»Stell dich, Radovan!«

In Montenegro, nahe der Grenze zu Bosnien-Herzegowina soll sich Radovan Karadzic versteckt halten. von markus bickel

Dusko Koprivica ist sichtlich nervös. Den Kopf über die spiegelnde Glasplatte seines Schreibtischs gebeugt, drückt der Polizeichef von Niksic Zeige- und Mittelfinger fest gegen die Schläfen. »Sie schauen mich so misstrauisch an wie ein Polizist«, sagt der Mann, dem jene knapp 4 000 Quadratkilometer im Nordwesten Montenegros unterstellt sind, wo der wegen Völkermords gesuchte bosnisch-serbische Expräsident Radovan Karadzic vermutet wird. »Dabei erzähle ich Ihnen die Wahrheit.«

Die Wahrheit also. Die Wahrheit über den Aufenthaltsort jenes Mannes, der vor acht Jahren im nur 45 Autominuten von Niksic entfernten Felskloster Ostrog im Beisein des serbisch-orthodoxen Metropoliten Amfilohije seinen letzten öffentlichen Auftritt feierte. Dem die Chefanklägerin des Uno-Kriegsverbrechertribunals in Den Haag, Carla del Ponte, das Massaker von Srebrenica und mehr als ein Dutzend weitere Verbrechen während des Bosnien-Krieges zwischen 1992 und 1995 anlastet. Den serbische Nationalisten von Nis bis Novi Sad unbeeindruckt von Enthüllungen über die mörderische Rolle seines Regimes als Helden verehren. Kurzum, die Wahrheit über den meistgesuchten Mann Europas.

»Was erwarten Sie denn von mir?« fragt Koprivica in gespielter Entrüstung. »Dass ich den Wandschrank öffne und ihn heraushole?« 33 Dienstjahre, mehr als die Hälfte davon in Titos sozialistischem Spitzelstaat, hat der groß gewachsene Polizeichef mit dem kräftigen Schnauzer unbeschadet überstanden; allein um die eigene Existenz zu sichern, dürften seine Wahrheiten schleichendem Wandel unterliegen.

Zumal in einem so brisanten Fall: Seit der spektakulären Aufforderung von Karadzics Frau Ljiljana Zelen-Karadzic Ende Juli, sich freiwillig dem Haager Tribunal zu stellen, vergeht kaum ein Tag, an dem Medien in Montenegro, Bosnien und Serbien nicht mit neuen Gerüchten über mögliche Verstecke des 60jährigen aufwarten. Die wichtigste Übereinstimmung der teils abenteuerlichen, auf dubiose »internationale Sicherheitskreise« gestützten Berichte, in denen es von US-Spezialkräften und ausländischen Agenten nur so wimmelt, lautet: Karadzic halte sich in Koprivicas Verantwortungsbereich auf.

Der Polizeichef verwirft die Berichte unwirsch als »Ermittlungen von heißer Luft«, die auf frei erfundenen Szenarien, nicht auf Fakten fußten. Links neben seinem gut aufgeräumten Schreibtisch steht ein kleiner Reißwolf.

»Hundertprozentig sicher« sei er, beteuert der dem Innenminister in Podgorica direkt Unterstellte treuherzig, »dass Radovan Karadzic oder andere Kriegsverbrecher sich nicht auf montenegrinischem Territorium aufhalten – schon gar nicht in diesem Gebiet«.

Aber wo dann? Diplomaten der internationalen Protektoratsverwaltung im an Montenegro angrenzenden Bosnien-Herzegowina halten einen Aufenthalt in der Nachkriegsrepublik inzwischen nicht mehr für wahrscheinlich. Auch aus der seit Ende vorigen Jahres von einem EU-General geführten, 7 000 Mann starken Bosnien-Schutztruppe Eufor und dem Nato-Hauptquartier im Vorort der Hauptstadt Sarajevo, Butmir, hört man, die Spuren des Mitte 1995 erstmals Angeklagten hätten sich verloren.

