Der Tod, der alles neu ordnet

Mit »Extrem laut und unglaublich nah« hat Jonathan Safran Foer einen Roman über den 11. September und über den Verlust eines Menschen geschrieben. Von Andreas Hartmann

Parallel zu Jonathan Safran Foers neuem Roman »Extrem laut und unglaublich nah« habe ich die eben erschienene Sammlung mit neuen Geschichten des kleinen Nick von René Goscinny & Jean-Jacques Sempé gelesen. Wie alt mag der kleine Nick sein? Sechs Jahre? Immerhin geht er schon zur Schule, das könnte also ungefähr hinkommen. Der kleine Nick kennt keinen Konjunktiv, versteht die Welt der Erwachsenen nicht und sagt immer »prima«.

Die Hauptfigur von Jonathan Safran Foers Roman heißt Oskar Schell, ist neun Jahre alt und sagt andauernd »krass«, gelegentlich aber auch, wie der kleine Nick, am Ende eines Satzes: »und das war prima«. Oskar ist also auch noch ein Kind, doch gerade im Vergleich zum kleinen Nick wirkt er so unendlich erwachsen, dass man nur dann nicht vergisst, es hier wirklich mit einem kleinen Jungen zu tun zu haben, wenn er etwa nicht weiß, wer Winston Churchill war. Ansonsten wirkt Oskar frühreif, hyperintelligent, fast schon nervensägig aufgeweckt und viel zu reflektiert für sein Alter. Es bereitet ihm Freude, die New York Times nach Schreibfehlern abzusuchen, und er denkt sich andauernd viel seltsames Zeug aus. Unterirdische Wolkenkratzer für die Toten etwa, »unter der Welt der Lebenden gäbe es eine Welt der Toten«, fabuliert er. Anstatt jedoch runter ins 95. Stockwerk mit dem Aufzug fahren zu müssen, das Stockwerk zu einem hochkämme.

Es ist ganz erstaunlich, wie Jonathan Safran Foer versucht, die zerrüttete Psyche dieses Jungen auszustellen, der nichts verdrängt, sondern aus dem alles heraussprudelt. Auf die Wolkenkratzer, zu denen Oskar sich alles Mögliche ausdenkt und die er sich in allen möglichen Gestalten und mit verschiedenen Funktionen vorstellt, kommt der Junge nicht von ungefähr. Sein Vater befand sich am 11. September 2001 in einem der Türme des World Trade Center und ist ein Opfer des Terroranschlags geworden. Oskar ist seitdem auf der Suche nach Antworten. Was genau ist mit seinem Vater passiert? Wie ist er umgekommen? War er gar einer derjenigen, die in ihrer Verzweiflung aus den brennenden Türmen gesprungen sind? Weiß nicht auf all diese Fragen irgendjemand eine Antwort? In einer Vase, die sein Vater hinterlassen hat, findet Oskar einen Schlüssel, und es gibt einen Hinweis auf einen gewissen Mr. Black. Hilft ihm das vielleicht weiter? Muss er nur das passende Schloss zum Schlüssel finden, um etwas über seinen Vater in Erfahrung bringen zu können?

Foer schickt den Suchenden los, der dabei unter anderem auf seinen verschollen geglaubten Großvater stößt, der seinen nun toten Sohn nie kennengelernt hat, zu dessen Tod aber zu Oskars Großmutter zurückkehrt. »Extrem laut und unglaublich nah« ist also auch ein Familienroman. Doch keiner wie etwa Jonathan Franzens »Korrekturen«, wo die bereits auseinandergefallene Familie noch stärker zerfällt, sondern einer, der die Familie wieder zusammenführt. Auf der Suche nach seiner Familie und deren verblichenen Spuren befand sich auch der Protagonist in Foers erstem Roman, seinem Sensationserfolg, der gerade verfilmt wurde und den Foer vor drei Jahren im Alter von 25 Jahren veröffentlicht hat. In »Alles ist erleuchtet« macht sich ein junger Amerikaner auf, in der Ukraine nach Spuren einer 1941 ausgelöschten Familientradition in einem jüdischen Schtetl zu suchen.

