Dialektik des Dekolletés

Zwischen dem Busenattentat auf Adorno und Marcuses Beharren auf nackter Wahrheit: Marvin Chlada zur kritischen Theorie der Oberweite

Am 22. April 1969 wird Theodor W. Adorno kurz nach dem Beginn seiner Vorlesung »Einführung in dialektisches Denken« in seiner Rede unterbrochen. Ein Zuhörer fordert ihn zur »Selbstkritik« auf. Unruhe bricht aus. »Adorno als Institution ist tot«, heißt es in einem Flugblatt der Basisgruppe Soziologie, das unter den Anwesenden verteilt wird. Und auf der Wandtafel ist zu lesen: »Wer nur den lieben Adorno lässt walten, der wird den Kapitalismus sein Leben lang behalten.« Als drei Studentinnen dann vor ihm die Brüste entblößen, ihn zu küssen versuchen und Blumen über ihn streuen, packt Adorno ein und verlässt unter Tränen, die Aktentasche schützend vors Gesicht haltend, den Hörsaal.

»Gerade bei mir, der sich stets gegen jede Art erotischer Repression und gegen Sexualtabus gewandt hat!«, wird er sich später im Spiegel (5. Mai 1969) empören: »Mich zu verhöhnen und drei als Hippies zurechtgemachte Mädchen auf mich loszuhetzen! Ich fand das widerlich. Der Heiterkeitseffekt, den man damit erzielt, war ja doch im Grunde die Reaktion des Spießbürgers, der ›Hihi!‹ kichert, wenn er ein Mädchen mit nackten Brüsten sieht. Natürlich war dieser Schwachsinn kalkuliert.«

Kritisiert wurde Adorno mit dieser Aktion zum einen dafür, dass er sich in den Elfenbeinturm der Theorie zurückgezogen habe und, anders als etwa Herbert Marcuse, die Apo nicht tatkräftig zu unterstützen bereit sei. Im Gegenteil, als das Institut für Sozialforschung besetzt wird, ruft Adorno die Polizei. Noch heute scheiden sich an Adornos Verhältnis zu Theorie und Praxis die Geister. Für die einen ist er der »Anwalt der Nicht-Identität« (Albrecht Wellmer), für die anderen ein gefährlicher »Hegelianer und Marxist« (Karl Popper). Darüber hinaus halten ihn manche für einen »philosophischen Punk mit aristokratischer Diktion« (Jan Stoll­berg), der einer pessimistischen, negativ-dialektischen Weltanschauung huldige.

Adornos Voyeurismus

Tatsächlich geht Adorno davon aus, dass Theorie die »Statthalterschaft des Glücks« innehat, dass das Glück, das durch Praxis hergestellt werden soll, keinen »andern Reflex« mehr findet, als im »Verhalten des Menschen, der auf dem Stuhl sitzt und nachdenkt«. Kurz, was Adorno vorschwebt, ist nicht mehr und nicht weniger als »eine Theorie, die Marx, Engels und Lenin die Treue hält, aber nicht hinter die fortgeschrittenste Kultur zurückfällt«.

Entsprechend werden von ihm »bor­nier­te(r) Praktizismus« und »Scheinrevolution« als »Kinderkrankheit im Kommunismus« (Lenin) entschieden abgelehnt. Zwar müsse die Theorie aussprechen, »was man mit Hinblick auf die Verwirklichung des Kommunismus innerhalb einer bestimmten Mächtekonstellation tun kann«, der Zwang allerdings, in solchen Alternativen denken zu müssen, würde das Denken heute zum »Gewäsch« machen: »Das ist eine Antinomie«, heißt es in Max Horkheimers und Ador­nos »Diskussion über Theorie und Praxis«.

»Praktisch« steht Adorno somit vor einem Dilemma. Was sich da »für links von der SPD hält«, das seien entweder »jene anarchistischen Aktivisten«, die unter die Kritik von Marx fallen, oder aber die Moskau hörigen Parteigänger, die bereit sind, selbst die »Scheußlichkeit des Überfalls auf die Tschechoslowakei« zu rechtfertigen. Dazwischen gebe es nichts.

»Ich kann aber auch nicht vergessen, dass die Sozialdemokratie auf ihrer großen Linie sich seit 1914 treu geblieben ist. Das Godesberger Programm stellt wohl das einzigartige Beispiel eines Dokuments dar, in dem eine Partei allen, aber auch wirklich allen theoretischen Gedanken abschwört, die sie einmal inspiriert hatten«, so Adorno in einem Brief an Günter Grass vom 4. November 1968. Trotz alledem sei er nicht bereit, sich mit der Reaktion gegen die Studenten zu verbinden, »mit denen unsereiner dann immer noch mehr gemein hat, wenn sie einen totschlagen, als mit jenen, wenn sie uns als einen der Ihren an die liebevolle Brust drücken«.

