Service-Hölle

Hans-Peter Feldmann und Klaus Heilmann führen in das Frauengefängnis von Köln-Ossendorf. von stefan ripplinger

Frauen im Gefängnis ist ein Thema im pornografischen oder trivialen Genre, selten eines von Wissenschaft und Reportage, noch seltener eines der Kunst. Das hat seinen Grund darin, dass es für einen Außenstehenden nicht eben leicht ist, in ein Frauengefängnis vorzudringen. Und das liegt weniger an den Anstaltsleitungen als an den Insassen, die wenig Lust verspüren, sich in ihrer beschämenden Situation zu exponieren.

Helga Reidemeister brauchte für ihren Dokumentarfilm »Gotteszell« (2001) ein halbes Jahr, um sich das Vertrauen der Gefangenen zu erobern. Der Künstler Hans-Peter Feldmann hat ein ganzes Jahr lang immer wieder die Justizvollzugsanstalt Köln-Ossendorf besucht. Er meint, ohne Vermittlung von Klaus Heilmann, eines in der Anstalt beschäftigten Kunsttherapeuten, wäre es ihm wohl nicht gelungen, die Häftlinge dazu zu bewegen, etwas von sich preiszugeben. In Zusammenarbeit mit Heilmann hat er in dieser Zeit Briefe und Bilder der Frauen, Statements des Personals, Statistiken, Hausordnungen, Essenspläne gesammelt und vor allem viel fotografiert. Ein auch noch die letzten Winkel des Gefängnislebens erfassendes Dossier ist dabei entstanden, das zwar an künstlerische Arbeiten Feldmanns anschließt, aber selbst nicht Kunst sein will.

Feldmann hat 2003 in seiner großen Kölner Retrospektive Zellen von Frauen aus Ossendorf ausgestellt. Er hat seit den Siebzigern Fotos und Alltagsobjekte gesammelt und thematisch geordnet. Seine Installation »Die Toten« zeigt Porträts aller, die im deutschen Terrorismus ihr Leben verloren haben, ob sie nun auf der Seite des Staates, auf der der Revolution oder nur zufällig im Weg standen. Zu all diesen Werken scheint »Frauen im Gefängnis« eine Verbindung zu unterhalten. Das Buch ist eine Erkundung des Umfelds jener Zellen, es ist eine unkommentierte Sammlung von Fotos und Gefundenem und es ist wie »Die Toten« eine politische Einmischung von äußerster Objektivität.

Und doch ist es das alles auch wieder nicht. So zurückhaltend Feldmann montiert, bleibt doch immer deutlich, wem seine Sympathie gehört. Das könnte die Methode einer politisch bewussten Kunst sein. Doch dieser Anspruch wird nicht erhoben. Die Fotos belegen nur Sachverhalte, wenige haben einen Wert in sich. Die faksimilierten Briefe und Zeichnungen sind keineswegs nach irgendwelchen Mustern angeordnet oder gar künstlerisch bearbeitet, sondern mit Statements, Hintergrundinformationen und Grafiken sinnvoll ergänzt. Das Buch informiert ganz einfach. Wenn es auch über den Kunstbuchhandel vertrieben wird, weil Feldmann ein bekannter Künstler ist, ist es doch kein Künstlerbuch, sondern eine umfassende Dokumentation; vermutlich die beste, die derzeit zum Thema zu haben ist.

Den Zusammenhang mit seiner künstlerischen Arbeit sieht Feldmann selbst darin, dass der Künstler und der Gefangene auf ihre Weise Außenseiter sind. Sie begegnen sich an den Rändern. Kunst und Knast, möchte man ergänzen, sind außerdem geschlossene Systeme, »totale Institutionen«, mit Erving Goffman gesprochen. Ein und dasselbe Ding mag innerhalb und außerhalb eines solchen Systems, einer solchen Institution auftreten und meint doch innerhalb und außerhalb jeweils etwas völlig anderes, und wenn es nur ein Küchenmesser oder eine Dose »Campbell’s«-Tomatensuppe ist.