Bis 2001 war das noch anders: Karadzics aus Leibwächtern der Kriegszeit, politischen und wirtschaftlichen Verbündeten gesponnenes Netzwerk, das alle Ebenen der bosnisch-serbischen Republika Srpska (RS) durchzog, ließ sich durch britische, deutsche, französische und US-Geheimdienste leicht überwachen. Zum einen, weil Handys benutzt wurden, zum anderen, weil der seit seinem Untertauchen äußerst produktive Kinderbuch- und Stückeschreiber damals wohl relativ viel reiste. Zudem fehlte in den Hauptstädten des Westens der politische Wille zum Zugriff, sodass das Refugium RS unangetastet blieb. In Zvornik, Visegrad, Foca und Trebinje konnte Karadzic sich lange Jahre sicher fühlen.

Unterschlupf fand der im urbanen Sarajevo der sechziger und siebziger Jahre zum Psychiater Ausgebildete bei der bäuerlich geprägten Bevölkerung an der Drina, dem Grenzfluss zu Serbien. Im Frühjahr und Sommer 1992 hatten Einheiten Karadzics und aus Belgrad geschickte Paramilitärs das Gebiet im Dreieck zwischen Zvornik, Foca und Trebinje »ethnisch gesäubert« – der Euphemismus für Mord und Vertreibung der bosnischen Muslime aus einem ihrer historischen Kerngebiete. Nur Srebrenica, Zepa und Gorazde blieben bis 1995 in muslimischen Händen; die, die vorher fliehen konnten, gingen nach Sarajevo oder Tuzla, und von dort in alle Welt.

In seiner Visegrader Stadtchronik »Die Brücke über die Drina« hat der Schriftsteller Ivo Andric dem multikulturellen Osten Bosniens ein literarisches, später mit dem Nobelpreis ausgezeichnetetes Denkmal gesetzt. Heute ist die Region fast ausschließlich serbisch besiedelt. Hier, auf den Ruinen der vom Volksdichter Karadzic einst zur »Schweiz des Balkan« ausersehenen Republika Srpska, begann 1996 das Katz- und Mausspiel mit den 60 000 Soldaten der Nato-Implementierungstruppe Ifor.

Obwohl ein internationaler Haftbefehl bereits seit Mitte 1995 vorlag, konnte der RS-Präsident Ifor-Checkpoints im ersten Jahr nach dem Friedensschluss von Dayton problemlos passieren. Das änderte sich erst, als der US-amerikanische-Balkan-Sondergesandte Richard Holbrooke ihn zum Rückzug aus dem öffentlichen Leben bewegte. Der Verdacht, diesen Schritt habe der Architekt des Dayton-Vertrags Karadzic nur durch die stillschweigende Übereinkunft abringen können, ihn unbehelligt zu lassen, ist bis heute nicht aus der Welt geschafft.

Aber wenn nicht in Bosnien, wo steckt der Mann dann?

Polizeistation Savnik, 40 Kilometer nordöstlich von Niksic, zwei Stunden sind seit dem Treffen mit Polizeichef Koprivica vergangen. In dem fast 1 000 Meter hoch gelegenen Bergort hat Karadzic in den vierziger und fünfziger Jahren seine Kindheit verbracht, ehe er mit den Eltern nach Niksic und später zum Studium weiter nach Sarajevo zog. »Rauchen verboten«, mahnt ein Schild an der Wand im Dienstzimmer von Miso Vujacic, doch der 32jährige Leiter der Ortsstelle gibt sich betont locker. Zwei, drei Gläschen des montenegrinischen Grappas Loza sind schnell ausgeschenkt, das Gespräch beginnt mit Anekdoten von der Bärenjagd in der unwegsamen Umgebung Savniks.

Als die Frage nach dem Verbleib des bekanntesten Sohnes der Stadt fällt, verzieht Vujacic kurz den Mund. Angestrengt blickt er auf einen kleinen Notizzettel mit eng aneinander gezwängten kyrillischen Buchstaben und wiederholt, was zuvor schon Koprivica behauptet hat: »Karadzic hält sich nach unserem Wissen nicht in Montenegro auf.« Der Vorgesetzte in Niksic hatte das Treffen in der abgelegenen 1 000-Seelengemeinde kurzfristig arrangiert, dabei jedoch offenbar übersehen, seinen Schützling auf Fragen über die Rolle der serbisch-orthodoxen Kirche vorzubereiten. Auf die Frage, ob er seine Einheiten auch in die umliegenden Klöster schicken würde, um Karadzic zu verhaften, reißt Vujacic entsetzt die Augen auf. Polizeiliche Maßnahmen gegen die Schutzmacht der orthodoxen Christen? Für den treuen Nachwuchskader ist das undenkbar.