Bereits als Kind habe er sich gegen das christliche »Wer nicht für mich ist, ist wider mich« gesträubt: »Für solchen Widerspruch muss man wohl einige Odien auf sich nehmen. Dass ich das Revolution-Spielen in einer Situation wie der gegenwärtigen nicht nur für Unfug, sondern für gefährlich halte, gerade für einen freiheitlichen Sozialismus, möchte ich ausdrücklich sagen. Zugleich allerdings, dass die Universität so durch und durch reformbedürftig ist, dass ich inneruniversitär die Forderungen der Studenten unterstützen muss.« Als Adorno wenige Monate darauf schließlich zur »Selbstkritik« aufgefordert und alles andere als »liebevoll« an die Brust gedrückt werden sollte, wird er diese Aktion als »puren Stalinismus« bezeichnen: Erpressen lasse er sich nicht.

Zum anderen sollte Adorno durch das »Busen-Attentat« (Robert Gernhardt) öffentlich dem Spott ausgesetzt werden, galt er doch als einer, der den Frauen hemmungslos ins Dekolleté zu glotzen pflegte: »Wie völlig unwiderstehlich war ihm der Anblick junger Damen gewesen. Einer hübschen Figur nachblickend hatte er früher, so wird heute noch erzählt, seine Ausführungen fortzusetzen aufgehört«, schreibt Rudolf zur Lippe in seinem Aufsatz »Die Frankfurter Studentenbewegung und das Ende Adornos. Ein Zeitzeugnis«. Mögen Zeitgenossen Adornos Voyeurismus mitunter als »unschicklich« bezeichnen, sein Verhalten gar als »sexuelle Belästigung« brandmarken – eines kann ihm mit Sicherheit nicht vorgeworfen werden: dass er unreflektiert »gehandelt« habe.

Wie alle marxistisch orientierten Ästhetiker folgt Adorno dem Diktum der Klassiker: »Philosophie und Studium der wirklichen Welt verhalten sich zueinander wie Onanie und Geschlechtsliebe« (Marx/Engels: »Die deutsche Ideologie«). Im Gegensatz zu anderen Vertretern kritischer Theorie aber, etwa Leo Löwenthal oder Herbert Marcuse, hält Adorno die These, dass Frauen in der Geschichte des kapitalistischen Produktionsprozesses keine allzu große Rolle gespielt hätten und daher weniger »verdinglicht« seien als Männer, für einen »romantischen« Gedankengang.

Tatsächlich werde die Frau weit mehr als der Mann vom »Warencharakter« beherrscht. Soll heißen, die Frau fungiert als »Agentur der Ware in der Gesellschaft«. Grund dafür sei ihr »spezifische(s) Konsumentenbewusstsein«. Selbst an »sexuell ganz ungehemmten Frauen« ließen sich die »schlimmsten Züge bürgerlichen Charakters« studieren. Da aber der »Gebrauchs­wert« der Sexualität allein in der vollständigen Durchsetzung des »Tauschwerts« wieder gefunden werden könne, lautet die »dialektische Spitze« in Adornos Argumentation, dass als »einzige(s) Heilmittel« gegen die »Fetischisierung des Sexuellen« der sexuelle Fetischismus in Frage kommt.

Unter den zahlreichen Formen des sexuellen Fetischismus zählt der Busenfetischismus zu den verbreitetsten. Im Volksmund wird der Busenfetischist als »Busenpatron«, »Tittenheini« oder »Busenfreund« bezeichnet. Frönt dieser dem Coitus inter­mam­ma­rius (»Spanisch«, »Euterfick«, »Balkonfahrt«, »Meiereistoß« etc.), ist vom »Duttelspritzer« oder »Armaturhobler« die Rede. Der Mammalerotiker und Busenfreund hingegen, bedient sich nicht selten eines »naturalisierten« Vokabulars, wenn er auf das adorable Objekt seiner Begierde zu sprechen kommt.

