Nach Bernhard

Über Thomas Bernhard, seine Kopisten und die Kopisten seiner Kopisten. Ein Vortrag samt Vorwort von Christoph Narholz

Fährt man auf der Westautobahn von Salzburg ins Salzkammergut, kommt bei St. Georgen, wo die Autobahn erstmals deutlich zu den kommenden Seen und ihren Gebirgen und Vorgebirgen sich hinüberneigt, eine lang gezogene Kurve. Sie verläuft unscheinbar, beinahe unmerklich, in flache Hügelwiesen gelegt und maschen­drahtbezäunt gegen das kreuzende Wild. Nach vielen Tunnelkilometern zwischen Schallschutzwänden und Böschungswäldern öffnet sie ein jedes Mal den Blick und tut das ein jedes Mal wieder überraschend.

Die Fahrt wird für den Moment schwebend in ihrem Sog, der den Ankommenden ein letztes Mal sachte wegdrückt und weiterzieht zugleich, bevor der Weg mit den Ausfahrten Regau oder Steyrermühl nach Süden knickt und über die in Österreich so genannten Bundesstraßen, auf denen sogar die Lastkraftwagen kaum langsamer fahren als auf der Autobahn, an den Traunsee führt.

Ich bin in der Bernhardstadt Gmunden aufgewachsen und habe Thomas Bernhard oft gesehen, im Kaffeehaus Brandl mit den ausländischen Zeitungen, der Frankfurter Allgemeinen oder Neuen Zürcher, ganz wie die Legende es will. Ich habe Bernhard nicht gekannt und schon gar nicht angesprochen. Seine Bücher habe ich erst spät gelesen, ich war schon zum Studieren in Deutschland, in einer Situation meines Lebens, die mich für eine Weile dem Düsteren seiner frühen Sachen aufgeschlossen hat. Einen dunklen Winter lang habe ich gelesen, und zwischen­drin ist mir zu Hause Thomas Bernhard auf einmal gestorben, und ich bin erschrocken und bin sitzen geblieben und habe weiter gelesen.

Ich habe in meiner Gmundener Schulzeit Leute gekannt, die Thomas Bernhard lasen und mochten: eher gebildete, eher gut gestellte, leicht aufbrausende, ländlich genia­lische Figuren; ziemlich ernsthaft, etwas eigenbrötlerisch, wenig wahrnehmungslustig; aufgestachelt modernisierte Altösterreicher in wienerisch gestädterter Trachtenkleidung (den Kniestrickstrümpfen, Wet­terflecken, Polohemden, Levisjeans, Hirsch­hornknopfjankern und vor allem guten Schu­hen) – die Sorte junger Männer (und kein einziges Mädchen war dabei), die später mit Eckhart Nickel, Joachim Bessing oder Uwe Tellkamp auch in der Literatur aufgetreten sind.

Bernhard war ihre Weise, sich in der Welt zurechtzufinden, und hat mir, auf dem relevanten Umweg einer atmosphärischen Verstimmung anderer, und wie ich immer noch finde: zu Recht, gar zum Glück, den Zutritt in seine Bücher lange versperrt.

Thomas Bernhard ist offenbar gerne Auto gefahren. Im Tagebuch des Freundes und Realitätenvermittlers Karl Ignaz Hennetmair sieht man die beiden ganze Tage ziellos im Salzkammergut herumfahren, hier und da anhalten, ein Telegramm aufgeben, einen Gasthof besuchen, Grund­stücke besichtigen. Outlawhaft, streunend wie Amerikaner, schaukeln sie im großen Wagen über das Land.

Vor einigen Jahren im Herbst habe ich Thomas Bernhards Bücher wieder gelesen und mir auf langen Fahrten ihre Gegenden, die zu Teilen auch meine Herkunftsgegenden sind, mit erwachsen gewordenen Augen angeschaut.

Ich fuhr im Kobernaußerwald in dichtem Regen; ich sah in der Orangerie von Wolfs-egg angebrauchte Colaflaschen und Zigarettenschachteln auf mörtelbekleckerten Gartenmöbeln und blieb am Schlossberg im Gasthof Brandlhof über Nacht; vor dem Haus in der Reindlmühl, der ortsüblich so genannten Krucka, waren Äpfel reif und kalt und nass von einem nächsten Regen; ich war in Desselbrunn und am Traunfall bei Lambach und kam über Ungenach, wo die Familie der Mutter meines Vaters im 19. Jahrhundert einen Hof bewirtschaftet hat, zum Attersee, an dessen früher rivieraähnlichen Ufern mein Vater als Bassist einer Hoteltanzkapelle sein erstes Geld verdient hat.

