Wenn das falsche Vakuum kollabiert

Dietmar Daths schöner, neuer Roman ist der reine Irrsinn. Von Martin Janz

Im Roman »Für immer in Honig« von Dietmar Dath spielt viel Musik. Selbst wenn man sich in der Geschichte der Popmusik nicht so gut auskennt wie ein Spex-Redakteur, vielleicht noch nicht einmal so gut wie ein durchschnittlicher Leser dieses Magazins, kann man den knapp 1 000 Romanseiten viel abgewinnen. Man muss dafür nicht die Fernsehserien kennen, die der Roman zitiert, man muss auch kein Heavy-Metal-Fan sein, nicht unbedingt Splatter- und Zombie-Filme mögen oder sich gar der »Linken« zugehörig fühlen (»Wer in diesem Roman nicht vorkommt, ist nicht links«, so die Verlagswerbung).

Es reicht bereits, wenn einem die Namen Marx, Engels oder Lenin nicht gänzlich unbekannt sind, wenn man ein bisschen über postmoderne Philosophie bescheid weiß und die Ideologen des »Alten Europa« wie Jürgen Habermas oder Jacques Derrida ganz grob einordnen kann. Vielleicht hat man ja auch schon mal von dem Ideologiekritiker Wolfgang Pohrt oder dem »hutzeligen« Wertkritiker Robert Kurz gehört, oder man glaubt, einen der Popkulturschaffenden, die in der Geschichte auftauchen, wiederzuerkennen. Überhaupt: Wiedererkennungseffekte gibt es zuhauf, für jeden und jede scheint etwas dabei zu sein. Und selbst wenn man mit den vielen Bezügen nichts anzufangen weiß, hat man wenigstens die Genugtuung, einen unterhaltsamen und klugen Science-Fiction-Roman gelesen zu haben.

Das Szenario ist schnell wiedergegeben: Nach dem 11. September und dem folgenden Anti-Terror-Krieg ist die Revolution (wieder einmal) gescheitert. Der »Totentanz« lässt die Welt in einem neuen Faschismus erstarren. Es folgt ein antifaschistischer Befreiungskampf, der die versteinerten Verhältnisse gehörig aufmischt.

Die Romanhandlung im Einzelnen wiederzugeben, ist schon schwieriger. Bereits die vorangestellte Vorstellung der Personen der Handlung verrät: »Verschiedene Namen bezeichnen nicht zwingend verschiedene Personen.« Man müsste sich überdies entscheiden, womit zu beginnen wäre: Mit der Episode von Freddy, dem Freddie-Mercury-Typ der achtziger Jahre aus Freiburg, und seiner Geliebten Beate, angeblich Kunstbuchlektorin? Doch wozu braucht eine Lektorin eine 007-Ausstattung? Freddy hat keine Zeit, sich das zu fragen. Denn gerade als er Beates Geheimnis lüftet, taucht deren »böse Feindin« Ianthe, Wolfsfrau und Kampfmaschine, auf. Nach einem fürchterlichen Gemetzel, bei dem nicht nur die Ikea-Einrichtung zu Bruch geht, fliehen die beiden aus dem idyllischen Freiburg.

Oder mit Robert Rolf, seines Zeichens ehemaliger Musikzeitschriften-, jetzt Feuilleton-Redakteur bei einer großen Frankfurter Tageszeitung (wie der Autor, möchte man für diejenigen, die das nicht wissen, hinzufügen)? Um gegen den »Diskursmist« des »Pop-, Kunst- und Debatten-Westentaschenavantgardisten« Dieter Fuchs und dessen gnadenlose Überschätzung der Zeichen ein beispielhaftes Zeichen zu setzen, inszeniert Rolf ein Liebesverhältnis mit der 15jährigen Valerie, Tochter einer Zombotikerin, der zivilen Variante der Zombies. Doch das Spiel mit den Signifikanten wird jäh von der Realität eingeholt: Nicht nur Rolf, sondern auch seine Lebensgefährtin verliebt sich in die Göre.