Bazon Brock führt dieses Phänomen auf die Zunahme kritischer Reflexion in der Geschichte der Menschheit zurück. Dem Animismus, der die Natur in Analogie zur Geisterwelt betrachtet, folgt die »Vernatürlichung« des menschlichen Körpers, im Zuge dessen die weibliche Brust in Analogie zur Natur beschrieben wird (»Knospen«, »Äpfel«, »Berge« etc.). So werden etwa im »Hohelied« des König Salomo die Brüste der An­gebeteten mit den »vollen Trauben« des Weinstocks verglichen. Darüber hinaus soll die »Schönste unter den Frauen« schlank wie eine »Dattelpalme« gewesen sein. Bei diesem Anblick wird Salomo nur mehr von einem Gedanken beherrscht: »Ich dachte: Ich will die Palme besteigen.« Übermannt vom Verlangen fordert er schließ­lich: »Deine Brüste sollen mir munden.«

Der Busenfreund lässt seine Hände zart über wohlgeformtes Gelände und fleischige Hügel »wandern« oder führt seine Finger das tiefe Tal hinab »spazieren«. »Auch die angegebenen Farbwerte und ge­schmäck­lerischen Nuancierungen verraten, dass die Erlebnisinhalte eines Busenfreundes durch Analogie zu denen des Naturgängers gewonnen werden: Es blitzt grell, der Farbbogen leuchtet, das Licht glüht usw. Sicherlich hatte diese Art des vernatürlichten Sprechens die Aufgabe, das Sprechen über und das Reden von der Brust überhaupt erst zu ermöglichen. Denn wurde die Sache, die nackte Brust, besprochen wie etwas, was allen vor Augen lag, konnte daran nichts Verwerfliches liegen« (Bazon Brock: »Brust raus! oder Die befreite Brust. Zur Emanzipation eines Körperteils«).

Folgen wir Adorno, der fürs Matterhorn zu schwärmen und sich als »Bergmensch« zu bezeichnen pflegte (»Die Berge wären ja das Rechte für mich ...«), dann vollzieht sich im Naturerlebnis die »Gestaltung der Welt im Ich«. So wahr es sei, dass ein jegliches in der Natur als schön aufgefasst werden könne, so wahr sei gleichsam das Urteil, dass die Landschaft der Toskana schöner ist als die Umgebung von Gelsenkirchen. Kunst und Theorie, den »Statthaltern des Glücks«, sei die Utopie des Friedens und der Versöhnung immanent, heißt es in Adornos Werk »Ästhetische Theorie«: »Das Lückenlose, Gefügte, in sich Ruhende der Kunstwerke ist Nachbild des Schweigens, aus welchem allein Natur redet. Das Schöne an der Natur ist gegen herrschendes Prinzip wie gegen diffuses Auseinander ein Anderes; ihm gliche das Versöhnte.«

Das niemals fassbare Andere

Kein Wunder also, dass Märchen und utopische Romane das Glück gemeinhin am Busen der Natur, in einem fruchtbaren Tal oder im Schutz des Gebirges ansiedeln. Michael Ende etwa erzählt in »Jim Knopf und die Wilde 13« die Geschichte einer »Insel mit zwei Bergen«, einer kleinen Idylle, die sich schließlich als multikulturelles Utopia entpuppt – aus Lummerland wird Jimballa.

Mit »Natur« bezeichnet Adorno zum einen die äußere und innere Natur (Umwelt und Triebe). Zum anderen ist im Anschluss an Marx die Gesellschaft als »zweite Natur« des Menschen gemeint. Darüber hinaus will Adorno Natur als Einspruch gegen den Zwang zur Identität verstanden wissen. Versöhnung bedeutet daher immer sogleich Emanzipation von der Natur sowie Emanzipation der Natur.

Ein Sinnbild der Versöhnung in Mythologie, Geschichte und Kunst ist der nackte Busen der Frau. Aus dem Trojanischen Krieg zurückgekehrt und fest entschlossen, an Helena Rache zu nehmen, lässt Menelaos das Schwert zu Boden fallen, als diese ihre Brust vor ihm enthüllt. Und von Phryne heißt es, dass der Anblick ihrer nackten Brüste die Richter davon abhielt, sie wegen »Gottlosigkeit« zu verurteilen. Phryne liefert gleichsam das Modell für den ersten weiblichen Akt der Geschichte: die Aphrodite von Knidos. Es wird von Männern berichtet, die beim Anblick der Statue vor Freude geweint oder sich an ihr befriedigt haben. Auch sollen in ihrer unmittelbaren Umgebung pornografische Abbildungen an Touristen verkauft worden sein. Allerdings: »Keine nackte griechische Plastik war ein pin-up« (Adorno: »Ästhetische Theorie«). Die Aphrodite von Knidos repräsentiert weder »Trophäe« noch »Ruhekissen des Kriegers«, die in Form bunter Bilder den Soldaten massenhaft in die Schützengräben hinterhergeworfen werden.

