Ich habe gar nichts gemacht

Hausbesetzung, Landfriedensbruch und das Verbrennen der Deutschland-Fahne waren die Funsportarten der Siebziger und Achtziger. von christian y. schmidt

Also, Euer Ehren, wenn Sie mich so fragen, ich weiß nicht, was ich hier soll. Erst mal halte ich nicht viel davon, wenn man sich darüber auslässt, was man denn für kleine, niedliche Verbrechen begangen hat, damals, als man noch jünger war. Das klingt mir zu sehr nach einer Mutter, die sich in den Siebzigern nackt hat fotografieren lassen und die jetzt die Fotos aus der Kiste holt, um ihren Kindern mal zu zeigen, was sie damals für einen tollen Körper hatte. Mutti nackt im Schlamm oder ums Lagerfeuer tanzend, untenrum bemalt und unrasiert. Ist doch peinlich, so was.

Ich habe auch gar nichts zu erzählen. Da ist nämlich nichts gewesen. Ich bin eine grundehrliche Haut, ich wurde so erzogen. Um das zu illustrieren: Mit 13 Jahren habe ich mal ein Fünfmarkstück gefunden. Es lag im Schnee und glänzte, hinter einem Zaun, der eine kleine Kioskbude umzäunte. Derselbe Kiosk übrigens, an dem ich mir später die Sexhefte besorgte, die unter dem Pullover immer so gut nach Druckerschwärze rochen, weshalb ich … aber darum geht es ja nicht. Ich bin über den Zaun geklettert und habe mir das Fünfmarkstück geholt, natürlich. Auf dem Nachhauseweg bekam ich ein schlechtes Gewissen. Ich habe dies und das gedacht, hauptsächlich aber, dieses eine Fünfmarkstück könnte jemandem furchtbar fehlen, einer alten Frau, die von Sozialhilfe lebt, frierend in einer baufälligen Wohnung. Ich bin dann wieder zum Kioskbesitzer zurück, habe ihm das Geldstück gezeigt und gefragt, ob das seines sei oder ob … Natürlich hat er »ja, meins« gesagt, das Arsch, und: »Dankeschön, mein Junge. Den ganzen Tag habe ich nach den fünf Mark gesucht.«

So war ich. Grundehrlich bis zur Blödheit. Es gibt auch sonst keine Verfehlungen in meinem Leben. Was soll ich denn schon gemacht haben? Prügeln, Verwemsen, Raub? Dazu hat es nicht gereicht. Ich war klein und schmächtig und wurde selbst dauernd verkloppt. Vor allem Jost Burgmann hatte mich immer wieder in der Mangel, wenn Ecki gerade nicht da war, der noch schwächer war als ich. Burgmann hat uns auf dem Schulweg gequält, in der Schule, auf dem Schulhof. Kopfnüsse, Arschtritte, tausend Stecknadeln, so was. Ecki musste ihm auch Geld für Negerküsse geben. Die hat ihm Burg­mann dann im Gesicht zerquetscht.

Einmal hat’s mir dann gereicht. Ich habe der dummen Sau so in die kleinen Eier getreten, dass er sich auf dem Boden wälzte und heulte, als habe er ein mit heißer Scheiße gefülltes Dampfbügeleisen verschluckt. Ich war zehn damals, und ich musste zum Direx, Jost Burgmann kam ins Krankenhaus, zur Kontrolle. Nein, leid tut mir die Sache bis heute nicht. Es ist ja letztlich auch nichts passiert, ich war noch gar nicht strafmündig. Und danach kam nichts mehr mit Hauen, außer, dass ich zwei, drei Mal noch was aufs Maul gekriegt habe, von Nazis oder Polizisten.

