Die Raum-Maschine

Ein kulturhistorischer Beitrag zum Mythos der Reichsautobahn. Von Benjamin Steininger

Die Autobahn polarisiert. Sie verbindet und zerschneidet gleichermaßen. Sie ist das größte und wichtigste Bauwerk Deutschlands, heiß geliebt und viel gehasst. Kein Supermarkt, keine Shopping Mall und kein Industriegebiet auf der grünen Wiese funktioniert ohne den gigantischen Waren- und Personenstrom, der von Null bis 24 Uhr zwischen magischen Orten wie »Kamener Kreuz«, »Ottendorf-Okrilla«, »Anschlussstelle Irschenberg« oder »Viernheimer Dreieck« pulsiert.

Und auch für die psychosoziale Verfassung einer Nation, die mehr ADAC-Mitglieder als Kinder zählt, sind die »blassgrauen Bänder«, auf denen weltweit einmalig Gas gegeben wird bis der Notarzt kommt, nicht zu unterschätzen. »Dauerstau«, »Feinstaub« und »TollCollect« heißen die Stichworte der aktuellen Debatte, mithilfe historischer Autobahnvokabeln wie »Waldsterben«, »Sonntagsfahrverbot« und »Leberplan« ließe sich die Geschichte der Bundesrepublik mühelos nacherzählen.

Die Herkunft des mittlerweile wiedervereinigten Verkehrssystems aber, das uns materiell wie gedanklich prägt wie kein anderes, wird nach wie vor vielfach verdrängt. Die landläufige Meinung wie auch die Forschung zur Geschichte der deutschen Autobahnen war jahrzehntelang von Stereotypen und deren mühsamer Bewältigung gekennzeichnet. Galten dem »Otto Normalverbraucher« – auch so eine Vokabel – die Autobahnen als feiner Nachweis, dass »unter Hitler nicht alles schlecht« gewesen sei, so war und ist jedem 68er klar, dass die Reichsautobahn niemals für andere Zwecke denn als Panzerrollbahn in die Landschaft betoniert wurde.

Allerlei Mythen mussten also beiseite geschaufelt werden, von Hartmut Bitomsky und anderen. Und am Ende war die vertraute Reichsautobahn fast vollständig verschwunden. Kaum ein ihr angehängtes Label hielt einer genaueren Prüfung stand. Weder hatte der Straßenbau in erheblichem Ausmaß die Arbeitslosigkeit verringert, noch wurde der Blitzkrieg über die Autobahn geführt, noch hatte Adolf Hitler überhaupt etwas mit der Erfindung dieses Verkehrssystems zu tun gehabt: vierspurige Schnellstraßen gab es innerhalb und außerhalb Deutschlands schon vor 1933. Eines der ersten autobahnähnlichen Stücke hatte ironischerweise ein Kölner Oberbürgermeister namens Konrad Adenauer veranlasst. Und als am 23. September 1933 der verschwitzte Reichskanzler mit großem Getöse bei Frankfurt am Main zum ersten Spatenstich schritt, hatte man auf längst baufertige Planungen des Hafraba e.V. aus der Weimarer Republik zurückgegriffen.

Was auf den Ideenklau folgte, war und wurde aber zunehmend echtes Nazigedankengut. Jenseits aller marktwirtschaftlichen, demokratischen und arbeitsrechtlichen Regularien wurden bis zum Baustopp im Winter 1941/42 unter der Regie von Fritz Todt, dem Nationalsozialisten der ersten Stunde und späteren Rüstungsminister, 3 870 km Hochgeschwindigkeitsfahrbahn zwischen Königsberg, Salzburg und Aachen gebaut. Und bald schon blühte rund um die spärlich befahrenen Straßen mit ihren natursteinverblendeten Talbrücken und blumengeschmückten Rastplätzen jede Menge symbolischer Überbau: Als einigendes Band der Nation, als Musterbeispiel gesunder »Deutscher Technik«, als Keimzelle ökologischen Planens wurde das Bauwerk bizarrerweise im Nazi-Verkehrsfachblatt Die Strasse gefeiert.

So fällt es leicht, die Reichsautobahn im nationalsozialistischen Kuriositätenkabinett gleich neben diversen Wunderwaffen und Görings Phantasieuniformen abzustellen. So einfach sollte man es sich aber nicht machen. Das Bauwerk »Reichsautobahn« prägt unser Verständnis vom Raum weit stärker und dauerhafter als die Propaganda von den »Straßen des Führers«. Auch wenn die Nationalsozialisten die Autobahn nicht erfunden haben, so bildeten die zwischen 1933 und 1942 entstandenen Strecken und mehr noch die dabei angewandten Techniken die Basis jeglicher Straßen- und Raumplanung in Ost- wie West-Nachkriegsdeutschland. Was in Betonbau, Kurvenberechnung und Netzstruktur entwickelt und erprobt worden war, funktionierte auch ohne völkische Kitschfassade im automobilen Wirtschaftswunder der Bundesrepublik, wie auch bei der etwas langsameren Motorisierung in der DDR.

Es lohnt sich also, endlich den technisch-urbanistischen Beitrag der Reichsautobahn zum mittlerweile mehr als 12 000 Kilometer langen Netz der Bundesautobahnen zu untersuchen und am historisch begrenzten Modell besser zu verstehen, wie der aktuelle Raum namens Deutschland und Europa eigentlich konstruiert ist. Einen derartigen Versuch stellt das Buch »Raum-Maschine Reichsautobahn« dar, aus dem dieses Dossier stammt. Wie man das Ohr auf die Schiene legt, um zu hören, ob ein Zug kommt, wird hier an den Betonplatten der Reichsautobahn technikarchäologisch erlauscht, welch noch heute bedeutsamer Zug einst über die Strecke fuhr.

Das Buch verfolgt dabei methodisch die Fragestellung, inwiefern das – mit Paul Virilios paradoxer Vokabel – »statische Fahrzeug« Autobahn überhaupt noch mit statischen Begriffen gebändigt werden kann. Es wird gezeigt, wie die vertrauten Unterscheidungen zwischen Natur und Technik, zwischen Stadt und Land, zwischen Fahren, Fliegen und Funken schon in den dreißiger Jahren von »post-statischen« Realitäten eingeholt wurden und wie für die Analyse damaliger und erst recht heutiger Raumfragen ein ganz neues Vokabular erst entwickelt werden muss.

Das historische Verkehrsprojekt »Reichsautobahn« erscheint so als keineswegs abgeschlossenes Kapitel, sondern erweist sich praktisch wie theoretisch als munterer untoter Ahne unserer heutigen, dauermobilen Transitlandschaft.