Als Allegorie des Friedens und der Versöhnung ist die entblößte Brust seit Phrynes Freispruch zu allen Zeiten präsent. Ein Busen verkörpert in seiner paradiesischen Nacktheit in Kunst und Kultur das Fremde und Unerreichbare, jenes Andere, worauf Sehnsüchte und Wünsche projiziert werden: »Die weibliche Aktdarstellung in der Kunst bringt oft dieses niemals fassbare Andere zum Ausdruck, das jenseits der Grenze unserer verdorbenen und schlechten Welt angesiedelt ist, in irgendeinem natürlichen und ursprünglichen Paradies«, schreibt Marina Warner in »In weiblicher Gestalt. Die Verkörperung des Wahren, Guten und Schönen«.

Nackt tanzen die Frauen im Schlaraffenland um den Jungbrunnen, barbusig schreitet die Südseeschönheit an der Seite des »edlen Wilden« durchs Zeitalter der Aufklärung. Die mit Natur assoziierte »Wildnis« steht für das Ungebändigte, das Ungezähm­te. Entsprechend »wild« sind die Fantasien des autoritären Charakters. Wo (scheinbar) kein Triebverzicht geleistet wird, dort ist alles möglich. Kurz, dem Hass des Autoritären auf die nackte Brust liegt immer der Hass auf den mit ihr assoziierten »Möglichkeitssinn« (Robert Musil) zugrunde. Ein tiefes Dekolleté gilt als »gewagt« und kann »geduldet« werden, nackt und frei aber ist die Brust revolutionär.

Verstärkt ins Blickfeld gerät sie daher immer dann, wenn ein neues Zeitalter eingeleitet wird. Als etwa Frantz Fanon seinerzeit eine algerische Delegation ins unabhängige, von kolonialer Gewalt befreite Guinea begleitet, steht auch eine Oben-ohne-Show auf dem Programm. »Das sind ehrbare Frauen? Und dieses Land ist sozialistisch?«, empören sich die sittenstrengen algerischen Bauern. »Natürlich mit entblößten Brüsten«, antwortet Fanon: »Sie haben Brüste und zeigen sie auch!« (Zit. nach Simone de Beauvoirs Autobiographie »La Force des choses«)

Ob zur Zeit der Renaissance, im Zuge der Französischen Revolution oder der Revolte im Mai 1968 – wo altes Recht gebrochen und in Frage gestellt wird, dort tritt gleichsam die nackte Brust in Erscheinung. Dann verkörpert ein Busen gleichsam den Willen zur Utopie, die Bereitschaft, für Frieden und Freiheit den Kampf aufzunehmen. Diesen Aspekt hat vor allem Marcuse in »Konterrevolution und Revolte« betont: »Eine Frau hält auf dem Gemälde von Delacroix die Fahne der Revolution in der Hand und führt das Volk auf die Barrikaden. Sie trägt keine Uniform; ihre Brüste sind entblößt, und ihr Gesicht zeigt keine Spur von Gewalt. Aber in der Hand hält sie ein Gewehr, denn das Ende der Gewalt muss noch erkämpft werden.«

Nach Marcuse hat die Gesellschaft im Zuge des dialektischen Geschichtsprozesses ein Bild der Frau hervorgebracht, das »noch zu einem der Totengräber« von Patriarchat und Kapitalismus werden könnte. Entsprechend werden von ihm die »weiblichen Qualitäten« (Zärtlichkeit, Fürsorge, Rezeptivität, Sinnlichkeit etc.) als oppositionelle Kräfte ins Feld geführt, um die Eman­zi­pa­tion einer »neuen Sensibilität« voranzutreiben. Dass es sich dabei nicht um die Qualitäten der »realen« Frau handeln muss, hat Marcuse immer wieder betont. Ein »einziger Blick« auf die Fotografien weiblicher KZ-Aufseher mache deutlich, bis zu welchem Grad auch Frauen in der kapitalistischen Gesellschaft funktionalisiert und dehumanisiert werden können.

Um die aggressive, feindselige Wirklichkeit zu überwinden, setzt Marcuse daher auf die Aktivierung der Fantasie. Hat das Realitätsprinzip das Glück und die Versöhnung ins Reich der Utopie verbannt, bestehe Fantasie darauf, dass hinter der »Illusion« ein Wissen steht. Erst dann würden die Wahrheiten der Vorstellungskraft realisiert, wenn die Fantasie selbst Form annehme. Dies geschieht in der Kunst – sie ist der sichtbarste Ausdruck der Wiederkehr des Verdrängten. Als »Wissenschaft von der Schönheit« übernimmt die Ästhetik darum eine kritische Funktion.