Von den Büchern war ich wieder nicht recht begeistert. Es blieben diesmal aber trotzdem kommende Augenblicke mit Bernhard zurück. Etwa jener im vergangenen Jahr, als ich auf dem Salzburger Hauptbahn­hof die Lautsprecherdurchsage für den Regionalzug nach Schwarzach- St. Veit hörte, der Ortsname zugleich Titel eines unveröffentlichten Vorläuferromans zu »Frost« (die entstehende Ausgabe der »Werke« gibt in den Herausgeberkommentaren über solche Dinge Auskunft), und für einen lichten Sprung der Empfindung in die Bernhardwelt hinüber versetzt war, welche unsere Namen, Wörter, Wendungen gründlich ausgekegelt und bizarr zurechtverdreht dem täglichen Gebrauch zurückgegeben hat.

Man liest das Wort Salzkammergutschnit­zel, welches auf der Speisekarte eines Gmun­dener Seegasthauses tatsächlich zu finden ist, und muss lachen; aber bitter lachen. Bernhards Sprache ist in Österreich Öffentlichkeit geworden, die bessere, Räume öffnende; ihr gereizter, empfindsamer, angriffslustiger Kommentar läuft dem täglichen Sprechen, seit er geschrieben hat (und nahe am Sprechen geschrieben hat), unlöschlich mit.

Einen anderen Moment gab es wenige Tage nach jener Reise im Herbst. Ich hatte in Ohlsdorf jemanden abzuholen. Es war noch Zeit, und ich fuhr ein Stück weiter durch den Ort, nach Ruhsam und Weinberg hinaus. Ich hielt den Wagen hinter den letz­ten Häusern von Hilprechting und ging über eine abschüssige Wiese hinunter zur Traun, die dort eine scharfe Biegung macht, in welcher auf dem gegenüber liegenden Ufer die Papierfabrik Steyrermühl steht.

Wir sind zur Schulzeit höchstens nachts in Ohlsdorf gewesen, unter der Woche zumeist, um mit den Freundinnen die Asamer­disco zu besuchen, ein winziges kellerhaftes Lokal in einem Nebengebäude des Gasthofs Asamer. Außerhalb der Wochenenden war dort nicht viel los. Wir standen an Holz­balken gelehnt, tranken die ländlichen Nacht­lebengetränke, das Rüscherl, eine Cola mit Rotwein oder Cola mit Rum, und starrten auf die leere Tanzfläche, über die ein spärlich buntes Discolicht flackerte, und ohrenbetäubend laut lief »High Energy« von Evelyn Thomas oder »You’re in the Army now« der Gebrüder Bolland oder »Hey Little Girl« von Icehouse.

Die Lokale in den österreichischen Kleinstädten und Dörfern haben nächtelang geöffnet, bis drei Uhr morgens, vier Uhr morgens ist keine Seltenheit, und zwar jeden Tag in der Woche; man kann überall im Land die Nacht durchmachen und muss, wenn man nicht will, nicht nach Hause gehen.

Jetzt war es früher Abend und schon dunkel. Ich blieb auf der Wiese stehen, halbwegs zwischen Hilprechting und dem Waldsaum, hinter dem das Traunwasser floss und die Papierfabrik stand. In meiner Erinnerung liegt dünner Schnee; aber das kann nicht sein. Das Licht der Fabrik strahlte rot durch die Bäume, welche schon begonnen hatten, das Laub zu verlieren. Der ganze Wald strahlte rot.

In der Nacht scheint die Fabrik ausge­dehn­ter, ein weiter, dräuender, vibrierender Fleck, beängstigend still, flächig irrlichternd, durchzogen von innenverstrahltem Rauch. Sonst bewegt sich nichts. Das Flusswasser zieht.

Ich dachte an Bernhards Zeit hier ein paar Waldflecken weiter hinten auf dem Hof in Obernathal, seinen knappen Atem, die gierige Geldausgeberei für Häuser, Möbel, wie­der Häuser, das Zufluchtsuchen bei Hennet­mairs vor dem Fernseher, die Winterspazier­gänge in der Gegend, in welcher ich gerade stand. Ich dachte an seine Empörung über die »Menschen fressenden Papiermaschinen« in der Fabrik, ich weiß nicht mehr, in welchem Buch das steht, aus Anlass, glaube ich, eines tatsächlichen Unfalles, bei dem einem Arbeiter ein Arm abgerissen worden ist.

Das kommt freilich vor. Aber Bernhard hat sich nie beruhigt darüber, dass Menschen auf der Erde durch unwürdige Zustände geschleust und für dummes Zeug verbraucht werden und die meisten Leben langsam ver­unglücken.