Eine Dose Tomatensuppe ist eine Delikatesse, wenn es mittags bloß Nudeln mit Soße gab und ein Abendessen für zwei Personen so aussieht: »2 Würste, Brot, 2 Apfelsinen, Tee«. Alles Übrige müssen die Gefangenen von ihrem kärglichen Lohn selbst bezahlen. Wenn sie überhaupt an einen Job kommen, verdienen sie zwischen fünf und zwölf Euro pro Tag, davon dürfen sie drei Siebtel auf Einkäufe verwenden. So sind die derzeit in Ossendorf üblichen 4,79 Euro für 200 Gramm Kaffeepulver nur mit einiger Mühe zusammenzubringen. Eine Dose Suppe oder ein Pfund Kaffee kann deshalb Währung oder Bestechung sein; an einer Stelle ist von einer Kindsmörderin die Rede, deren Taten die Mitgefangenen so gegen sie aufgebracht hätten, dass sie sich den Waffenstillstand mit »Tabak, Schokolade oder Kaffee« erkaufe. Solche Realien bietet das Buch in Fülle; sie können nicht überraschen. Das ist das Gefängnis, von dem man schon einmal gehört hat.

Überraschend sind die Statements der Wärter, Therapeuten und Verwalter. Obwohl in Ossendorf auch Mörderinnen untergebracht sind, sind Bekenntnisse zu Disziplinierung oder Reglementierung, gar Bestrafung sehr selten. Recht alleine steht eine Psychiaterin mit ihrer Einschätzung, »dass Krankheit (nicht) die Ursache für die Taten« sei. »Die Leute wissen in der Regel ganz genau, was sie tun, wäre das nicht so, wären sie ja nicht für ihre Taten verantwortlich und wären dann auch nicht im Gefängnis untergebracht.« Diese Psychiaterin muss Schuld aus der Strafe ableiten, wie sie vermutlich ihre Kompetenz einem Diplom abliest. Doch die überwiegende Mehrzahl der in der Anstalt Beschäftigten glaubt nicht mehr an persönliche Schuld. Typisch ist die Meinung einer Vollzugsbediensteten: »Wenn die Frauen eine bessere Kindheit gehabt hätten, wären sie wahrscheinlich nicht hier.« Dass die Straftaten mit der Situation in Familie und Clique, mit Vernachlässigung und Missbrauch, mit daraus folgenden psychischen Irritationen (Borderline-Persönlichkeiten sind noch häufiger als Depressive) und mit wiederum aus diesen folgender Alkohol- oder Drogenabhängigkeit zu tun haben, wird vom Personal begriffen. Wer den Verbrecher gut kennt, neigt zum Determinismus.

Selbst die Richter scheinen bei weiblichen Straftätern Rücksicht zu nehmen. Tatsächlich sind die meisten von Frauen begangenen schweren Verbrechen so genannte Beziehungstaten; Bandenkriminalität bleibt eine Domäne des Mannes. Frauen bringen ihre Peiniger um, sie handeln aus Verzweiflung, in Notwehr. Das wird von deutschen Gerichten berücksichtigt. Überdies kommen Mütter oft mit milden Strafen davon; das unschuldige Kind soll nicht mitbestraft werden (und dass das Kind zur Mutter gehöre, ist ja germanische Folklore). So erklärt sich, dass der Anteil von Frauen an den in Nordrhein-Westfalen Inhaftierten nur 4,8 Prozent beträgt. Allerdings ist die Delinquenz von Frauen deutlich im Steigen begriffen, was vielleicht auf ihre gewachsene Verantwortung in Wirtschaft und Gesellschaft zurückzuführen ist. Wer zu nichts kommt, kann auch nicht viel kaputt machen. Oder, wie es eine Wärterin formuliert: »Frauen sind emanzipierter geworden und denken sich, was die Männer können, können wir auch.«

