Free Muslims

Necla Kelek plädiert für die Befreiung des türkischen Mannes und stützt ihre Analyse auf die Gespräche mit Strafgefangenen. von kerstin eschrich

Die Frau hat eine Wut. Das merkt man Necla Keleks neuem Buch an. »Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes«, heißt es provokant im Untertitel von »Die verlorenen Söhne«. Verlorene Söhne, das sind jene zu Tätern gewordenen Männer, die der Autorin zufolge selbst Opfer sind, und zwar Opfer der »muslimisch-patriarchalischen Verhältnisse« und der »starren Gebote einer archaischen Männerrolle«, eines verpflichtenden Selbstbildes, das ihnen keinen Entscheidungsspielraum gelassen hat. Die Gleichberechtigung der Frauen anzuerkennen, gilt Kelek als Voraussetzung dafür, dass sie sich aus ihren eigenen Zwängen befreien können.

Wie in ihrem Buch »Die fremde Braut« stützt sie ihre Argumentation auf die eigenen Erfahrungen, die sie innerhalb ihrer Familie und deren Umfeld gemacht hat. Ergänzt werden diese Ausführungen durch die Ergebnisse ihrer soziologischen Untersuchungen aus den vergangenen Jahren. Sie beleuchtet aus verschiedenen Blickwinkeln, wie stark die Familie, die Sippe und die Umma, also die Gemeinschaft der Gläubigen, bei muslimisch-türkischen Migranten im Mittelpunkt des Denkens stehen. Die Verantwortung für das eigene Leben, so lautet die Kritik, werde an traditionell hierarchisch-patriarchale Strukturen übergeben, was gleichzeitig bedeute, sich unterzuordnen. Ein Teufelskreis aus Bequemlichkeit und Selbstverleugnung entstehe so.

Das »europäische Modell« der Persönlichkeitsentwicklung, das die Abnabelung der Jugendlichen von den Eltern zur Voraussetzung habe, um eine eigene Individualität zu entwickeln, gebe es in dieser muslimischen Kultur nicht. »Kinder werden zur Nachahmung, nicht zur Selbständigkeit erzogen.« Es sind pauschalisierende Aussagen wie diese, die Necla Kelek den Vorwurf eingebracht haben, die Verhältnisse in der Mehrheitsgesellschaft zu idealisieren und die Zustände in den migrantischen Bevölkerungsgruppen zu dramatisieren.

Im ersten Teil des Buches schildert sie ihre Gespräche mit fünf jungen muslimischen Straftätern, die sie im Gefängnis ­besucht hat. »Ihre Lebensgeschichten«, schreibt sie, »werfen ein Licht auf die Schattenwelt von Gehorsam, Gewalt und Gefängnis, in die muslimische Männer eingesperrt sind, nicht nur die, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind.« Die jungen Männer sprechen wenig über ihre Emotionen, und sie eint die Furcht vor Verantwortung. Die Frage nach »persönlicher Schuld« stellen sie sich Keleks Beobachtung zufolge nicht. Meist werden gesellschaftliche Umstände oder angeblich unausweichliche Zwänge – Rache, Ehrvorstellungen, Traditionen – für das eigene Unglück verantwortlich gemacht. Für die Möglichkeit, aus den Zwängen auszubrechen, sie infrage zu stellen, ist in diesem Denken kein Platz.

Erklärungen dafür liefert Kelek einige. Sie spricht von einem »Leben ohne Liebe«, das geprägt sei von »verordneten Ehen« und der »Fremdheit der Geschlechter«. Sie kritisiert die Macht des Vaters, der in den Familien herrsche, »wie ein Despot auch über die Gefühle seiner Söhne«, und das große Schweigen über die Gewalttätigkeiten, das zum Machterhalt der Väter gehöre. Die Erziehung der Jungen bezeichnet sie als »schwarze Pädagogik«, die seit Generationen von den Vätern an die Söhne weitergegeben werde. Das Problem an diesem methodischen Vorgehen ist natürlich, dass man von Straftätern nicht-muslimischer Herkunft mit Sicherheit die gleichen Aussagen zu hören bekäme.