Er neige zu Sentimentalitäten, wurde Jonathan Safran Foer in der Kritik wegen seiner angeblichen Verklärung der Familie vorgeworfen, außerdem wirke die Verknüpfung der einzelnen Familienmitglieder samt ihrer biographischen Hintergründe in »Extrem laut und unglaublich nah« zu ausgedacht. Letztgenanntes stimmt. Warum die durchweg sensibel erzählte Geschichte rund um den 11. September mit dem Schicksal der aus dem brennenden Dresden am Ende des Zweiten Weltkriegs geflohenen Großeltern parallelisiert und letztlich analogisiert wird, bleibt schleierhaft. Ein Vergleich würde ja zu nichts führen. Das Ausmaß der Zerstörungen im Zusammenhang mit den Terroranschlägen in New York scheint Foer als Begründung sogar auszureichen, um mal kurz ins post-atomare Hiroshima rüberzublenden.

Vielleicht ist es die unbändige Lust an postmodernen Erzähltechniken, die Foer dazu verleitet hat, manche Erzählstränge über alle Maßen und manchmal über das Erträgliche hinaus miteinander zu verweben. Foer hat spürbar und auch sichtbar Spaß an seinen postmodernen Stilmitteln, das lässt seinen Roman auch schon rein optisch erfrischend und widerspenstig zugleich wirken. Immer wieder gibt es Fotos zu sehen, beinahe leere Seiten und solche, die bis zur Unlesbarkeit zu eng bedruckt wurden. Seitenlang ist das Schriftbild bunt, oder Buchstaben und Wörter sind rot umkringelt. Diese formalen Spielereien kann man letztlich als graphischen Ausdruck der Verwirrung Oskars deuten, und die beinahe leeren Seiten erinnern an die große Leere, mit der Oskar zu kämpfen hat und auf die er überall stößt. Am Ende öffnet er sogar das Grab seines Vater, obwohl er weiß, dass darin nichts sein wird, denn sein Vater wurde pulverisiert, als Aschepartikel von New Yorker Bürgern eingetatmet, nichts ist von ihm übrig geblieben. So zeigt sich in dem Sarg auch tatsächlich nur: Leere.

Der Vorwurf der Sentimentalität läuft bei Foers neuem Roman jedoch ins Leere. Es ist schließlich erst einmal ein großes Verdienst des Autors, sich dem 11. September so behutsam angenähert zu haben. Man denke da nur an den Versuch von Frédéric Beigbeders »Windows on the world«, dem Thema mit dem Vorschlaghammer beizukommen. Es hätte in »Extrem laut und unglaublich nah« genau genommen auch gar nicht unbedingt um das viel beschworene Datum im Jahre 2001 gehen müssen. Dieses bildet zwar ein willkommenes Setting, um eine Geschichte entwickeln zu können, vor allem geht es in dem Roman aber um den Tod an sich, um den Tod und darum, was die Lebenden daraus machen. Und darum, was der Tod mit den Lebenden macht.

Der Tod war es auch, der Oskars Mutter mit ihrem neuen Lebenspartner zusammengebracht hat, der seine Angehörigen bei einem Autounfall verloren hat. Die beiden haben sich in einer Selbsthilfegruppe kennen gelernt. Der Tod ordnet alles neu, vermag die unglaublichsten Dinge auszulösen. Davon zu erzählen und davon meinetwegen auch in einer sentimentalen Art und Weise zu erzählen, ist legitim und kein Kitsch. Überhaupt ist das Buch an keiner Stelle kitschig. Mit großen Kulleraugen und einer Träne auf der Wange schaut Oskar nicht in die Welt. Er ist keiner, der sich mit irgendwelchen halbgaren Tröstungsversuchen abspeisen lässt, er ist knallharter Realist und Atheist. Er weiß, dass die Leere bleibt und sonst nichts. Manchmal wünscht man sich fast, der Junge wäre weniger hart zu sich selbst. Aber man weiß auch, dass nur diese Härte ihm helfen wird, diesen Tod irgendwann zu verstehen.

Jonathan Safran Foer: Extrem laut und unglaublich nah. Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens. KiWi, Köln 2005. 436 S., 24,90 Euro