Die Augen des Käsebrots

Der Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino versucht sich erstmals im dramatischen Fach – seine Poetikvorlesungen liefern den theoretischen Background. Von Marit Hofmann

Die Hölle, das sind die anderen. »Es gibt Leute, die gucken mich jeden Tag an und merken nicht, wie mich das quält«, klagt eine von Wilhelm Gena­zinos Figuren. Karl, »der Hausschrat« aus dem gleichnamigen Stück, fühlt sich sogar von einem liegen gelassenen Käsebrot beobachtet, und auch die Möbel, die »Tag für Tag hier herumstehen«, machen ihm das Leben schwer. Robert und Martha, ein alterndes Ehepaar aus dem Einakter »Lieber Gott, mach mich blind«, mögen einander nicht mehr ins Gesicht sehen und haben daher vereinbart, sich in ihrer eigenen Wohnung aus dem Weg zu gehen. Aber die Hölle, das sind auch wir selbst.

Jede einzelne Figur leidet nicht nur unter »Verschwindsucht«, sie steht auch unentwegt unter einem »Körperbeobachtungszwang« und geht mit sich hart ins Gericht. Dabei ist es ein entscheidender »Unterschied, ob ich mich selbst herabsetze oder ob mich ein anderer herabsetzt«, wie Martha feststellt. Manisch kreisen die Gespräche innerhalb ihrer neurotischen Familie um Alterserscheinungen wie Tränensäcke und Hängebacken. Auch die Jüngeren sind wie besessen von der Frage, wann »die Qual« in ihr Leben trete. »Findest du nicht, dass ich wie ein abgestellter Rucksack wirke?« will die 30jährige Schwiegertochter wissen. Trost ist von den anderen, die immerzu mit sich selbst und dem eigenem Körpergefängnis beschäftigt sind, kaum zu erwarten – im Gegenteil, im trauten Heim wird gern eine grausame Variante von »Ich sehe was, was du nicht siehst« gespielt. Die scheinbar fürsorgliche Anteilnahme von Martha, die der Schwiegertochter Geld für neue Kleidung schenkt, schlägt um in Bosheit: »Wenn man ein stumpfes Gesicht hat, darf man nicht auch noch eine stumpfe Bluse tragen: Eine schwarze Bluse betont viel zu stark dein Pfannkuchengesicht.« Ihrem Sohn bescheinigt sie: »Du siehst ein bisschen bedürftig aus, ich meine: ausgedünnt, seelisch abgewirtschaftet.« Und der ehemaligen Geliebten ihres Mannes, die nicht in »dieser Dürftigkeit« umkommen will und den apathischen Robert vergeblich zu einer Wiederaufnahme der Affäre zu bewegen sucht, fertigt Martha mit der Bemerkung ab: »Es rührt mich, dass du glaubst, du könntest mich mit dreißig Jahre alten Lutschflecken eifersüchtig machen.«

Während dem »Pfannkuchengesicht« der Besuch eines Modegeschäfts mehr Qualen bereitet als ein Bewerbungsgespräch, verschafft der von Schweißausbrüchen geplagten Martha einzig das Einkaufen Ablenkung von der Befürchtung, verrückt zu werden. »Manchmal denke ich, ich sitze in einem absolut doofen Theaterstück«, entfährt es ihr einmal, »dabei bin ich hier zu Hause.«

Die beiden Einakter, mit denen sich Genazino erstmals im dramatischen Fach versucht, gehören zum Bösartigsten, das der Büchner-Preisträger bisher geschrieben hat – und zum Komischsten. Die Konversationsstücke erinnern an das absurde Theater eines Eugène Ionesco, viele der in ihnen angeschlagenen Themen und Motive freilich sind aus Genazinos Romanen bekannt.

