Den Tränen auf der Spur

Warum weinen wir bei Filmen wie »Brokeback Mountain« und »Titanic«? Woher rührt das Unbehagen an den Inszenierungen von David Lynch? Drei Studien über Psychoanalyse und Kino suchen nach Antworten. von jan süselbeck

Die letzte Einstellung in Ang Lees ­Melodram »Brokeback Mountain« zeigt einen Blick aus dem Fenster. Wir befinden uns im Wohnwagen des einsamen Ennis Del Mar (Heath Ledger), dessen Geliebter Jack Twist (Jake Gyllenhaal) ermordet wurde. Alles was man sieht, ist ein gerahmtes Bild, das an ein unwirkliches Landschaftsgemälde erinnert: gelbe Felder, die am Fuße ferner Berge liegen. Links im Vordergrund des Bildes durchschneidet Ennis’ Schrank die Komposition. Es ist der Spind, in dem der vereinsamte Liebhaber die erinnerungsträchtige Kleidung seines verstorbenen Begleiters wie eine Reliquie aufbewahrt. »Das schwör’ ich dir, Jack«, hört man Del Mar noch sagen, bevor der Film zu Ende ist. Der Rest ist Schweigen. Worte für das verzweifelte Sehnen des Heroen gibt es nämlich gar nicht mehr, sie bleiben aufgehoben in jenem epiphaniehaften Gemälde, das Lee uns als melodramatischen Schlusspunkt präsentiert.

Wie Del Mar »am Ende mit zwei blutigen Hem­den und einer Postkarte (…) auf die Ber­ge blickt – das ist von so unendlicher Sehnsucht und so fern jeder Attitüde, dass es alle Preise verdient, die Ledger für diese Rolle gewonnen hat«, meint Verena Lueken in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sie beschreibt nichts weiter als jene traditionelle melodramatische Konvention, wie sie Hermann Kappelhoff in seiner Studie »Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit« als Genealogie bürgerlicher Bewusstseinsbildung untersucht.

Vom sentimentalen Roman über die Bühne der Empfindsamkeit bis hin zum Hollywoodmelodram des 20. Jahrhunderts spannt sich laut Kappelhoff eine »Praxis sentimentalen Genießens«, die in der »leibhaften Vergegenwärtigung eines fiktiven emotionalen Zustands durch das Publikum« gipfele: dem Weinen. Der dunkle Zuschauerraum und die Bühne bzw. die Leinwand selbst würden in solchen Momenten im Zusammenspiel mit der melodramatischen Musik zu einem »Interieur der Seele«, das den Zuschauer »in ein Verhältnis zur eigenen Emotionalität und (…) zur Grenze seines sprachlichen Bewusstseins« versetze.

In seiner Studie entwickelt Kappelhoff einen Begriff vom affektiven Eigenwert des melodramatischen Bild­raums, der eben nicht über irgendwelche Handlungsmomente oder genrespezifische Erzählstrategien beschreibbar sei, sondern den er als ein aus solchen Kontinuitäten vollkommen herausfallendes Zeitbild zu verstehen versucht. Vor dem Hintergrund der Theorien Helmuth Plessners und Gilles Deleuzes faltet er die Idee eines Empfindens aus der subjektiven Versenkung in eine theatrale bzw. filmische Raumkomposition.

Horror der Liebe

Untersucht werden Streifen wie Rouben Mamoullians »Applause« (USA 1929), auratische Auftritte der klassischen Diven der dreißiger und vieziger Jahre – Greta Garbo, Marlene Dietrich und Bette Davis –, die Melodramen Douglas Sirks bis hin zu James Camerons Megaerfolg »Titanic« (USA 1997). Der Autor demonstriert anhand dieser Filme, wie sich die »Phantasiearbeit« über die Jahrhunderte stetig perpetuiert und gewandelt hat – als Wiederholung tiefverwurzelter bürgerlicher Imagines der Empfindung im Konfliktgefälle zwischen enttäuschter Liebe und der meist bedrohlich und gewaltsam in­sze­nier­ten Sexualität. »Mal um Mal dekliniert das Melodrama den Konflikt zwischen der Illusion der Liebe als ›idealer Komplementarität der Geschlechter‹, der Illusion eines sich im geliebten Objekt zur vollkommenen Einheit ergänzenden Ich und dem Scheitern dieser Illusion an der Antinomie der Geschlechter«, schreibt Kappelhoff.

