundesrepublik ab Ende der sechziger Jahre entstanden sind, zeichnen sich durch die Abwesenheit von Normalität und alltägliche Muster aus. Insbesondere der türkische »Gastarbeiter« wird als mythische Figur – sprachlos und unfähig zu jeglicher Kommunikation – dargestellt. Filme wie »Katzelmacher« (1969) von Rainer Werner Fassbinder, eine frühe Studie über das Funktionieren von Vorurteilen, in der sich Fassbinder selbst als »Griech von Griechenland« inszeniert, kommen ohne Klischees, die das Bild des Einwanderers bestimmen, nicht aus. Das Sujet vom Migranten als sexueller Konkurrent kommt hier ebenso zum Einsatz wie das der Stummheit.

Das Bild von der Muslimin als Opferfigur, mit dessen Hilfe man sich der eigenen Fortschrittlichkeit versichert, findet man in »Shirins Hochzeit« von Helma Sanders-Brahms aus dem Jahr 1975. Auch die Filme »40 qm Deutschland« (1986) und »Abschied vom falschen Paradies« (1989) von Tevfik Baser funktionieren nach der bekannten Logik, in der die bundesdeutsche Gesellschaft als aufgeklärt und modern gilt, während das türkische Patriarchat archaischen Ritualen und Ehrbegriffen verpflichtet bleibt. Als »Betroffenheitskino« wurden diese Filme oft abgewertet, und trotzdem müssen sie als erste Versuche gelesen werden, die soziale Realität der Einwanderungsgesellschaft anzuerkennen und eine Bildsprache dafür zu finden.

Dass vor allem pflichtbewusste Problemfilme, leidvolle Geschichten vom Verlorensein zwischen den Kulturen, kurz, ein »cinema of duty« (Sarita Malik) entstanden ist, war auch das Ergebnis gängiger Filmförderstrukturen. So wurde Basers dritter Film »Lebewohl Fremde« (1990), der differenziert und sensibel eine Geschichte über die Beziehung zwischen einem Flüchtling und einer Frau erzählt, weitgehend ignoriert. Anscheinend sorgte die »differenzierte Herangehensweise an dieses Thema für Verwirrung und widersprach der vorherrschenden Stimmung in Deutschland« (Tunçay Kulaoglu) oder, wie Deniz Göktürk vermutet, »der Name Baser (war) zum Markenzeichen für die Darstellung von MigrantInnenelend geworden, so dass ihm kein Raum mehr blieb, andere Sujets zu erkunden«.

Im Laufe der Zeit gab es immer wieder Versuche von FilmemacherInnen, aus dem vorgegebenen Rahmen auszubrechen und andere Geschichten zu erzählen. Die Emanzipationsgeschichte »Yasemin« von Hark Bohm aus dem Jahr 1988 gehört ebenso dazu wie »Polizei« (1988) von Serif Gören und »Berlin in Berlin« (1995) von Sinan Cetin. Obwohl »Yasemin« als einer der erfolgreichsten Filme der achtziger Jahre zum Thema »deutsch-türkische« Verständigung gefeiert wurde, bleibt der Film herkömmlichen Bildern verhaftet. Die Momente in »Yasemin«, die aufscheinen lassen, wie selbstverständlich man in mehr als einer einzigen Welt zu Hause sein kann, werden letztlich überlagert von der Botschaft des Films, dass türkische Frauen aus ihrer Unterdrückung befreit werden müssen.

»Polizei« und »Berlin in Berlin« gehören zu den wenigen Ausnahmen, in denen türkisch-deutsche Begegnungen mit Leichtigkeit und Humor in Szene gesetzt und Stereotype aufgebrochen werden. Es wundert daher nicht, dass beide Filme außerhalb der deutschen Förderstrukturen entstanden sind.