Von der selbstreflexiven Beobachtungsgabe, die der Autor mit seinen Figuren teilt, zeugen auch seine »Frankfurter Poetikvorlesungen« aus dem Wintersemester 2005/ 2006, die jetzt unter dem Titel »Die Belebung der toten Winkel« ebenfalls in Buchform erschienen sind. Eine Doppellektüre empfiehlt sich, denn hier erläutert der Autor en detail, wie er eine zunächst autobiographische Erfahrung mit anderen Assoziationen verknüpft und schließlich in Literatur verwandelt. Inspiration kann etwa ein unvorteilhaftes Passfoto sein, das Angst vor Alter und Tod auslöst; Genazino ergeht es da offenbar ganz ähnlich wie dem vom eigenen Körper angeekelten Dramenpersonal. Auch von einer Situation, in der er unfreiwillig Opfer einer »Fremdbelauerung« wurde, berichtet der als öffentlichkeitsscheu geltende Schriftsteller freimütig. Nur hat der Autor seinen Figuren die Fähigkeit voraus, derart unangenehme Erlebnisse für die Kunst fruchtbar zu machen. Indem er das ursprüngliche Erlebnis nachbearbeitet, stilisiert, fiktionalisiert und in einen neuen Zusammenhang einbettet, löst er es von der eigenen Person und öffnet es zugunsten einer Deutungsvielfalt.

Leider kommen dieser Arbeitsprozess selbst und die Rolle, die die Sprache in ihm spielt, in den Vorlesungen so gut wie gar nicht vor.

Für den notorischen Spaziergänger Genazino scheint das inspirierende Erlebnis und die Frage, wie aus der »Versenkung« in einen äußeren Gegenstand ein »poetischer Mehrwert« entstehen kann, entscheidend zu sein. »In den Dingen ist Magie, in den Dichtern ist Magieerwartung«, heißt es einmal reichlich pathetisch. Dabei ist der »berufsmäßige Epiphaniker« sich der Gefahr, in Alltagsmystik oder in Metaphysik abzugleiten, bewusst. Als moderner Romancier, der sich außerhalb der »Tabuzonen der Philosophie« bewegt, dürfe er sich vor dieser Verlockung, die viele literarische Möglichkeiten in sich berge, aber nicht fürchten. Um Missverständnissen vorzubeugen, gibt sich Genazino ein weiteres Mal als Anhänger des Konstruktivismus zu erkennen, der weiß, »dass wir die Dinge mit unseren Bedeutungen anschauen, die ohne die Mitwirkung der Dinge zustande kommen. Denn wir können nicht schauen, ohne den Drang nach Bedeutung.«

Genazinos sehr persönlichen poetologischen Ansatz auf das Werk anderer Schriftsteller anzuwenden, dürfte schwerfallen. Von allen »lite­rarischen Praktikern des Augenblicks« fühlt er sich Virginia Woolf am nächsten: »In keinem anderen Werk wird das Hin- und Herpendeln des Ichs zwischen Verzückung und Vernichtung, zwischen Seligkeit und Finsternis so schmerzlich präzise vor uns ausgebreitet.« Dem Identitätsverlust des modernen Großstadtmenschen, den Woolf bereits im London der dreißiger Jahre eindringlich zu beschreiben wusste, spürt der in Frankfurt am Main lebende Genazino in der Jetztzeit nach.

Um mit dem »Bruchbudencharakter des modernen Lebens« fertig zu werden, lässt Genazino seine Figuren immerfort nach »leistungsstarken Symbolen« suchen, in die sie »ihr wackliges Innenleben einklinken« können. Die Frau des Hausschrats aus dem Theaterstück droht ihrem Mann wiederholt, sie werde ihn verlassen, wenn er sich nicht bald eine neue Hose anschaffe. Am Ende des Stücks gesteht sie dem renitenten Gatten: »Meine besten Sekunden habe ich, wenn ich vor Ausweglosigkeit aufschreien möchte und mich dann nur über deine Hose beklage. Die Hose ist die Stellvertreterin für alles, was ich nicht sagen kann.« Mehr als ein kleines Glück im großen Unglück ist nicht drin. Dafür darf es sogar im wahrsten Sinne des Wortes in die Hose gehen.

Wilhelm Genazino: Die Belebung der toten Winkel. Frankfurter Poetikvorlesungen. Hanser, München 2006, 112 S., 14,90 Euro

Ders.: Lieber Gott, mach mich blind / Der Hausschrat. Zwei Stücke. Hanser, München 2006, 176 S., 17,90 Euro