Das nicht allzu lange Kurzeck-Telefonat

Der Schriftsteller Peter Kurzeck am Apparat. Ein kurzes Gespräch und eine längere Betrachtung über sein Werk. von jan süselbeck

Meine Freunde in Marburg sind leider schon alle tot«, sagt Peter Kurzeck am Telefon. Fast so, als wolle er sich entschuldigen. Er hat sich aus Uzès in Südfrankreich gemeldet, wo er, u.a. Träger des Alfred-Döblin-Preises (1991) und des Preises der Literaturhäuser (2004), mittlerweile seit vielen Jahren wohnt; daneben hält er sich regelmäßig in Frankfurt am Main auf. Er will sich vergewissern, ob unsere vereinbarte Lesung in Marburg auch wie geplant stattfinden wird.

Das alles kommt mir, während ich gerade noch meinen letzten Frühstücksbissen herunterschlucke, bekannt vor. Habe ich doch so­eben Kurzecks letzten Roman »Ein Kirschkern im März« (2004) gelesen, in dem an einer Stelle auch von einem solchen organisatorischen Telefonat die Rede ist. Die Geschichte spielt im Schaltjahr 1984: »Tucholsky-Buchhandlung, Offenbach. Eine Lesung am 28. März. Noch von der Abstellkammer aus den Termin. Im Januar. Telefonisch. Dann noch zweimal angerufen, ob es auch dabei bleibt. Zum Glück Orts­ta­rif«.

Vor seinem Auftritt begibt sich der Erzähler des Romans, der als erfolgloser Schriftsteller mit großen finanziellen Engpässen kämpft und als Gast in einer Dachkammer bei einem befreundeten Frankfurter Ehepaar vorerst glücklich untergekommen ist, in die Offenbacher Innenstadt. Er flaniert umher, auf der Suche nach Erinnerungen an einen Ausflug, den er mit Sibylle, der Mutter seiner Tochter Carina, unternommen hat, von der er neuerdings getrennt lebt – für ihn der bittere Beginn einer ganz neuen Zeitrechnung. Aus wehmütigen Erinnerungen an diese Beziehung und aus der Beschreibung der Alltagserlebnisse mit der Tochter besteht, durchsetzt mit den verschiedensten autobiografischen Reminiszenzen bis zurück in die unmittelbare Nachkriegszeit, der mäandernde Erzählfluss des Buchs. Der Erzähler plant, irgendwann einmal nach Südfrankreich auszuwandern.

Und nun also das déja vu. Er wolle schon nachmittags anreisen, um allein die Marburger Innenstadt zu durchwandern, sagt Kurzeck unvermittelt in den Hörer. Er wolle sich an ­seine Jugendtage in den fünfziger Jahren erinnern, als er noch gern und oft von seinem Geburtsort Staufenberg bei Gießen zu Fuß nach Marburg an der Lahn lief, um auf dem Marktplatz billigen Wein zu trinken und Blues-Konzerte in der Oberstadt zu besuchen.

»Auf dem Fußweg konnte man stundenlang mit sich und seinen Gedanken allein sein«, schwärmt Kurzeck, jetzt immer redseliger werdend. »Ich hatte schon versucht, Sie unter Ihrer Dienstnummer zu erreichen, aber da nahm leider niemand ab. Ich hoffe, ich störe Sie nicht?« Tatsächlich: Auch diese Bemerkung erscheint jetzt plötzlich wie die Veranschaulichung eines im Roman »Ein Kirschkern im März« wiederkehrenden Motivs: der mangels eines Privatanschlusses mühseligen Telefonzellenanrufe des Erzählers. Dieser versucht nämlich immer wieder verzweifelt, Lesungen zu vereinbaren, seinen Verleger KD Wolff zu erreichen oder namenlose Mäzene für kommende Veröffentlichungen aufzutun: »Erst besetzt, lang besetzt und dann frei und dann hebt keiner ab – was für Geschichten soll man sich ausdenken als Erklärung?« Und dann heißt es dort, wie ein gedruckter, te­le­gramm­ar­ti­ger Kommentar zu dem jetzigen Gespräch, an das ich mich nun verblüfft erinnere: »Wie sollst Du einem Menschen, der dich nicht kennt (den Du nie gesehen hast), erklären warum du ihn anrufst, ohne ihm gleich dein ganzes Leben – auch wenn er es eilig hat und von nix eine Ahnung. Wie sollst du ihm dein Leben, dein ganzes Leben, wenn du ihm nicht auch dein neues Buch erzählst«.