Klöster und Kirchen reihen sich in den von tiefen Schluchten und unzugänglichen Tälern durchzogenen schwarzen Bergen Montenegros aneinander wie Perlen einer Kette. Zagrada, Piva, Jovan Do und Ostrog heißen die Mönchssitze, die entlang der Hauptstraße vom bosnisch-montenegrinischen Grenzübergang Scepan Polje über Niksic nach Podgorica liegen. Es sind ideale Schlupfwinkel für den anderthalb Jahre nach Ende des Bosnien-Krieges Untergetauchten. Denn spätestens seit der gescheiterten Festnahme durch Spezialkräfte der Eufor-Vorgängertruppe Sfor im Bergdorf Celebici im Frühjahr 2002 dürfte ihm der Aufenthalt in der Republika Srpska zu riskant geworden sein.

An der Spitze der Sfor stand damals der US-amerikanische Drei-Sterne-General John Sylvester, der die Verhaftung Karadzics als erster hochrangiger Militär seit dem Einzug der ausländischen Truppen ganz oben auf die Agenda der Schutztruppe gesetzt hatte. Unter seinem Kommando versuchten Sondereinheiten mehrfach, Karadzic zu fassen. Ohne Erfolg, aber nicht ohne Folgen: Bosnisch-serbische Politiker erhoben Beschwerde, weil sie sich wegen der ständigen Zugriffe in ihren Regierungswagen nicht mehr sicher fühlten. Die Luft in Bosnien wurde für Karadzic dünner.

Hinzu kamen die administrativen Schritte der seit Frühjahr 2002 vom Hohen Repräsentanten Paddy Ashdown geführten Protektoratsbehörde in Sarajevo. Wegen Unterstützung von Karadzic und anderer mutmaßlicher Kriegsverbrecher entließ der einstige britische Elitesoldat im letzten Sommer fünf Dutzend bosnisch-serbische Amtsträger – vom RS-Parlamentspräsidenten in Banja Luka bis zu lokalen Funktionären der von Karadzic gegründeten Serbisch-Demokratischen Partei (SDS) in Pale, Foca und Bijeljina. Die Konten seit Jahren bekannter Hintermänner wurden gesperrt.

Eine Welle von Repressalien, die selbst engste Familienangehörige nicht verschont ließ: Im Juli, kurz vor dem zehnten Jahrestag des Massakers von Srebenica, verhafteten US-Einheiten Karadzics Sohn »Sascha« Aleksander und verhörten ihn fast zwei Wochen lang an einem bis heute geheim gehaltenen Ort. Wenige Tage nach der Entlassung folgte der Appell von Ljiljana Zelen-Karadzic, freiwillig nach Den Haag zu gehen. »Radovan, falls du lebst, mich hören und frei entscheiden kannst, stell dich um deiner Familie willen«, flehte sie ihn in einem knappen, im serbischen und bosnischen Fernsehen übertragenen Statement an. Noch kurz zuvor hatte sie wie andere Familienmitglieder behauptet, ihr Mann würde sich niemals in die Obhut der internationalen Justiz begeben.

Bestärkt durch den emotionalen Auftritt seiner Frau, begehrte auch die über Jahre eingeschüchterte bosnisch-serbische Öffentlichkeit gegen Karadzics Versteckspiel auf. In einer ganzseitigen Zeitungsanzeige appellierte im August eine Initiative, die sich »Gesellschaft für moderne Politik« nennt, an den Gesuchten: »Radovan, rette deine Familie und uns alle!«, gefolgt von der unverblümten Aufforderung: »Stell dich!«

Ein Jahrzehnt internationaler Isolation scheint selbst die treuesten Anhänger Karadzics innerlich zermürbt zu haben. Nach den Massenentlassungen durch Ashdown im Sommer 2004 und dem Eingeständnis der SDS-Regierung in Banja Luka, bosnisch-serbische Soldaten seien am Massaker von Srebrenica beteiligt gewesen, verbleiben dem ehemaligen Präsidenten in seiner einstigen Machtbasis kaum noch Verbündete.