In vielen neueren Büchern, die erkennbar nach Bernhard geschrieben sind, steht von diesen Dingen beinahe nichts mehr. Der im Folgenden dokumentierte Text, den ich auf dem Frankfurter Symposium über »Thomas Bernhard und die Jungen« im vergangenen März vorlesen durfte, handelt davon im zweiten Teil. Im ersten habe ich überlegt, warum gerade die Literatur Thomas Bernhards in der Kopie durch andere Autoren so besonders falsch klingt. Das kommt nicht aus der üblichen peinlichen Berührung durch Epigonen. Der Text handelt deshalb außerdem von einer Reserve gegenüber Thomas Bernhard, trotz allem. Ich habe sie schon lange und habe hier versucht, sie mir zu erklären.

Ich habe den Text geringfügig überarbeitet und ergänzt, insgesamt aber in der gedrängten, etwas rockigen, etwas treibenden Lesefassung von knappen 20 Minuten Rede­zeit stehen gelassen. Er spricht für Leute, die vertraut mit diesen Büchern sind. Den anderen wird aber nicht mehr als der eine oder andere Hinweis verschlossen bleiben.

Im Bernhardhaus zu Obernathal bin ich auf der Reise im Herbst, und weder davor noch danach, nicht gewesen. Der Respekt war zu groß oder der Abstand. Ich blieb bei den Büchern.

I.

Guten Abend. Ich habe ein turbulentes Unternehmen vorbereitet und bitte die Bernhardfreunde unter Ihnen im Voraus um Verzeihung. Ich möchte Thomas Bernhards postumes Fortleben in der neueren Literatur sichten und ordnen, alle Welt schreibt ja mittlerweile irgendwann einmal wie Bernhard, obwohl gerade er sich dazu eigentlich überhaupt nicht anbieten dürfte.

Ich werde zunächst keine Autoren beim Namen nennen, was ich sagen will, betrifft auf die eine oder andere Weise alle, und mich interessieren in erster Linie die malignen Anziehungskräfte des Originals und erst danach die unterschiedlichen Infektionen der Kopisten. Ich muss dabei streckenweise sehr unfreundlich mit Bernhard sein, tue das aber im Vertrauen darauf, dass sein großes Werk meine Randbemerkungen schon verträgt.

Bekannt ist, dass Bernhard Literatur aus einem Sturzbach unverantwortbar letzter Sätze schreibt; dass seine Welt die Welt in reine Gegensätze zerlegt, jede Kleinigkeit humorig totalisiert und in dieser Höhenlage dann endloslang durchnudelt; dass absolute Geistesmenschen dort herrschaftlich in Tiefen verankert nur aus sich selbst ex­istieren und mit den Fürsten, Gutsherrensprösslingen und Kardinälen ein unverhohlen an Hierarchie interessiertes Personal die Hauptrollen innehat; dass Bernhard sich eine Welt zurechtbastelt, in welcher die äußersten Mühen der genialsten Kerle in den tiefsten Dingen die höchsten Leistungen erzielen.

Man hat auch behauptet, das sei alles nicht so ernst gemeint; seine Rentiers und Geistesgrößen seien brüchige und verstörte; die endgültigen Studien würden niemals geschrieben, die absoluten Kegel verfielen; Bernhard sei sich der Absurdität seiner Unternehmungen wohl bewusst und vor allem ein großer Ironiker und Komö­diant.

Ich finde das nicht ganz so lustig und möchte ihn so leicht nicht entkommen lassen. Die »Auslöschung« etwa ist nicht das Buch, welches Franz Josef Murau zur negativen Höchsterhaltung des Geistes am En­de doch lieber nicht geschrieben hat, sondern leider genau das Buch, das er in höchst­philosophischer Absicht schreiben wollte und auch tatsächlich geschrieben hat; spätestens hier sind die Fluchtwege in die literarische Konstruktion versperrt.

Bernhard verramscht völlig ernstgemeint die traditionelle Geste der wissenschaftlichen Metaphysik, ihre suspekte Lust am Wahren, Größten, Ganzen, Besten, und es ist nicht so, dass seine Kunst diese nur unzulänglich verstünde und inszenierte, sondern umgekehrt bekommt sie technisch virtuos die Metaphysik wenigstens 150 Jahre nach ihrer Zeit schon nur mehr als Ramsch in die Hand; was allerdings umso problematischer ist, als seine Kunst sich von diesem Gerümpel offenbar angezogen fühlt.

Das mag, freundlich genommen, an ihrer natürlichen Intelligenz liegen, ihrem Wissen von der logischen Unvermeidbarkeit des Unbedingten und einer Sympathie für notwendende Manien und obsessive Verstrickungen generell. Sich aber mit Karacho deren allerausgeleiertste Motive, diese in einer gut zweitausendjährigen Ideen­geschichte hinlänglich, mit einer der herrlich drastischen Wendungen Bernhards gesprochen, »durchgestunkenen Lederhosen« noch einmal anzuziehen, zeugt nicht von sicherem Geschmack und keiner offensiven Umsicht der Bildung.