Das ist es, was diesen Schriftsteller umtreibt: der ständige, zum Scheitern verurteilte und doch immer wieder neu unternommene Versuch, sein Leben wiederzugeben, begreiflich zu machen. Und so geht auch in unserem Telefongespräch der aktuelle autobiografische Roman, gehen überhaupt die letzten Bücher Kurzecks, die ich zur Vorbereitung der Lesung durchstöbert habe, hier offenbar fernmündlich weiter – diesmal allerdings leider nicht zum Ortstarif: »Und in Marburg konnte man damals anders als in Gießen schon problemlos öffentlich Alkohol trinken, ohne dass die Polizei kam oder dass einen wütende Passanten beschimpften«, erzählt Kurzeck begeistert, »das war damals ja noch eine ganz andere Zeit.« Und dann eben dieser verlegene Satz: »Aber meine Marburger Freunde sind leider schon alle tot.«

»Das erinnert mich an die Stelle in ›Ein Kirschkern im März‹«, höre ich mich jetzt sagen, »an der Sie – Entschuldigung, Vorsicht – an der der Erzähler zu einem alten Freund sagt: ›Du weißt doch, wie wir gelebt haben. Wenn es mit rechten Dingen zuginge, wären wir beide längst tot. Sogar mehrfach jeder.‹« »Tja«, lacht Kurzeck auf, »der, zu dem ich das damals sagte, ist groteskerweise mittlerweile auch schon gestorben!«

Erzählen, was war, fast schon atemlos, immer weiter, durch die Jahrzehnte und die Romane hindurch, das ist wohl wirklich Kurzecks poetologische Mission. Genauer: Vielleicht ist das sein persönlicher Charakter, der pausenlos darauf drängt, zu Literatur zu werden, in Geschriebenem aufzugehen. Über die Landschaften, die Orte und Städte hinweg, vor und zurück in der Zeit springend, berichten seine Figuren aus ihrem Leben. Lite­raturwissenschaftler der kommenden Jahrzehnte werden sich noch gehörig die Zähne ausbeißen an diesen ständig und unmerklich wechselnden Stimmen, die hier durcheinander sprechen: Ist das innerer Monolog, interne oder externe Fokalisierung, wo ist plötzlich der auktoriale Erzähler hin?

»Ein Kirschkern im März« ist der dritte Teil einer autobiografisch-poetischen Chronik des Jahres 1984, beginnend mit dem Band »Übers Eis« (1997) und fortgeführt mit dem Roman »Als Gast« (2003). Dies sind dann auch die zwei Worte, mit denen »Ein Kirschkern im März« beginnt: »Als Gast«. Als bedürfe es noch dieses kleinen motivischen Zeichens, dass alle Romane Kurzecks an einer großen Erzählung weiter weben, einem großen Zeitbild, das über das Leben des einen Erzählers hinausweist.

Auch Kurzecks autobiografische Trilogie ist dabei weit mehr als nur die Nabelschau eines von Weltschmerz gebeutelten Ichs: Immer geht es in diesen Büchern unvermittelt um den Alltag in den fünfziger Jahren, das Leben in der hessischen Provinz und in der noch von Trümmergrundstücken übersäten, großen Stadt Frankfurt am Main. Meist irgendwie (alkohol-)kranke, alternde und rätselhafte Figuren, häufig auch typische Vertreter der Wehrmachts-Tätergeneration präsentiert uns Kurzeck, selbst böhmisches Flüchtlingskind aus dem Jahrgang 1943. Seine Figuren verstummen oft, wenn es um den Krieg geht, zumindest den letzten, den sie erlebt haben. Sie sind kaputt, soviel ist klar, aber warum genau, das kann der Leser aus verschiedenen Dialogfetzen nur erahnen, wie auch in dem grandiosen Roman mit dem bezeichnenden Titel »Keiner stirbt« (1990), einer Art hessischen Suche nach der verlorenen Zeit. Horst Meier und Crohn heißen hier zwei der Figuren, die sich in einem alten Auto von Gießen auf nach Frankfurt machen, irgendwann in den fünfziger Jahren. Wer dort kein Geld habe, sei ein Krüppel, heißt es immer wieder im Text. Die Protagonisten haben auch keins. Ausgenommen Merderein, der erst sehr spät, nach einem beinahe überzogenen dramatischen Spannungsbogen dazustößt, um die anderen wie ein deus ex machina davor zu bewahren, im Frankfurter Bahnhofsviertel eine riesige Zechprellerei zu begehen.

Schon unterwegs sieht man die vollkommen mittellosen Herren in wechselnden Konstellationen und an verschiedenen Orten sitzend, pausenlos Bier, Korn, Cognak und Schaschlik bestellend und dabei erstaunlich gelassen darüber nachdenkend, wer das am Ende eigentlich alles bezahlen solle. So lange man keine Lösung findet, bestellt man einfach weiter und beobachtet die Leute, die hereinkommen und wieder gehen: amerikanische Soldaten mit ihren Freundinnen, Nutten und Taxifahrer. Der Soundtrack zu diesen filmreifen Szenen, in Kurzecks unverwechselbarem, merkwürdig abgehackten Ton erzählt, der alle seine Bücher wie ein Markenzeichen prägt, kommt über den GI-Sender AFN aus dem Autoradio oder mit Elvis Presleys »Jailhouse Rock« aus der zeittypischen Jukebox.