Kurz, auch bei Marcuse lauert hinter der ästhetischen Form die verdrängte Harmonie von Sinnlichkeit und Vernunft, »der ewige Protest gegen die Organisation des Lebens durch die Logik der Herrschaft, die Kritik am Leistungsprinzip«. Eine bloße Negation des geltenden Schönheitsideals verfehle daher ihr Ziel. Vielmehr gehe es darum, die emanzipatorische Funktion von Schönheit zu erkennen und damit auch anzuerkennen: »Der gesellschaftliche Wert der Schönheit ist wesentlich ambivalent: einerseits verziert und ›verkauft‹ sie das bestehende System, sie hat hohen Tauschwert; andererseits aktiviert sie, im Bereich des Eros, die triebhafte Rebellion gegen das aggressive Realitätsprinzip« (Marcuse: »Marxismus und Feminismus«).

Werde seine kapitalistische Realisierung transzendiert, könnte der Kult um die weibliche Schönheit in Warenform zu einer Kraft werden, welche die repressive Ratio und Arbeitsethik unterminiere. Der Entwicklung der Frau vom Sexualobjekt zum erotischen Subjekt entsprechend, würden die herrschenden Standards von Schönheit dann »eine gründliche Umwertung« erfahren. Die materiellen und intellektuellen Kräfte, die zur Realisierung einer freien Gesellschaft eingesetzt werden könnten, seien längst da. Allein die »totale Mobilisierung der bestehenden Gesellschaft gegen ihre eigene Möglichkeit der Befreiung« verhindere, dass diese Kräfte auch eingesetzt werden.

Titten sind Teufelszeug

An die kritische Theorie Marcuses anknüpfend, hat Nicolas Schöffer in »Die kybernetische Stadt« ein offenes »Modell für die kybernetische Organisation des menschlichen Lebensraumes« entworfen, das der neuen Sensibilität und dem »Reichtum des menschlichen Lebens« in Zukunft Rechnung tragen soll. In einer Parkanlage befindet sich ein »Liebestempel«, das Zentrum für sexuelle Freizeitgestaltung. »In der Konzeption des in der Mitte des Parks liegenden Gebäudes werden Kurvenlinien vorherr­schen und der Form nach an einen prallen Busen erinnern, der auf einem nach unten hin ausladenden Sockel ruht.« Die äußere Oberfläche soll glatt und geschlossen sein und die Farbe von »sanftem Rosa« haben. Wenn der Besucher die Schwelle übertritt, wird er in ein audiovisuelles Bad mit einer »mildwarmen, duftenden Atmosphäre ganz in hellem Rot« getaucht, wo der Klang, das farbige Licht und die Gerüche in langsamen Rhythmen pulsieren.

Eine Versöhnung des Menschen mit sich und der Natur ist für Marcuse nur denkbar als Befriedung der Natur als Ganzes. Dem Vorwurf, sich dem Traum eines biblischen Wolkenkuckucksheims verschrieben zu haben, wo Wolf und Lamm friedlich beisammen liegen, hält er in »Revolutionäre Erotik. Ein Gespräch« entgegen: »Meine Allergie gegen die Heilige Schrift ist nicht so beschaffen, dass ich sagen würde, jede Einzelheit darin ist a priori reaktionär und repressiv.«

Auch Horkheimer und Adorno pflegen eine »Allergie« gegen die »Bibel«, ohne sie »a priori« im Ganzen verwerfen zu wollen. Kritisiert wird von ihnen weniger das »Hohelied« Salomos, als vielmehr der christliche Versuch, die Unterdrückung des Sexus durch die »Ehrfurcht vor dem Weibe« ideologisch zu kompensieren. Der Hass auf die Frau sei dem Christentum so eigen wie der Antijudaismus. Anstatt sie »bloß zu verdrängen«, werde die Erinnerung ans Archaische stattdessen veredelt: »Das Bild der schmerzensreichen Mutter Gottes war die Konzession an matriarchale Restbestände. Doch hat die Kirche die Inferiorität der Frau, aus der das Bild erlösen sollte, mit seiner Hilfe auch sanktioniert.«

Dem christlichen Diktum entsprechend, sich die Natur untertan zu machen, finde die Frau schließlich Aufnahme ins Bürgertum. »Niederlage als Hingabe, Verzweiflung als schöne Seele, das geschändete Herz als den liebenden Busen. Um den Preis der radikalen Lösung von der Praxis, um den des Rückzuges in gefeiten Bannkreis, empfängt Natur vom Herrn der Schöpfung seine Reverenz.« Hinter der ­Bewunderung des christlich sozialisierten Mannes für die Schönheit lauere nur mehr das »schallende Gelächter« über die besiegte Natur.