Murau kann folgerichtig nirgends mehr angeben, worin die hohe und höchste Erfahrung, welche er mit Onkel Georgs Geistesdingen gemacht haben will, denn nun genau bestehe; es bleibt bei einer sonntäglichen, gewissermaßen rosenzüchterischen, gänzlich formalen »Beschäftigung« damit, während die zur bornierten Familie damit behauptete Differenz ausschließlich zur pausenlosen aufgebrachten Generation kleinlich exquisiter Erregungen genutzt wird, welche ihren Ort eben nicht in Rom haben, das unter diesem Traktat vielmehr raubbebaut wird, verödet und leer bleibt, sondern immer noch, in die permanente unglückliche Denunziation des Ungeists verstrickt, bei den verhassten Eltern und Schwestern auf Wolfsegg.

Man kann den ersehnten Geist dann nur noch mit Gewalt erzwingen wie der Kegelkonstrukteur Roithamer (»Korrektur«), dessen beklopptes Bauwerk nicht nur für die angeblich geliebte Schwester tödlich ist, sondern der auch selber daran zugrunde geht, nicht an einer grassierenden Eferdinger Dummheit der Welt, sondern seiner eigenen übermotivierten Unterscheidungs­tätigkeit.

Bernhards entfesselter Negativismus unterschätzt die Kraft der Negation dramatisch, der Philosoph Gerhard Gamm hat es in einem bekannten Aufsatz auseinandergesetzt, weil er das rastlose moderne Prinzip der Korrektur in einer heroischen finalen Korrektur, dem Selbstmord, metaphysisch wieder beruhigt, anstatt radikalkonsequent durchzustehen, dass Negation der logische Horizont jeder Unterscheidung bleibt und diese notwendig offenhält, indem sie, auf sich selber dann eben wieder korrigierend und nicht nicht korrigierend angewandt, auch die Korrektur der Korrektur zur Nichtkorrektur jeweils noch korrigiert.

Man kann eine philosophische Ernstnehmerei, wie sie Gamm dem Roman von Bern­hard antut, auch taktlos finden und verliert über dieser sicher den Sinn für das Irre, Gefaselte, Hochgestapelte daran, welche durchgedrehteren Momente ich natürlich sympathisch finde und gegen die se­riöse Wissenschaft unbedingt verteidigen will.

Es ist aber trotzdem nötig zu tun, was zuletzt Andreas Maier mit sturschädeliger Naivität getan hat, Bernhard die intellektuelle Konkretion abzufragen nämlich, und sei es nur, um künftig vor der Versuchung sicher zu sein, bei ihm Philosophie zu finden, Schopenhauer vorzugsweise oder Wittgenstein, aber auch alles mögliche andere, je nach Laune des Suchenden; Bernhard selber hatte schlichtweg keine Ahnung.

Im Unterschied zu seinen Interpreten hat er das aber immer gewusst, und zuletzt in Murau seinem Schüler Gambetti auch gesagt. Es ist von heute besehen einigermaßen merkwürdig, dass Bernhards auf­geregtes Herumgebolze in subbanalem Tiefsinn, dieser Furcht einflößende Unsinn, den Saurau auf seinem Mäuerchen verzapft, die ausgesuchte Exzentrik dieser versammelten langweiligen Spinner so lange als Literatur von erkenntnisintensivem Geist missverstanden worden ist.

Andererseits hat Bernhard es hochgenau verstanden, Reflexionsprozesse in ihrer gleichsam natürlichen Umgebung, dem von Hegel ironisch so genannten »gesunden« Menschenverstand, zu beobachten. Weil dieser Verstand mit seinen ständigen Verallgemeinerungen, einseitigen Unterscheidungen, undurchschauten Absolutismen, unbefragten Voraussetzungen und sinnlichen absoluten Gewissheiten ohnehin der größte Metaphysiker ist, bleiben Philosophie und Psychologie in seinen existen­ziellen Vollzügen intim verschlungen und bilden in Bernhards speziellem Fall die bekannte, von Krankheit und Armut früh verdunkelte, intellektuell vom mündlichen Großvaterimport bestimmte, später aber offenbar durch wenig eigene Lektüre weiter aufgeklarte oder angereicherte Empfindsamkeit.

Bernhard schreibt von Anbeginn unter der revanchistischen Voraussetzung, dass großen Verletzungen von umso größerer Literatur heimzuzahlen sei; er schreibt unter der ressentimentlogischen Voraussetzung, dass Größe der Verletzung und Größe der Literatur direkt korrespondierten; er schreibt zuletzt in der kränkungstheore­tischen Voraussicht, den Opfern seiner Vorhaltungen trotz höchstdosierter Zuwendung von Aggression unglücklicherweise niemals ausreichend liebenswert zu sein.