Ausgehend von ihrer Analyse macht Kelek die türkischen Muslime dafür verantwortlich, dass deren Integration in die deutsche Gesellschaft gescheitert sei. Eine Neuorientierung der Einwanderer an den Werten der westlichen Gesellschaft gebe es nicht, was ein Miteinander der Deutschen und Türken verhindere. Sie spricht vom »Aufblühen einer Gegenkultur« und erklärt – als Reaktion auf ihre Kritiker, die ihr vorwerfen, ihre eigenen Untersuchungsergebnisse vor kurzem noch ganz anders interpretiert zu haben –, dass »auch sie selbst die kulturelle Dimension des Muslim-Seins sträflich unterschätzt« habe.

»Integration« ist ihr Zauberwort, ihr Vertrauen in die deutsche Zivilgesellschaft ist unerschütterlich. Kelek fordert die Deutschen auf, ruhig »stolz« auf ihr Land zu sein, das nach seinen politischen »Sonderwegen« habe lernen müssen, sich selbst aufzuklären.

»Stolz auf Deutschland« ist allerdings nicht gerade die Tugend, die emanzipative Veränderungen vorantreibt. Zwar ist die Verteidigung von Demokratie und Freiheit verständlich. Wer vom finstersten Mittelalter ausgeht – und als solches können die Praktiken des fundamentalistischen Islamismus angesehen werden –, dem erscheint auch Deutschland als Hort von Liberalismus und Selbstbestimmung.

Deutlich wird aber auch, dass Keleks Analyse, die vorrangig überkommene religiöse Traditionen für die negative Entwicklung von Kindern aus muslimisch-türkischen Familien verantwortlich macht, fragwürdig wird, wenn soziale Kriterien gänzlich außen vor gelassen werden. Wenn sie das Desinteresse der Eltern an den Zukunfts­chancen ihrer Kinder beschreibt, nennt sie Gründe wie »Bildungsferne«, die allgemein typisch sind für Familien in prekären sozialen Situationen, ebenso wie das »Fernbleiben von kostenlosen medizinischen Untersuchungen« oder das »Nichtnutzen vorschulischer Angebote«.

Wie die Pisa-Studien gezeigt haben, ist Deutschland nicht unbedingt engagiert dabei, benachteiligte Familien zu unterstützen und gleiche Ausgangspositionen für eine erfolgreiche Schul- und Berufskarriere zu schaffen. Das ist offensichtlich um so nötiger, wenn die Eltern dies nicht für erstrebenswert halten. Zwar ist es auch richtig zu betonen, dass es zu einfach ist, der Gesellschaft alle Verantwortung zu übertragen. Allerdings ist es schwer, sich auf eine Gesellschaft einzulassen, die Probleme damit hat, das Land als Einwanderungsland zu sehen, und in der es viele Jahre Konsens war, dass die deutsche »Abstammung« als erste Voraussetzung für die Erlangung der Staatbürgerschaft angesehen wird.

Kelek betont, dass sie mit ihrem Buch nicht den Anspruch erhebe, eine empirisch repräsentative Bestandsaufnahme vorzulegen. »Ich versuche, anhand ausgewählter Beispiele die grundlegenden Merkmale der türkisch-muslimischen Männerrolle herauszuarbeiten.«

Überdies ist es ihr wichtig zu betonen, dass es eine große Anzahl von Männern gebe, die sich aus der türkisch-muslimischen Männerrolle befreit hätten und in der deutschen Gesellschaft angekommen seien. Diese Männer fordert sie auf, sich offensiv zu zeigen, um andere zu »ermutigen«. Ein frommer Wunsch. Bisher fühlen sich für die Kritik an der Unterdrückung der muslimischen Frauen vor allem Frauen zuständig, die am eigenen Leib erfahren haben, wovon sie sprechen.

Necla Kelek: Die verlorenen Söhne. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2006, 218 S., 18,90 Euro