Dieses Frauengefängnis in Ossendorf hat also nur mehr wenig mit den modernen Gefängnissen zu tun, die Michel Foucault in den Siebzigern beschrieben hat. Der positivistische Wille, zu ordnen und zu reglementieren, ist schwach ausgeprägt, vom Versuch einer »Abrichtung« und »subjektivierenden Unterwerfung« kann keine Rede mehr sein. Im Gegenteil beschweren sich die Gefangenen mehrfach darüber, dass sie an manchen Tagen gar nicht wüssten, wann Aufschluss und Umschluss sei, dass also Zeitplan und äußere Ordnung nur nachlässig eingehalten würden. Auch bleiben ihnen Therapien und Freizeitgruppen nicht deshalb versagt, weil sie an der kurzen Leine gehalten werden sollen, sondern weil Personal- und Geldmangel herrscht, worüber sich die Leiterin der Abteilung selbst am lautesten beschwert: »Man macht die Leute nicht besser, wenn man sie einfach wegsperrt. Ich muss ihnen zeigen, wie sie etwas in ihrem Leben verändern, verbessern können, aber das kostet Geld – man bekommt Sicherheit einfach nicht umsonst.« Sie hätte gern mehr Geld für saubere Hafträume, »anständiges Mobiliar«, »externe Betreuer«, »Freizeitangebote«. Eine Wärterin ergänzt: »Das größte Problem aus der Perspektive der Gefangenen ist momentan die Überbelegung. Es ist nicht nur zu wenig Platz, sondern es fehlt auch an Personal, um die gestiegene Zahl der Gefangenen adäquat zu betreuen.« Um Betreuung geht es, nicht um Züchtigung.

Züchtigung ist hier eine unbeabsichtigte Folge von Haushaltslücken. Zwei Gefangene hausen in einer heruntergekommenen Zelle von 7,5 Quadratmetern zusammen, weil das Budget für Renovierungen und Einzelzellen nicht hinreicht. Drogenabhängige müssen kalt entziehen, weil sich die Anstalt keine Methadon-Programme leisten kann. So schockierend Foucaults Bild von einer in alle Winkel der Seele kriechenden subtilen Überwachung war, schloss diese doch fast etwas von Zärtlichkeit in sich. In der Überwachung und noch in der Disziplinierung fand sich ein letzter Rest von Interesse. Der alte Disziplinarapparat interessierte sich zwar nicht für Lebensgeschichten, aber doch für »Fälle«. Davon ist nicht viel mehr als die Postkontrolle geblieben.

Das Frauengefängnis in Köln-Ossendorf ist Teil einer Gesellschaft, in der ein Drittel der Menschen noch nicht einmal zur industriellen Reservearmee taugt. Sie sind überflüssig geworden, sie interessieren nicht mehr. Das große, noch nicht vollendete Projekt der Regierung Schröder war es herauszufinden, wie diese überflüssige Schicht möglichst billig am Leben gehalten werden kann, da mit ihrer Rückkehr in die Gesellschaft der Erwerbstätigen nicht mehr zu rechnen ist. Hierher gehört auch die Initiative Peer Steinbrücks, Vollzugsanstalten privaten Betreibern zu überlassen; ein erstes Beispiel ist die JVA Ratingen.

Es ist übrigens gar nicht gesagt, dass es den Insassen in einem privat geführten Knast schlechter ginge, und die JVA Köln scheint sich schon jetzt auf diese Zukunft einzurichten, wenn sie sich als ein »Dienstleistungsunternehmen« beschreibt, das »der Öffentlichkeit und den Inhaftierten verpflichtet« sei. Das weckt Hoffnung bei den Kunden, die vorerst nicht befriedigt werden kann: »Eigentlich ist es nicht zu begreifen«, schreibt eine Inhaftierte, »dass Staatsanwälte und Richter den Delinquenten gegenüber so oft einen frechen und pampigen Ton anschlagen. Sie vergessen ganz, dass diese Leute die Grundlage ihrer Existenz bilden und sozusagen ihre Kundschaft sind.« Eine andere fordert – die Kundin ist Königin – mehr Freundlichkeit von den Vollzugsbeamten: »Ich bin keine Mörderin, ich bin Hotelfachfrau …« Gericht und Gefängnis als Dienstleister, das gibt dem Schlagwort »Service-Hölle« einen neuen Sinn (und der Vollzug ist übrigens nicht die einzige Dienstleistung, die nicht zu erhalten ein Vorzug sein könnte).