Mit der Frage, wie Filme zu Interventionen im Kampf um Bedeutung werden können, die subversiv auf die Wahrnehmungen der KinobesucherInnen wirken, beschäftigt sich die Filmwissenschaftlerin Kaja Silverman in »Threshold of the visible world« (1996). Ihr theoretischer Versuch, eine »Ethik des Sehens« zu entwerfen, ermöglicht es uns, bestimmte Wahrnehmungsprozesse nachzuvollziehen und den Blick als etwas »Schöpferisches« zu begreifen. So können auch im Film »Berlin in Berlin« Momente festgehalten werden, die den gewohnten Ablauf, den Augenblick des Erkennens und Einsortierens, in seinem binären Ablauf zu stören vermögen und uns dazu bringen können, von einem veränderten Blickwinkel aus erneut hinzusehen.

Diese schöpferische Fähigkeit des Blicks steht allerdings einem starken kulturellen Anpassungsdruck, dem unser Sehen unterliegt, gegenüber. Bestimmte Darstellungsparameter haben wir so verinnerlicht, dass sie sich wie von selbst aufdrängen und wir die Bilder automatisch mit normativen Bedeutungen unterlegen. Gleichzeitig kann sich die Bewertung dessen, was wir sehen, durch bestimmte Einflüsse verändern. In der Darstellung lassen sich gender und race am besten in Frage stellen, denn auch auf diesem Terrain werden sie konsolidiert. Silverman betont dieses quasi utopische Moment, in dem sie unser Sehen als ein zeitliches begreift, das niemals etwas Abgeschlossenes und Unveränderliches ist.

Allerdings, so Silverman weiter, sei diese Umcodierung des Bilderrepertoires kein in erster Linie intentional herbeizuführender Vorgang, sondern ein Prozess, der sich vielmehr als nachträgliche bzw. verschobene Reaktion einstellen kann, ausgelöst durch die Konfrontation mit besonderen visuellen »Texten«, die dort ansetzen, wo uns der aktive, bewusste Zugriff verwehrt bleibe.

Insgesamt scheint mit diesen neuen Filmen auch ein Raum zu entstehen, der die bestehende Filmkultur transformiert und es einer wachsenden »Community« globaler MigrantInnen ermöglicht, die stigmatisierende Rede von der »verlorenen Heimat« zu überwinden und sich selbst in einem sinnvollen und kohärenten Universum wieder zu erfahren. Indem die FilmemacherInnen den stereotypen und naturalisierten Bildern über die Anderen eine eigene Bildsprache entgegensetzen, thematisieren sie auch die Frage des Zugangs zum Recht auf Repräsentation und zielen auf eine Veränderung der Repräsentationsverhältnisse.

Es zeichnet sich ein Filmschaffen ab, das sich selbstbewusst zwischen den Welten bewegt und Deutschland als das Einwanderungsland abbildet, das es nicht sein will. Gleichzeitig werden aber Feuilleton und Politik nicht müde, diese kulturellen Produktionen entlang ethnischer Kriterien zu kategorisieren, anstatt sich den inhaltlichen oder gar formalen Aspekten der Arbeiten zuzuwenden.

Als in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre einige dieser neuen Filme den Sprung auf die Kinoleinwand schafften und sie eine größere Öffentlichkeit wahrnahm, wurde sogleich der »Aufbruch aus dem Ghetto« herbeigeschrieben. Der Filmemacher Thomas Arslan kritisierte dagegen, dass diese Entwicklung von der Mehrheitsgesellschaft vor allem als folkloristisches oder exotisches Phänomen wahrgenommen würde. Hier hat sich, wie zuletzt die Reaktionen nach dem Berlinale-Sieg 2004 von Fatih Akins Film »Gegen die Wand« zeigten, nicht viel geändert. Bei der Pressekonferenz zu »Gegen die Wand« wurde Akin gefragt, wann er denn endlich eine deutsche Geschichte erzählen wolle.

Alle Texte dieses Dossiers wurden von den Herausgebern gekürzt. Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Interface (Hg.): WiderstandsBewegungen. Antirassismus zwischen Alltag und Aktion. Assoziation A, Berlin 2005. 408 S., 50 Fotos, 18 Euro. Das Buch erscheint dieser Tage.