Allerdings sei die Bewunderte nicht nur Opfer, sondern gleichsam Komplizin: »Seit die verkrüppelten Narren, an deren Sprüngen und Schellenklappen einstmals das traurige Glück gebrochener Natur haftete, dem Dienst der Könige entronnen sind, hat man der Frau die planmäßige Pflege des Schönen zuerkannt. Die neuzeitliche Puritanerin nahm den Auftrag eifrig an. Sie identifizierte sich mit dem Geschehenen ganz und gar, nicht mit der wilden, sondern mit der domestizierten Natur. Was vom Fächeln, Singen und Tanzen der Sklavinnen Roms noch übrig war, wurde in Birmingham endgültig aufs Klavierspiel und andere Handarbeiten reduziert, bis auch die allerletzten Restbestände weiblicher Zügellosigkeit vollends zum Wahrzeichen patriarchaler Zivilisation sich veredelt hatte« (Horkheimer / Adorno: »Dialektik der Aufklärung«). Kurz: Mit der Lehre vom gekreuzigten Gott hätten die Christen die Versöhnung der Zivilisation mit der Natur »vorzeitig erkaufen« wollen. In Wahrheit aber handle es sich um eine Rückkehr zum Götzendienst.

In der Tat ist den Kirchenvätern, Heiligen und gemeinen Christenmenschen der einst von König Salomo geschätzte Geschmack traubenschwerer Brüste verdächtig. Nachdrücklich empfiehlt der Apostel Paulus, »kein Weib zu berühren«, erklärt Aurelius Augustinus im 14. Buch seiner einflussreichen Abhandlung »De civitate dei«, dass allein im Garten Eden die Nacktheit keinen »Aufruhr des Fleisches« provoziert habe: »Es lebte der Mensch im Paradiese, wie er wollte, solange er wollte, was Gott befohlen hatte.« Jenseits von Eden freilich, ist die Versuchung allgegenwärtig. Nach einem Bericht der »Legenda aurea« des Dominikaners und Erzbischofs Jacobus de Voragine, soll St. Bernardus, nachdem er seinen Blick »eine Zeitlang« über die Rundungen eines üppigen Weibes hat gleiten lassen, als »furchtbarer Rächer gegen sich selbst« aufgetreten sein. Um sich von der »Glut fleischlicher Lust« abzukühlen, warf er sich in einen eiskalten Teich.

Nach Ansicht der frommen Herren stellt die Frau »ein verfehltes Männchen« (Thomas von Aquin) dar, ein mit Brüsten ausgestattetes Geschöpf minderen Verstandes, das allein darauf aus ist, den Gläubigen vom rechten Weg abzubringen, kurz: ihn zu verführen. An derartigen Vorstellungen ändert auch die Reformation nicht viel. Zwar wirkt, wie Leo Kofler in »Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft« überzeugend hat nachweisen können, »der lutherische Gedanke wie ein Funke im Pulverfass«, allerdings bleibt »alles in Halbheiten stecken«. »Es ist im Grunde ein Sichzufriedengeben mit der Ordnung, wie sie ist, mit ihren ständischen Schichtungen und der Fesselung des Individuums an seinen Platz, mit aller Anerkennung der überkommenen Obrigkeit.«

Weder am Antijudaismus noch am Frauenbild der katholischen Kirche hat Luther etwas auszusetzen. Im Gegenteil: Die Reste einer ans Matriarchat erinnernden Bilderwelt werden nunmehr endgültig entwertet und eliminiert. Fest davon überzeugt, dass das Weib ein »Toll Thier« und »halbes Kind« sei, dessen »größte Ehre« darin besteht, Männer zu gebären, sorgt Luther sich darüber hinaus um die vom Sittenverfall bedrohten Fürstentümer. Niemand stehe auf, die »vorn und hinten« entblößt einhergehenden Mädchen und Frauen zu züchtigen.

Angesichts der tief dekolletierten Witten­bergerinnen spielt er gar offen mit dem Gedanken, der Stadt für immer den Rücken zu kehren. All das freilich hält die Anhänger des Reformators nicht davon ab, schon wenige Jahrzehnte nach dessen Tod aus Wittenberg einmal mehr einen Schauplatz theologischer Gedankenfreiheit zu machen: 1591 versammeln sie sich dort, um auf historischem Boden die Frage zu debattieren, ob Frauen Menschen sind.