Der autoritäre Charakter, weil er dem Überfordernden, Entzogenen und Unterdrückenden ohne Möglichkeit souveräner Gegenwehr in einem wenig scharfsichtigen »Bebrüten der Welt« (Gamm) ausge­liefert bleibt, übernimmt ohnmächtig ­wenigstens die quälende Lust an der Hie­rarchie und führt die eigenen bedrückten und verzweifelten Gefühle als miese und kalkulierende an willkürlich vorgeknöpfte Dritte ab.

Zum autoritären Regime, dem Bernhards Schreiben unterworfen bleibt, gehört der rachsüchtige Genuss von Privilegien, welche der Ohrensesselbeobachter in der Wiener Gentzgasse beispielsweise den mäze­natischen Auersbergers nach 30 Jahren immer noch nicht verziehen hat (»Holzfällen«); es gehört dazu die ergebene Selbstverständlichkeit, mit welcher der römisch luxurierende Murau zu dem kaum bedeutungsvollen Ereignis der Hochzeit seiner blöden Schwestern brav auf Wolfsegg wieder angewackelt kommt; es gehört ferner dazu die kaltblütige Bereitschaft Roithamers, die heilige Liebe zu seiner Schwester als Mittel im Kampf gegen die Mutter einzusetzen, also genau jenem Verfahren erniedrigender Gemeinheit zu unterwerfen, das er bei der so verabscheut. Ähnliche Konstellationen, und andere kaum, finden sich in den Büchern überall.

Weder die Methoden der Psychologie noch Bildung, wie Bernhards Literatur sie vorschlägt, scheinen mir also besonders nachahmenswert, und trotzdem reizt ge­rade Bernhard pausenlos zur Kopie. Das ist umso rätselhafter, als Bernhard, großer Künstler, der er war, nichts ausgelassen und noch seine schlechten Angewohnheiten zu Schreibweise gemacht hat.

Während das souveräne Genie die Paradoxie beherrscht, andere abzuweisen und anzustacheln zugleich (selber zu suchen, selber zu erfinden, selber groß zu werden), hat Bernhards autoritäres Genie dieselbe Paradoxie eifersüchtig umgedeutet und zieht andere nur deshalb an sich, damit es sie später zurückstoßen kann. Bernhard übertrumpft mit jedem Satz, den er schreibt, präventiv die Nachfolger, retro­spektiv die Vorgänger, intuitiv die Mitbewerber; spätestens der »Untergeher« hat diese kin­dische Jungsidee von der Kunst als virilem Duell, unanständig melodramatisiert außer­dem, durchsichtig gemacht.

Wer Bernhard unter solchen Umständen kopiert, imitiert demütig eine Sprechweise, welche auf die Demütigung von Imita­tion abzielt; wer sich von Bernhard herausgefordert fühlt, unterbietet die eigene Erreg­barkeit und bleibt bei den hilfloseren seiner intellektuellen Instinkte, dem traurigen Bedürfnis nach verfügungsgewaltiger Souveränität zumal, welches trügerische Versprechen Bernhards virtuose Sprachmelodie in der Tiefenschicht ihrer Verführungskraft tatsächlich vor allem produziert.

Die hohe Konzentration von Eifersuchts-energie in den Bernhardtexten wirkt magnetisch auf andere Eifersüchtige, welche sie im Moment der Kontaktaufnahme aber sofort verbrennt. Der jederzeit im Voraus siegreich zu einem elenden Häuflein Asche pulverisierte Kopist tut Bernhard freilich trotz­dem keinen Gefallen, weil in seiner peinlich unterworfenen Rede der ekle autoritäre Touch, den die psychologische Melodie Bernhards hat, erst so richtig zum Aufblühen kommt; weil in seinem beifälligen Mitgezeter und Hintennachgeschimpfe Bern­hards renitentes Gequengel, das seitenlange angestrengte Gekeuche durch intellektuellen Mulm, endgültig ein wahnsinnig biederes Gemaule wird.

Deshalb, denke ich, sollte man Bernhard einfach in Ruhe lassen. Es geht nicht weiter mit ihm, psychodynamisch nicht, intellektuell nicht, stilistisch schon gar nicht. Er lässt sich genießen, aber nicht weiterschreiben; er ist Literatur zum reinen Konsum, ein Wiener Theaterautor im durchdringenden Sinn; wer produzieren möchte, meidet ihn. Bernhard gehört in das vergangene totalitäre Jahrhundert und ist 1989 sehr rechtzeitig und symbolgenau gestorben. Für die hybriden, multiplen, exzessiven Bedrückungen, Empörungen, Verstörungen einer kommenden Zeit ist bei ihm nichts, oder nur negativ, zu lernen.