»So müsste man sich denn vielleicht mit dem Gedanken befreunden, dass eine Ausgleichung der Ansprüche des Sexualtriebs mit den Anforderungen der Kultur überhaupt nicht möglich ist, dass Verzicht und Leiden (…) nicht abgewendet werden können«, schreibt Sigmund Freud 1912 in seiner Abhandlung »Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens«. Auch Kappelhoff, der Freuds Studien immer wieder heranzieht, arbeitet sich an der Beschreibung jener melodramatischen Sub­limations- und Regressionsstrategien ab, die die von Freud diagnostizierte gesellschaftliche Kontiuität im Spannungsfeld der Genres des Schauerromans und des Horror­films, des Melodrams und der Porno­grafie seit dem 18. und 19. Jahrhundert bestimmen.

So kommt der Autor im letzten Drittel seiner Studie auch nicht mehr daran vorbei, angesichts der auffälligen Wiederholungstrukturen, die er in den Plots sentimentaler Erzählungen und Rührstücke so genau herausgearbeitet hat, zu bemerken, sie stimmten »noch im Detail« mit den von Freud beschriebenen »Familienromanen des Neurotikers« überein. Daran knüpft er die wohl rhetorische Frage an: »Ist daraus zu schließen, dass die Psychoanalyse letzt­lich als eine anthropologische Struktur aufgedeckt hat, was sich in den Aktivitäten sentimentaler Phantasie schon immer manifestierte?«

Kappelhoffs Antwort fällt vor dem Hintergrund einer ausführlichen Rekapitulation der Geschichte psycho­ana­lytischer Filmtheorien einigermaßen differenziert aus. Seine eigene, hier angeschlossene »Psychoanalyse sentimentaler Phantasiearbeit« kommt auf das Verhältnis von Kino und Psychoanalyse zurück »wie auf ein ins Stocken geratenes Gespräch«. In einer manchmal vielleicht fast schon zu dicht formulierten Abhandlung ensteht das Bild des Kinos als Raum einer »wachen«, erwachsenen Regression in eine quasi »frühkindliche« Geborgenheit: »Tatsächlich ist die Poetik melodramatischer Filme – etwa die Darstellung masochistischer, narzisstischer oder hysterischer Phantasien – als Inszenierung eines ›inneren Prozesses‹ zu entfalten, den der Zuschauer durchläuft, indem er die poetische Logik in der Bewegung seiner eigenen Phantasiearbeit verwirklicht«, fasst Kappelhoff seine Beschreibung dieses eigentümlichen urmenschlichen Genusses zusammen.

Spiegelkabinett schöner Gesichter

In Bezugnahmen auf psychoanalytisch inspirierte Theoreme Julia Kristevas, Jaques Lacans und Donald W. Win­ni­cotts richtet der Autor den Blick noch einmal auf den zentralen kindlichen Liebeseindruck, den Freud in seiner berühmten Studie über eine »Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci« anhand der »Mona Lisa« analysierte: das Lächeln bzw. die ausdrucksstarken Gefühlsregungen des mütterlichen Gesichts. In den Großaufnahmen des klassischen Hollywoodmelodrams ersteht es zu neuer, zuvor ungekannt intensiver und detaillierter Präsenz: »Am Ende ist das Leiden der Heroine eine lyrische Figuration und ein süßer Schmerz: die Inszenierung eines hysterisch-paranoiden Bewusstseins, eines verliebten Ich im dunklen Raum.«

In seiner Analyse von James Camerons »Titanic« veranschaulicht Kappelhoff seine Thesen eindrucks­voll anhand des wohl erfolgreichsten Melodrams der letzten Jahre. Hier beschreibt er die komplex verwobenen und gespiegelten Zeit­ebenen des Films als intensive melodramatische Verräumlichung, die er u. a. mit dem Gefühlsexzess von Richard Wagners »Tannhäuser« vergleicht. Kappehoff zitiert dazu Heiner Müller, der in einem Interview zu seiner eigenen »Tristan«-Inszenierung einmal lapidar bemerkte: »Die Leitmotivtechnik ist natürlich eine Drogentechnik. Der Haupteffekt aller Drogen ist ja die Veränderung des Zeitgefühls, die Droge Wagner ist die Behauptung einer anderen Zeit als der Alltagszeit.« Dazu passt auch das von Kappelhoff zitierte Diktum Theodor W. Adornos aus dem »Versuch über Wagner«, wonach sich Wagners Musik gebärde, »als ob ihr keine Stunde schlüge, während sie bloß die Stunden ihrer Dauer verleugnet, indem sie sie zurückführt in den Anfang«.