Welcher Konfession er auch angehören mag, ein guter Christ weiß: Titten sind Teufelszeug. Egal, ob es sich dabei um die Brüs­te einer Hexe, den Busen einer Marktfrau oder die Nippel eines pubertierenden Mädchens handelt. Der Dominikaner und Bußprediger Girolamo Savonarola etwa rief seinerzeit in Florenz sämtliche Mütter dazu auf, ihre »Töchter nicht wie Kühe herumlaufen« zu lassen und dafür Sorge zu tragen, »dass sie die Brust bedecken«. In Frankreich ist es der Franziskaner Olivier Maillard, der den Frauen droht, spätestens in der Hölle an ihren »schamlosen Eutern« aufgehängt zu werden. Die Kleider der Weiber seien dermaßen weit ausgeschnitten, dass beinahe die Brustwarzen zu sehen sind.

Im 17. Jahrhundert wettert in Wien der Augustiner-Barfüßer Abraham a Sancta Clara gegen die »verhurte(n) Sauzimmer« von der Kanzel herab. Lauthals fordert er, man möge »diesen Weibern auf die entblößten Brüste scheißen«. Weder die »vornehmen Teutschen Damen«, die »mit bloßen nackenden Brüsten prangen«, noch Frauen, die »mit Faschen und Binden« ihre Brüste in die Höhe zwingen »als wie zwei Dudelsäck«, seien es wert, angespuckt zu werden. Selbst »im Tempel« demonstriere die gleichsam unverschämte wie lasterhafte »Närrin« ohne Scheu dem Anständigen, wie »wohlfeil ihr das Fleisch im Mieder sei«: »Viele unter euch haben den bösen Gebrauch, dass sie zwischen den nackten Brüsten Demant-Kreutzlein oder güldene geätzte Kruzifixlein herabhängend tragen. Heißt das nicht, Christum noch heutigen Tages zwischen zweien Mördern hängen, wie eherzeit die gottlosen Jüden taten auf dem Berg Golgatah?«

Darüber hinaus werden Brüste von Abraham a Sancta Clara als aktive Vulkane phantasiert, die es zu meiden gelte. Den »fleischernen Bergen«, die das »Feuer der Geilheit« speien, sei schon »manche Stadt Gottes, manche Seele« zum Opfer gefallen (Zit. nach Hanns Krammer: Das entblößte Frauenzimmer. Die Geschichte des Dekolletés).

Ansichten dieser Art haben die abendländische Geschichte über Jahrhunderte hinweg nachhaltig geprägt. Noch im September 2005 wird im italienischen Fano die Grundschullehrerin Caterina Bonci wegen ihrer üppigen Oberweite und des Tragens zu knapper Röcke von Schulleiter Don Alcide Baldelli und Bischof Vittorio Tomassetti aus dem Religionsunterricht entfernt und später gefeuert.

Kurz, die Mammophobie ist fester Bestandteil christlichen Denkens, einer autoritären Erlösungslehre, die Horkheimer in »Dämmerung. Notizen in Deutschland« schlichtweg als »Lüge« bezeichnet: »Dass die Christen vor fremdem Unglück heiter bleiben, dass sie nicht Abhilfe schaffen, wenn Ohnmächtigen Unrecht geschieht, sondern im Gegenteil selbst Kinder und Tiere quälen, dass sie ruhig an den Mauern vorbeigehen, hinter denen sich zu ihren Gunsten Not und Verzweiflung abspielt, dass sie bei all dem als ihr göttliches Vorbild Tag für Tag ein Wesen anbeten, das sich ihrer Überzeugung nach für die Mensch­heit geopfert hat: diese Lüge kennzeichnet jeden Schritt des europäischen Lebens.«

Entsprechend sahen Generationen christlich sozialisierter Meisterdenker sich genötigt, das Brett vor dem Kopf gegen zu viel Holz vor der Hütte verteidigen zu müssen. Als im August 1910 in Kreenheinstetten ein Denkmal zu Ehren von Abraham a Sancta Clara enthüllt wird, schreibt der Student Martin Heidegger, dass »Typen« solchen Schlages »uns erhalten bleiben« müssten. In Zukunft sollen »Geist« und Schriften Abraham a Sancta Claras zu einem »mäch­tige(n) Ferment« werden, vor allem »bei der Gesunderhaltung und, wo die Not schreit, bei der erneuten Heilung der Volksseele«.