Wir schreiben nach Bernhard heute nicht, wie wir in der Wissenschaft beispielsweise nach Luhmann schreiben oder immer noch nach Kant, im Sinne einer Markierung, die für eine sinnvolle Tätigkeit auf der Höhe des Standes der Kunst eines Faches unerlässlich ist; wir schreiben nach Bernhard vielleicht nicht einmal wie nach einer Liebe, der man mit einer nie vergehenden Wehmut für immer nachtrauern wird; sondern wir schreiben nach Bernhard frei von Bernhard, ohne Bernhard, mit Bernhard hinter uns.

Es kommt um den Thomas Bernhard tatsächlich keiner herum, Elfriede Jelinek wird nicht müde, das zu wiederholen, aber nur aus dem einen einzigen enttäuschenden Grund, weil er einfach niemandem mehr im Wege steht.

II.

Auf der anderen Seite fehlt Bernhard in den Kopistentexten doch. Seine eigensinnig überdeutliche Schreibweise ist keine szientifisch neutralisierbare Methode, Andreas Maier hat es in seinem Roman »Wäldchestag« probiert, die nach erfolgreichem Ausklopfen der philosophierenden Flausen auf die Beobachtung Oberösterreichs wie Nieder­florstadts in gleicher Weise und ohne spürbare Verluste anzuwenden sei.

Es gibt eine nicht übertragbare Empfindlichkeit Bernhards immer dann, wenn er dem eigenen herrschsüchtig geplagten Geist entwischt und die Umstülpung seiner Verlet­zung ins Großkotzgerede nachdenklich über­springt. Das erbarmungswürdige Gezappel der Kreaturen in dem verfinsterten Tal unter Hochgobernitz ist sehr viel anrührender und wahrer gesehen als das schlecht­gelaunte Gefasel des Fürsten oben auf der Burg.

Auch die Zustände in den österreichischen Landgasthäusern sind immer noch die beschriebenen (die Frauen darin »einer Männerwelt überlassen, die mit dem fortschreitenden Alkoholkonsum gegen Morgen zu immer weniger wählerisch ist in den Mitteln ihrer Brutalität«); und die staatliche österreichische Pension für den Nazischergen, welcher den Bergmann Schermaier aus Kropfing unterhalb Wolfs-egg bei den »Massenmördern« denunziert und den »Straf­anstalten und Zuchthäusern und Konzentrationslagern« ausgeliefert hat, der nach dem Krieg »nicht die geringste Entschädigung bekommen hat für diese Jahre der Grausamkeit«, ist tatsächlich der Skandal, als welcher er von Murau vorgetragen wird.

Auch mit der allerletzten grotesken Über­treibung hat Bernhard sofort schlichtweg faktisch Recht, mit »der schlimmsten Genauigkeit« Recht, wie Ingeborg Bachmann geschrieben hat, wenn er im konkreten Banalen und Sozialen bleibt, viel mehr, als wenn er sich in die bessere Gesellschaft hinaufphilosophiert.

Bernhards verborgenere Kraft liegt in der realistischen Geschichte, nicht musikalisierten Abhandlung; im humpelig gestocherten, nicht heruntergeschnurrt mechanisierten Satz; in der kreatürlichen, nicht der leiernden Form. Er schreibt dann banalste Sätze von bestechendster Plastizität (vom Schweinebottich etwa, der mit siedendem Wasser, den Erzählrhythmus der Stelle zerbrechend, »angefüllt« ist und nicht nur »gefüllt«); oder begräbt ganze Lebensgeschichten im Elend einer flüchtigen Bemerkung (»er kam in ein Büro und wurde alt«); oder erlaubt sich Beschreibungen von kabarettistischer Spottlust und rätselhafter Melancholie (die »mit einem Futter gefütterten« Affen im Schönbrunner Zoo).

Bernhard kennt das Stilmittel der intellek­tuellen Übertreibung auch analog in Form einer ungelenken, traurig machenden, durch unerschöpfliche Leere trostlosen Empfindung, wenn es von den in eine Salzburger Schlucht hineingestürzten und darin um­gekommenen Schülern etwa heißt, diese seien »für immer getötet worden« (für wie lange denn sonst, aber so berührt es plötzlich schlimm), oder dem alten Reger der »eine einzige geliebte Mensch« wegstirbt, nicht nur der eine, und nicht nur der einzige.