Was läge da näher als der Rückzug in die vertraute Heimat im Nordwesten Montenegros? In den Weilern um Savnik und Zabljak, wo die Winter hart und lang sind, hält sich der Mythos des tapferen orthodoxen Kämpfers gegen osmanische und habsburgische Fremdherrscher bis heute. Vom Heiligen Wasilije, der im 17. Jahrhundert auf der Flucht vor den türkischen Eroberern das Kloster Ostrog in einen Felsrücken südlich von Niksic hauen ließ, bis zu Montenegros Bischofsfürsten Njegos und dem Führer der königstreuen Tschetniks im Zweiten Weltkrieg, Drazo Mihajlovic, reicht die Ahnenkette der stolzen Nationalisten, in die sich Karadzic ungebrochen einreiht. Unangetastet seit dem Mittelalter ist auch die Macht der Kirche, von Ortsansässigen schlicht als »Staat im Staate« bezeichnet.

Hinter den hohen Mauern der mitnichten nur himmlischen Obrigkeit braucht sich der mutmaßliche Kriegsverbrecher keine Sorgen über einen Zugriff der lediglich im benachbarten Bosnien-Herzegowina operierenden Sfor-Nachfolgetruppe Eufor machen. Zumal die Liegenschaften der Kirche leicht zu kontrollieren sind: Schon unmittelbar hinter dem grün glänzenden bosnisch-montenegrinischen Grenzfluss Tara, an der Auffahrt zum Kloster Zadraga, steht ein roter Golf; hinter dem Steuer notiert ein Mann mit dichtem schwarzen Vollbart die Autokennzeichen. 70 Kilometer weiter südlich, an der Abzweigung der Hauptstraße Richtung Savnik, wartet ein dunkler Mitsubishi Pajero auf die Ankömmlinge. Beim Zwischenstopp in Niksic verschwunden, taucht der Geländewagen kurze Zeit später am Wegesrand südlich der schmucklosen, von Arbeitslosigkeit gezeichneten einstigen Industriestadt wieder auf.

Auch bei der Anfahrt nach Jovan Do, einem vor drei Jahren eingeweihten Außenkloster der Pilgerstätte Ostrog, ist der Jeep kurz zu sehen, ehe er hinter Bäumen verschwindet. Anfang August identifizierten lokale Medien die an drei Seiten von schroffen Felsen abgeschirmte, nur durch eine Schotterpiste erreichbare Anlage als Unterschlupf Karadzics. Ein ausgeklügeltes System unterirdischer Tunnel und Räume sorge für die perfekte Abschirmung des Haager Angeklagten.

Weit geöffnet sind die beiden Tore, hinter denen sich ein Maisfeld, eine große Wiese, ein halbes Dutzend neuer Steingebäude, eine kleine Kapelle und eine größere, unverputzte Kirche verbergen. Ein junger Mönch zieht an einem langen, aus dem Kirchturm hängenden Seil, die Glocken beginnen zu läuten. Mit hastigen Schritten läuft ein älterer Kollege an ihm vorbei, um die Abendmesse zu lesen. Fragen beantworten will der kleine, gedrungene Mann in der schwarzen Kutte nicht, nein, weder vor noch nach der Messe. Höflich, aber bestimmt, wehrt auch der dritte Mönch auf dem Gelände Fragen ab: »Bitte wenden Sie sich mit allen Fragen an die Klosterleitung in Ostrog«, sagt der Mittdreißiger in resolutem Ton und begleitet die unangemeldeten Gäste zurück zum Eingang.

Obwohl Jovan Do in Regierungskreisen in Podgorica als Versteck Karadzics genannt wird, hat die örtliche Polizei die Dependance des Klosters Ostrog nie durchsucht. So viel gibt Polizeichef Koprivica im Hauptquartier in Niksic immerhin zu. Auch dass es im natürlichen Interesse des Staats liege, unbekannte ausländische Besucher unter Beobachtung zu stellen, lässt der seit vier Jahren an der Spitze des Sicherheitsapparats im sensiblen Grenzgebiet zu Bosnien Stehende durchblicken. Und selbst der Verdacht, an den nicht abreißenden Berichten über eine freiwillige Überstellung Karadzics könnte etwas dran sein, bezeichnet er als »logischen Gedanken«. Ganz schön viele Wahrheiten auf einmal.