Zwar gesteht Heidegger später, dass »erkenntnistheoretische Einsichten, übergreifend auf die Theorie des geschichtlichen Erkennens« ihm »das System des Katholizismus problematisch und unannehmbar gemacht« hätten. Doch sind die von Heidegger beschrittenen »Holzwege« nur mehr Abzweigungen einer gewaltigen Tradition, die über Weiblichkeit zu reflektieren allein in den Kategorien Heilige und Hure sich angewöhnt hat, wobei die zweite Kategorie deutlich dominiert. »Die Sorge und das Besorgen waren von Heidegger als Bewegung in die Zukunft oder in die Vergangenheit, auf jeden Fall aber horizontal‹ verstanden worden«, lautet dann auch das Ergebnis einer Studie, die Rüdiger Safranski Mitte der neunziger Jahre unter dem Titel »Ein Meister aus Deutschland« vorgelegt hat.

Das gute Leben

Unlängst hat der Bildhauer Peter Lenk mit einer neun Meter hohen Skulptur dem christlich-abendländischen Treiben ein ironisches Denkmal gesetzt. 1993 enthüllte er, den »Bedenken« kirchlicher Würdenträger und Gemeinderatsmitgliedern zum Trotz, auf dem Pegelturm der Konstanzer Hafeneinfahrt seine Imperia. In den Händen trägt sie Kaiser Sigismund und Papst Martin V. Beide sind nackt, ihre Rücken krumm und die Haut faltig. Lenk bezeichnet sie als »Gaukler«, die sich die Insignien der Macht unrechtmäßig angeeignet haben.

Die von Balzacs Contés drôlatiques inspirierte Skulptur verweist auf das zwischen 1414 und 1418 einberufene »Konstanzer Konzil«, an dem nicht nur Geistlichkeit und Krone, sondern darüber hinaus zahlreiche »leichte Mädchen« anwesend waren, um den Herren die Zeit zu versüßen – eine in der Geschichte des Christentums, entgegen aller Rede, durchaus gängige Praxis. Das vollbusige »Triumphweib« (Helmut Weidhase) aber steht über der Heuchelei und Grausamkeit, die der abendländischen Geschichte zu Grunde liegt. Ihre Botschaft ist Lust und Frieden. Einmal mehr verkörpert Imperia das »Versprechen der Befreiung« (Herbert Marcuse) und die »Sehnsucht nach dem Anderen« (Max Horkheimer) – kurz, das gute Leben, ein Dasein jenseits hektischer Betriebsamkeit und Angst.

Wie die »eigenwillige« Kunst Lenks steht kritische Theorie gegen das, was Marcuse »Realitätsgerechtigkeit« nennt, »gegen den zufriedenen Positivismus«. Beharrlich hält sie an nackter Wahrheit fest. Dass Wahrheit in der bestehenden Ordnung keinen »realen« Ort hat, spricht weder gegen die Wahrheit noch gegen die Theorie, sondern gegen das falsche Ganze.

Ihre »utopischen« und »unzeitgemäßen« Zielsetzungen freilich gewinnt kritische Theorie allein aus dem realen gesellschaftlichen Prozess. Das unterscheidet sie von aller herkömmlichen Philosophie: »Das utopische Element war in der Philosophie lange Zeit das einzige fortschrittliche Element: so die Konstruktion des besten Staates, der höchsten Lust, der vollkommenen Glückseligkeit, des ewigen Friedens. Der Eigensinn, der aus dem Festhalten an der Wahrheit gegen allen Augenschein kommt, hat in der Philosophie heute der Schrullenhaftigkeit und dem ungehemmten Opportunismus Platz gemacht. In der kritischen Theorie wird der Eigensinn als echte Qualität philosophischen Denkens festgehalten« (Herbert Marcuse: »Philosophie und kritische Theorie).

In diesem Sinne wird Marcuse mit Blick auf die Emanzipation einer »neuen Sensibilität« den Übergang vom »Realismus zum Surrealismus« fordern und auf die Frage, welche Bedeutung der Existentialismus Sartres in seinem Denken spiele, antworten: »In L’Étre et le Néant gibt es z. B. eine wirklich charmante Phänomenologie des Popos. Das hat mir gefallen.« Jürgen Habermas, der Marcuse diese Frage 1977 im Rahmen eines Gesprächs über Theorie und Politik in Starnberg gestellt hatte, kommentiert: »Ja, auch Leute, die blicken können, müssen mindestens Augen im Kopf haben.«

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Marvin Chlada: Dialektik des Dekolletés. Zur kritischen Theorie der Oberweite. Alibri, Aschaffenburg 2006. 126 S., 12 Euro