Manierismus und Grobianismus Bernhards verbinden sich dann zu umständlichen Formulierungen von bedrückender Zartheit. Die Autobiographiebücher, deren besonderer Charme der behutsamen Anwendung einer gewalttätigen Herrschersprache auf ein sehr kleines und sehr wehrloses Geschöpf entspringt, haben diesen Effekt am nachdrücklichsten kultiviert. Das selbstironisch gelichtete Spätwerk überhaupt, der routinierte, komödiantische, schlagerhafte, auf nervige Modernismen weitgehend verzichtende Bernhard ist bei weitem erträglicher als der überforderte Geistes­heroe der frühen Bücher. In dem beruhig­teren Redestrom finden seine rumpeligen, knotigen, liebevoll verkorksten Sätze, und Bernhard hat erkennbar immer deutlicher auf diese hingeschrieben, ein begünstigendes Bett.

Wollte man also doch weiter tun mit Bernhard, müsste das fern der Lust am Getratsche und Gequatsche geschehen, ohne Naturgemäßtheater, Sogenanntensog und Konjunktivkonfusion, sondern man müsste vielmehr beispielsweise an die Stimmenimi­tatorgeschichten sich halten, Bernhards schönste Formerfindung, welche beides, die Empfindlichkeit der primären Verletzung und die übersichtliche Souveränität des Spätwerks, ohne athletische Dauer­produktion von Gemeinheit zusammenschließt.

Die große Spannkraft im ungehemmten Langstreckenreden, wenn sie für eine plötzliche, gleichwohl winzige Eruption aktiviert werden muss, kommt in den resultierenden Kleinststrukturen noch viel umwerfender zur Geltung als in den melodiösen Matsch­monologen der großen Prosa. In den Kürzest­geschichten findet man einen Bernhard von surrealer Komik und wohltuend krimineller Energie, einen leichtfüßigen, bei­nahe tänzerischen Bernhard, der auf engstem Raum großherzlich elegant sich ge­bärden kann und trotzdem in jedem neuen Schritt seine ganze Schwere und Klobigkeit mitbewegt.

Wenig überraschend interessiert das bei den Kopisten aber niemanden, weil dort jeder lieber beim Besserwissen, Drüberstehen und Hinuntertreten mitmachen will. Zwar lässt auch diese Unart sich in Ausnahmefällen doch übernehmen, Rainald Goetz hat es von DJ Westbam erzählt, der seinen Bernhard gerne gekonnt zitatweise hype­r­ironisiert herunterrockt; aber dazu ist un­bedingt vorausgesetzt, dass man im Hauptberuf etwas anderes tut, nicht selber schreibt, im Falle Westbams also Zampano ist und Großkünstler im Nacht­leben.

Am besten hat die Kopie, integral zu Bern­hard im Ganzen, Rainald Goetz selber hinbekommen. Er hat dafür seiner Liebe zu Bernhard eine immense Bildung auferlegt, hat Bernhards monotone Klassikerbibliothek um neueste und der Bernhardwelt ent­fernteste Texte ergänzt und die singulären Bernhardklänge in ein polyphones Universum konkurrierender Zweit-, Dritt- und Viert­sprachen überspielt.

Der Rote-Armee-Fraktion-Roman »Kontrolliert« etwa oder der Kunstessay »Kadaver« haben in einem konsequenten Verfahren kontrollierter Korrektur den marode schwadronierenden Hohlkörper der Bernhardliteratur theoretisch nachgehärtet und inhaltlich gefüllt; der Theatermonolog »Katarakt« mit seinem zartmelodiösen Singsang der Argumente hat aus Bernhards gebundenem Räsonnement den sanften Wiegeschritt der Dialektik befreit und den eindimensionalen Schimpf des Originals in ein nunmehr wirklich höchstreflektiertes, immer noch fallweise bitterböses, aber das Bittersein ständig widerständig wieder weg­staunendes Sensorium zur Gesamtwelt­beurteilung übersetzt.

Goetz hat sich den Hass aus Bernhard gelöst, ohne die Ressentiments und das Geschmiere mitzuziehen. Das entgegengesetzte Programm beschäftigt Eckhart Nickel, der raffiniert versucht, Bernhards offensichtliche Schwächen auszuschlachten. In Figuren wie dem Franz Josef Murau sieht er den »Geistesdandy«, der gleich seinen Vorgängern im neunzehnten Jahrhundert ein rigoristisch geschmäcklerisches Verhältnis nicht mehr zu Kleidern, Möbelstücken oder Speisen, sondern zu Kunstwerken und Theorien unterhält.

Geistesdandys bleiben zwar doof, lesen von der Tradition ohnehin zu Tode auto­risiertes Zeug, das sie überdies nicht mehr verstehen, veröffentlichen deshalb wenigstens auch nicht selbst, haben aber Geschmack, was immer das dann noch heißen soll, und machen aus diesem eine nett verschrullte Kasperlphilosophie statt dessen.