Kappelhoff nimmt diesen Ansatz aber nicht zum Anlass ideologie­kritischer Auslassungen, kapriziert sich sein spezielles Interesse doch auf die immergleiche Wiederholungsbewegung des Ich, das in der Illusion des Kinos ganz wie in der bei Freud in »Trauer und Melancholie« (1917) beschriebenen Weise »kein anderes Ziel als das unendliche ›noch einmal‹, ›noch ein letztes Mal‹ » kenne, »mit der es die Minuten glücklicher Liebesvereinigung wiederholen und gegen die Ewigkeit eintauschen möchte«. Auf dieses Urmotiv beziehe sich ja nicht von Ungefähr auch der Titelsong von »Titanic«: »Man kann es dann zu Hause im Radio hören, immer wieder, noch einmal und noch einmal: ›And the heart goes on and on.‹«

Kappelhoff erkennt in dem vierstündigem Opus die »Vorstellung einer sinngesättigten Welt ohne Kontingenz, in der jedes Ding ein Gefühl, jede Aktion einen Gedanken, jeder Farbwechsel einen Geistesblitz artikuliert, das aber ist die kürzeste Formel, auf die sich die Lektüre des Films ›Titanic‹ bringen lässt«. Er meint: »Man kann diesem Darstellungsprinzip in allen Formen sentimentaler Populärkultur begegnen.« Auch hier, bei einer solchen Massenwirksamkeit, sei schließ­lich jenseits technischer Special-Effect-Mätzchen und archaisch-mythologischer Motivkomplexe davon auszugehen, dass im Publikum »grundlegende psychische Energien auf psychischer Erfahrung aktiviert« worden sein müssten.

Es wird weitergeträumt

Kein Zweifel, das Thema »Psyche im Kino« ist noch lange nicht abgehandelt. So thematisiert auch ein in diesem Jahr erschienener, aufwändig und vielfarbig illustrierter Sammelband mannigfache Perspektiven auf den »spannungsreichen Dialog« von Kino und Psychoanalyse, wie es im Vorwort der Herausgeber von »Psyche im Kino. Sigmund Freud und der Film« heißt.

Insbesondere die Filme von Douglas Sirk, David Fincher, Brian de Palma und David Lynch erfahren hier eine neuerliche psychoanalytische Betrachtung. Matthias Wittmann erkennt in seinem Aufsatz mit dem Titel »Hinter dem blauen Samtvorhang: Neun Denkbruchstücke zu David Lynch« im Kino David Lynchs einen »traumhaft-halluzinatorischen Charakter«, der daraus resultiere, dass dort die »Personen, Dinge und Räume immer auch (Trans-)Figurationen innerpsychischer Stimmungen und Zustände darstellen«. Weiter schreibt er: »Vermittels dieser Koexistenz von Realität und Traum, von Erinnerungs-, Gedanken-, Rela­tionsbildern sowie seherischen Visionen gelingt es Lynch, einen Kosmos ohne Zentralperspektive zu konstruieren, in dem sich das Imaginäre und das Reale permanent austauschen.« Dazu zitiert er Gilles Deleuze: »Der imaginäre Blick macht das Reale zu etwas Imaginärem, während er selbst real wird.« Lynchs Filme vermöchten für »kurze Zeit die Ordnung der subjektzentrierten Bilder rückgängig zu machen« und, mit Deleuze gesprochen, jenes nichtzentrierte, »kosmische Flimmern von Bewegungs-Bildern« zu generieren, »die die Welt vor dem Auftauchen eines konstituierenden, wahrnehmenden Subjekts erfüllt haben könn­te« – eine Terminologie vorsprach­licher und frühkindlicher Wahrnehmun­gen also, an die ja auch Kappelhoffs Untersuchungen anschließen.