Aber egal, womit man beginnt: Die Wege der Protagonisten kreuzen sich sowieso irgendwann irgendwo und irgendwie. Alle sind auf die eine oder andere Art, in der einen oder anderen Form, verwickelt in das fulminante Geschehen, das zuweilen an »Die Enden der Parabel« von Thomas Pynchon erinnert.

Dass Daths groß angelegter Versuch, alles, aber auch alles in die Geschichte reinzuholen, was während der letzten Jahre die Welt bewegte, trotz einiger Schwächen nicht scheitert, dass das Ganze, wie es sich für einen guten Roman gehört, weit mehr ist als die Summe seiner fast unendlich zerfledderten Einzelteile, liegt daran, dass der Roman von einem philosophischen Fundament getragen wird. Weil die Möglichkeit revolutionärer Praxis im Zeitalter postmoderner Hyperrealität und Dezentrierung des Subjekts durchgespielt wird, braucht es, neben der marxistisch-leninistischen Philosophie der Tat, eine zweite, wenn man so will, Grundidee. Dath hat sie in der Kategorientheorie der modernen Mathematik gefunden. Das ist – wie man im Anhang erfährt – die »dialektische Aufhebung mathematischer ›Sachen‹ in mathematische Praxis«, das heißt, die mathematische Methode, Gleichungen und damit Identitäten kategorientheoretisch zu ersetzen durch Transformationen. Letztlich geht es um eine Methode, mit der Kategorien unter völliger Umgehung der Objekte erzeugt werden können.

So sind dann auch die Hauptakteure so genannte »W«, jene Spezies, deren Identität sich anders herstellt als die herkömmlicher Menschen: »W können Wölfe werden, oder Informationen, oder Energie, oder Tageszeiten, oder Glyphen, Texte auf Papier oder...«, heißt es an einer Stelle im Roman. Und Robert Rolf, der im nächtlichen Kampf gegen Zombies stirbt, taucht kurz darauf als Papierfragment wieder auf. Selbst der grüne VW-Bus, mit dem die »W« unterwegs sind, mutiert gelegentlich zu einem Allrad-Suzuki (oder war es ein Mitsubishi? – egal).

Manchmal, wenn das Wechselspiel der Identitäten dann doch zu arg wird, wenn man sich schon ein wenig zu langweilen beginnt und sich nach Rettung sehnt vor dem Abdriften ins Beliebige, dabei vielleicht an jene Denker denkt, die, bei aller Kritik am Fetischismus kapitalistischer Verdinglichung, den Vorrang des Objekts und damit die materiale Grenze postmoderner Spiegelfechtereien niemals in Frage stellen (und deshalb im Unterschied zu vielen anderen im Buch keinen Platz haben), erzeugt der Roman dann doch wieder jenen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann.

Wenn zum Beispiel »J« die Frage nach ihrem Lieblingspopsong so beantwortet: »›Oh yeah‹ von Roxy Music ... Wie der Refrain plötzlich aus dem elegischen Geschnulze von Ferry raus aufbricht, irgend ... irgendwohin, dieses große Signal, Vorhang auf, der Glitzerregen, die Scheinwerfer, dieses Nach-oben-getragen-Werden vom warmen Wind ... so stelle ich mir das vor, den Moment, wenn die verkehrte Welt zusammenkracht. Im Moment der Revolution, wenn die Geschichte wieder wahr wird, statt bloß wirklich zu sein. Wenn das falsche Vakuum kollabiert.« Dann muss man das Buch beiseite und Roxy Music auflegen: »There’s a band playing ... on the radio ...«

Auch wenn man kein Freund von Popmusik ist, dem Geschnulze von Bryan Ferry kann man sich nur schwer entziehen. Ebenso wenig wie den schier grenzenlosen Transformationen der »W« bei ihrem rasenden Wettlauf um die Rettung der Welt.

Dietmar Dath: Für immer in Honig. Implex-Verlag, Berlin 2005. 976 S., 36 Euro