»Keiner stirbt« ist ein komplexes Notizbuch und zugleich ein elegischer Zeitroman. Kurzeck arbeitet mit gekonnten Dehnungen, die sich zu ausführlichen, in ganz andere Richtungen weisende Binnenhandlungen entwickeln. Das alles kontrastiert Kurzecks Sprache, die wie das Gestammel betrunkener Tresengespäche klingt, dabei jedoch viel tiefer lotet, als solche Dialoge es normalerweise tun. Kurz: Unmittelbar bevor eine neue Runde Whisky-Cola, Bier und Korn bestellt wird, rollt Kurzeck ganze Biografien auf, Krankheitsgeschichten, Beziehungskisten und merkwürdig realistische Detailbetrachtungen des Nachkriegsalltags.

Darin ist Kurzeck auf seine Weise wohl tatsächlich auch ein Nachfolger derjenigen Ahnen, die in »Ein Kirschkern im März« klagend aufgerufen werden: »Erst Arno Schmidt – schon sein Tod hätte nicht sein dürfen! Von Rechts wegen! Und jetzt auch noch Uwe Johnson! Wie sollst du dir den jetzt auch noch ersetzen?«

So kann man denn nun immer weiter ­lesen in diesem großen Roman, an dem Kurzeck stets fortschrieb und -schreibt. Merderein etwa begegnet uns wieder als schillernde Figur in »Das schwarze Buch« (2003). »Zeit zu gehen!« lauten die ersten Worte dieses Romans, und gleich am Anfang ist es wohl auch Merderein, der mit rudernden Armen auf die Mitte des vereisten Mains rennt, beobachtet von hilflosen, entsetzten Passanten, um dann ins Eis einzubrechen und zu ertrinken. Dies liest sich wie eine klandestine Ankündigung des folgenden Romantitels »Übers Eis«.

»Das schwarze Buch« ist ein dunkler Roman voller Missgeschicke, Unglücke, haarsträubender Katastrophen und wunderlicher Todesarten: Ein Lastwagenfahrer fährt durch einen Ort und merkt nicht, wie er mehrere Frauen und eine junge Mutter samt Kleinkind mit verrutschten Eisenträgern auf offener Straße köpft. Und im sinistren 13. Kapitel begegnen wir dem leibhaftigen Wirt Stalin, einem von pausenlosem Spirituosenkonsum zerrütteten Mann, der vor dem definitiven Ende zittert: »Kann durch keine Tür, kann nie mehr aus dem Haus gehen, auch nur drei Schritte weit«, befürchtet er doch, dass er danach »nie mehr zurückkommt: lebendig nicht!« So jedenfalls lautet seine permanente Zwangsvorstellung, die er im benebelten Halbschlaf »kommen spürt als Verhängnis: Delirien, Korsakoff, Krankheit-Nacht-Tod!«

In einem abrupten Perspektivwechsel beschreibt Kurzeck diese Figur einerseits aus dem Blickwinkel eines Mannes, der am frühen Morgen in Stalins Kneipe am Frankfurter Allerheiligentor panikartig viel zu viel Rum in seinen Kaffee kippt, und andererseits aus dem inneren Monolog Stalins selbst. Stalins Tresenkraft, eine bullige und ebenfalls versoffene Wirtin, heißt übrigens Wilma – ganz so, als sei die Figur das ironische Gegenbild zu der stets misstrauisch über den exzessiven Alkoholkonsum ihres Mannes Paul Jacobi wachenden Ehefrau Wilma in Arno Schmidts Jahrhundertroman »Zettel’s Traum«.

Kurzecks Szenen sind absurd bis grotesk; manchmal muss man fast schon wieder lachen über so viel Unglück und unausweichlichen, bitteren Tod: Ein Mann trinkt beim Griechen fast zwei Liter Retsina und lässt sich schließlich betrunken in einem städtischen Hallenbad einschließen. Dort plantscht er im verwaisten Schwimmbecken, trinkt dabei Unmengen von Magenbitter, noch dazu literweise mit heißem Chlorwasser zubereiteten Nescafé. Am nächsten Morgen wird er angekleidet und ertrunken auf dem Grund des Bassins aufgefunden: »Zu denken, dass man sich nur umbringen braucht – und das Rätsel ist gelöst!« heißt es dazu.

Vielleicht ist es am Ende wirklich so: »Keiner stirbt« in diesen Romanen, denn die Figuren kehren ja wieder und werden zu neuer Literatur, die bleibt. Vielleicht kehren sogar auch die großen Vorbilder zurück – gespiegelt in den Werken eines Kollegen, der noch Zeit hat weiterzuschreiben.

»Ich freue mich auf unsere Lesung, wir treffen uns dann vorher im Hotel«, sagt Kurzeck munter und beendet damit für heute sein Telefongespräch. Es klingt, als habe er schon wieder eine neue Romanidee. »Nur aus meinem neuen Manuskript werde ich doch nicht vorlesen«, entscheidet er noch, »darin ist zuviel durchgestrichen, das ist mir zu kompliziert. Davon bekomme ich immer Kopfschmerzen.«

Peter Kurzeck ist Verfasser autobiografisch geprägter Romane über das Leben in der hessischen Provinz und in Frankfurt am Main.