Nun hat sich Lynch im von Chris Rodley herausgegebenen Interview-Band »Lynch über Lynch« im Gespräch über seinen surrealen Debütfilm »Eraserhead« selbst eher spitzbübisch-ablehnend über psychoanalytische Lesarten geäußert: »Es mag exakte Wissenschaften geben, aber die Seelenkunde gehört nicht dazu.« Doch das bewahrt ihn natürlich nicht davor, dass seine Werke sich aufgrund ihrer spezifischen Traumstrukturen besonders für einen solchen analytischen Zugriff anbieten.

»In heaven, everything is fine«, singt die freundlich-abstoßende weibliche Traumgestalt in Lynchs »Eraserhead« aus dem Heizkörper heraus, den sie zu bewohnen scheint. Innere (Horror)Fantasien sind bei diesem Regisseur nicht mehr von dem Außen der Figuren zu trennen, weswegen Georg Seeßlen seinen Filmen auch eine »Dramaturgie der Inversion« bescheinigte. Es gehe hier um einen Menschen, der »immer tiefer in sich selbst oder in seine symbiotischen Beziehungen gelangt«, heißt es in Georg Seeßlens Buch »David Lynch und seine Filme«.

So bergen »Harmonie und Geborgenheit bei Lynch immer auch ein Moment des Unbehagens«, wie auch Wittmann konstatiert – letztendlich abermals eine melodramatische Konvention der Ambivalenz zwischen sanfter Liebe und den Abgründen der Sexualität, wie sie auch Kappelhoff immer wieder beschreibt: »You’ve got your good things an I’ve got mine«, heißt passenderweise der distanzierende zweite Vers, den die »Lady in the Radiator« aus »Eraserhead« singt – »auch der Himmel präsentiert sich als ein ewiges Aneinandervorbei«, resümiert Wittmann.

Das Umschlagen des Vertrauten ins Unheimliche bzw. die Identifikation beider als ein Moment verdrängter und somit entfremdeter Ich-Anteile, wie sie Freud in seiner Studie »Das Unheimliche« (1919) beschrieb, benennt Wittmann allerdings nicht als erster als zentrales Charakteristikum der Filme Lynchs. Auch Rodley schrieb bereits im Jahr 1998 im Vorwort seines Interview-Bands, Lynchs Inszenierungen verwandelten »das Heim in etwas Un-Heimliches, erzeugt durch ein beunruhigendes Nichtvertrautsein im scheinbar Vertrauten«. Oder, wie Freud es formulierte: »Das Unheimliche ist unheimlich, weil es insgeheim allzu vertraut ist, deshalb wird es verdrängt.« Rodley schreibt: »Dies ist das Wesen von Lynchs Kino.«

… and on and on …

Wie wenig wegzudenken der psychoanalytische Ansatz in der Filmwissenschaft mittlerweile ist, belegt auch der Band »Das Kino der Gesellschaft – die Gesellschaft des Kinos. Interdisziplinäre Positionen, Analysen und Zugänge«, der »Kinoanalyse und Gesellschaftsanalyse« zu kombinieren sucht. Wenn sich in einem solchen interdisziplinär angelegten Buch, das schwerpunktmäßig das Verhältnis von Soziologie und Film zu perspektivieren sucht, abermals Beiträge etwa zu »Film und Identität: Ein psychoanalytisch-kulturtheoretischer Zugang« (von Brigitte Hippel) oder auch mit dem Titel: »Wir sind doch immer noch Männer? Eine psychoanalytische Betrachtung des Films ›Fight Club‹ von David Fincher« finden, so darf man getrost annehmen, dass Freuds Ideen im Kino und dessen Analyse weiter leben werden. Das Herz hört eben nicht auf zu schlagen.

Hermann Kappelhoff: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit. Vorwerk 8, Berlin 2004, 340 S., 29,00 Euro

Thomas Ballhausen (Hg.), Günter Krenn (Hg.), Lydia Marinelli (Hg.): Psyche im Kino. Sigmund Freud und der Film. Film Archiv Austria, Wien 2006, 412 S. 24,90 Euro

Manfred Mai, Rainer Winter (Hg.): Das Kino der Gesellschaft – die Gesellschaft des Kinos. Interdisziplinäre Positionen, Analysen und Zugänge. Herbert von Halem Verlag, Köln 2006, 320 Seiten