Das endgültige Absinken und Unbrauchbarwerden eines ganzen Drittels der Gesellschaft sorgt aber noch auf andere Weise dafür, dass sich auch die Wirklichkeit des Gefängnisses verändert. Es verliert seinen Schrecken, wenn draußen eine noch schlimmere Welt wartet. Im Gefängnis hat sich vorläufig noch, wenn auch auf oft groteske Weise, der alte Sozialstaat erhalten, was manch eine begrüßt. »Ein Gefängnis ist eigentlich ein schrecklicher Ort, für mich ist es ein Ort der Sicherheit«, schreibt eine Frau, die zu 15 Jahren Haft verurteilt ist. »Irgendwie bin ich froh, dass ich hier drin bin«, schreibt eine andere. Sie könne nun wieder ruhig schlafen. »Sie fühlen sich hier zum Teil sicherer als in ihrem Umfeld draußen«, berichtet eine »Bedienstete für Sicherheit und Ordnung«. Mit einer allgemeinen Verelendung sind Gewalt und Zwang gewachsen und Chancen gesunken. Bei aller Dürftigkeit der Anstalt sind die in ihr eingeschlossenen Frauen nicht nur einiger Existenzsorgen ledig, sie sind auch vor Nachstellungen, Bedrohungen und Misshandlungen durch Mann, Zuhälter und Familie einigermaßen gesichert; anders als bei den männlichen Gefangenen kommt das »Klatschen« unter Frauen selten vor. Und die meisten von ihnen verpassen draußen keine Karriere mehr.

Freilich gibt es auch hier Ausnahmen. Eine Gefangene erzählt ihre Geschichte: »Zu meinem Job habe ich nebenbei noch eine Firma gegründet, Einzelhandel mit Luxuswaren zu Dumpingpreisen. Bei mir sollte man alles billiger bekommen als wie es sonst gekostet hat. Ich hatte ein Geschäft im Internet, einen Onlineshop. Doch die Konkurrenz war zu groß. Anfangs lief das Geschäft auf Hochtouren, kurze Zeit später ging es in den Konkurs. Meine Firma war pleite, und ich konnte keine Kunden mehr beliefern. Ich habe das Chaos zu spät bemerkt. Ich war wohl zu sehr auf meinen regulären Job fixiert. Die Staatsanwaltschaft dichtet aus der Geschäftspleite einen Betrug.«

Der Staatsanwalt wird die Geschichte vermutlich anders erzählen, und doch gibt sie eine Ahnung davon, dass die Klassen durchlässig geblieben sind – von oben nach unten. Zwischen dem üblichen und dem verbotenen Betrug entscheidet der Erfolg. Solange eine erfolgreich ist, darf sie sich einigermaßen sicher fühlen. Die vorerst erfolglose Unternehmerin ist auf dem Weg zurück und den Staatsorganen dankbar dafür, dass sie sie vor Schlimmerem bewahrt haben: »Der Schaden wäre wohl möglich noch höher. Man hat mir die Augen geöffnet, besser spät als nie.«

An solchen Stellen des Buchs bemerkt auch die Ich-AG fröstelnd, wie nahe sie am Knast gebaut hat. Die Klischees nicht bedient und auch solche Klischees beseitigt zu haben, von denen wir vorher gar nicht wussten, dass sie welche sind, ist die erfreuliche Leistung Klaus Heilmanns und Hans-Peter Feldmanns. Wer ihre »Frauen im Gefängnis« besucht, hat manchmal das Gefühl, unsere Zukunft zu besuchen.

Hans-Peter Feldmann und Klaus Heilmann: Frauen im Gefängnis. Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2005, 245 Seiten, 29,80 Euro.

Die Galerie und Buchhandlung Barbara Wien zeigt ab dem 23. September eine Ausstellung zum Buch; Di–Fr 14–19 Uhr, Sa 12–18 Uhr, Linienstr. 158, Berlin-Mitte.