Nickel sieht schön, dass Bernhards tieferes Genie, entgegen der schnaufenden und rackernden Oberfläche, im Leichtnehmen, Schwindeln und Ergaunern besteht. Er sieht aber nicht die hässliche autoritäre Schmutz­spur, die das leider hat, und dass die lebens­künstlerische Verwandlung zum großphilosophischen Flaneur deshalb nicht mit der gewünschten vollendeten Lässigkeit geglückt sein kann; er sieht außerdem nicht, dass eine glücklichere Herkunft als die bitter unterprivilegierte Bernhards dessen unverschämter Lösung aus sozialem Anstand mit Reserve begegnen muss.

Nickels Buch ist neben Krachts »Faserland« und Stuckrad-Barres »Soloalbum« trotzdem das heimliche dritte Gründungsdokument der damals so genannten »neuen«, irgendwie adeligen, boulevardesken, jungskrawalligen deutschen Popliteratur geworden, die sich einen dandyistisch zurechtgeschnöselten Gutsherrenbernhard natürlich gerne zum Vorbild genommen hat.

Moritz von Uslar schließlich hat es zuletzt sogar geschafft, Bernhard aus der Bernhardkopie von Rainald Goetz weiterzukopieren. Sein Roman »Waldstein oder Der Tod des Walter Gieseking am 6. Juni 2005« stimmt ein besonders extralässig abgehangenes Weltanschauungsgerede an, das im Betriebsklima unterschwellig aber trotzdem ungesund überhitzt, weil Bernhards fröhliche Totalisierungslust, besänftigt zwar durch die mildernde Intervention von Goetz, als herausfordernder Übertreibungsdruck weiter auf dem weichen Text lastet und ihn dazu treibt, glotzäugig einerseits wirklich jeden Mist ganz besonders beflissen hoch kompliziert intensiv toll zu finden, und auf der anderen Seite genauso hingegeben in eine banale Trübsal versenkt.

Bei einem weniger angestrengten und formgewaltigen Menschen als Rainald Goetz wirkt forcierte Lässigkeit aber deplatziert, weil ihr erkennbar alle Mühen erspart geblieben sind, die es gekostet hat, sie gegen die weltschweren Widerstände, linksterroristisch politisierte Sympathisantengefühle im Anschluss an Bernhards Berserkern nicht zuletzt, am Ende doch zu kriegen.

Sowohl Tollfinderei als auch Verzweiflungsgezweifel stehen bei Uslar deshalb immer an den irgendwie falschen, nicht relevanten, sondern kindisch überzogenen Stellen; sie bleiben schlecht gekonnt maßlos, und nicht urteilsstark ausdrucksgenau, radikalisiert.

Goetz hat mit Luhmann das übertreibungslustige Denken vorsichtig aus dem binnenlogischen Hedder wechselseitiger Widerspruchszwänge befreit und das erzählerische Netz zuspitzungswilliger Urteile deutlich viel geschichteter geknüpft; Uslar lässt dies hypersensibel stabilisierte Gewebe unplausibel agitiert wieder sinken und kehrt in kraftlos aufeinander gescheuchte Gegensätze zurück.

Bernhard gegenüber, dem Uslars pauschales Palavern immerhin wieder näher steht als Goetz, ist eine solche letzte wässernde Kopie freilich auch nicht gerecht, weil sie zu leichtfertig auf eine gestrengere Erziehung durch ihn, seine pragmatische Urteilskraft, stimmliche Naturgewalt, so­zia­le Empfindlichkeit, nicht zuletzt den unerschrocken feinen Humor verzichtet hat.

Das sind alles schwierige Sachen, und man weiß nicht genau, woher man sie kriegen soll. Sie sind trotzdem das Maß. Es wird eine Weile dauern, bis man Bernhard wieder mögen kann. Vielen Dank.

Literatur

Ingeborg Bachmann: Werke. Band 4. Piper, München 1978Thomas Bernhard: Werke in 22 Bänden. Suhrkamp, Frankfurt/M. seit 2003Gerhard Gamm: Nicht nichts. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2000Rainald Goetz: Festung 1–3. Kassette. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1993Rainald Goetz: Kontrolliert. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1987Karl Ignaz Hennetmair: Ein Jahr mit Thomas Bernhard. Residenzverlag, Salzburg 2001Andreas Maier: Die Verführung. Wallstein, Göttingen 2004Andreas Maier: Wäldchestag. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2001Eckhart Nickel: Flaneur. Manutius, Heidelberg 1997Moritz von Uslar: Waldstein oder Der Tod des Walter Gieseking am 6. Juni 2005. Kiwi, Köln 2006