Gut, die Drogen später, das war vielleicht ein bisschen illegal. Aber nicht nach der heutigen Rechtssprechung, und darauf kommt’s doch an. Ich finde es lächerlich, von Verbrechen zu erzählen, die längst keine mehr sind. Und ich hatte sicher nie mehr als die sechs Gramm Hasch bei mir, die heute selbst in Bayern toleriert werden. Oder, hatte ich? Klar habe ich das geraucht. Hat doch jeder. Aber ich habe nie mit Drogen gehandelt oder sie geschmuggelt. Ich hatte einfach zu viel Angst. An der Grenze wurden wir jedes Mal gefilzt, allein schon wegen unserer langen Haare. Manchmal schickten sie auch Hunde durch die Autos, übel riechende Cockerspaniel, und hin und wieder mussten wir uns ausziehen: Beine breit und bücken. Da bin ich immer drum herum gekommen. Aber einige meiner Freunde nicht.

Die waren ja auch ’ne Nummer härter: Sie haben das Dope in Kondome gestopft, geschluckt und sind bei Hengelo rüber über die Grenze. Das hat immer geklappt. Es war aber jedes Mal ein großes Drama, bis dann das Hasch wieder draußen war, vor allem, wenn einer Verstopfung hatte. Danach wurde es gleich angeraucht. Ullo schwor: »Wenn das Zeug einmal durch deinen Darm gegangen ist, dann turnt es besser.« Das ist ungefähr so wie bei vietnamesischem Wieselkaffee. Der schmeckt wirklich aromatischer, wenn er … ach, Sie kennen die Geschichte?

Ich konnte das aber nicht, das Schlucken. Nee, halt, alles zurück, ich habe gerade eine Epiphanie. Ich sehe mich im Haus meiner Eltern vor der Klosettschüssel stehen und mit einem kleinen Stöckchen in der eigenen Scheiße pulen. Habe ich also auch gemacht. Ich habe aber kein Kondom genommen, sondern nur in ein bisschen Zellophanpapier, weil ich Angst hatte, so ein ausgeleiertes Kondom könnte sich irgendwie im Darm verhaken. Eigentlich soll man sich die ganze Verpackerei sowieso sparen können, denn große Haschischstücke werden gar nicht verdaut, höchstens ein bisschen angenagt von der Magensäure und den Darmbakterien. Wenn man aber ein Piece nicht verpackt, dann braucht man sehr viel länger, um es wieder zu finden, weil sich Hasch schwer von Scheiße unterscheiden lässt. Nun ja, es gibt unangenehmere Sachen: Hodenkrebs zum Beispiel, ausgelöst durch Tritte in der Kindheit.

So viel zu meiner Drogenkarriere. Natürlich ist sie noch ein bisschen länger. Wer Drogen nimmt, kann immer was erzählen, muss es aber nicht. Na, meinetwegen noch die Geschichte auf Fuerteventura, aus pädagogischen Gründen. Da war ich mit meiner Ex. Die Beziehung war noch ganz frisch, wir hatten im ersten Liebesrausch kurzfristig gebucht, da macht man ja noch solche Sachen. Im Hotel angekommen, suchte ich sofort meine Kondome. Ich fand sie im Kulturbeutel, und direkt daneben steckte ein Döschen. Ach, du Scheiße. Das hatte ich total vergessen: Sieben Es waren da drin, also Ecstasy-Pillen.

Ich war ganz aufgeregt und hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich wusste ja noch nicht einmal, ob der Besitz von Ecstasy in Spanien illegal war. Die haben ja so komische liberale Gesetze. Kurz dachte ich daran, bei der Polizei mal nachzufragen. Auch mein alter Kiosk fiel mir wieder ein. Hätte er auf der Insel gestanden, wäre ich da gewiss hingegangen und hätte gefragt: »Entschuldigung, ist das vielleicht Ihr Ecstasy?« »Genau, mein Junge, das sind meine Pillen. Ich erkenne sie an den lieben Smilies oben drauf.« Ich wette, so wär’s gekommen.

Fest stand, dass ich das Zeugs auf keinen Fall wieder zurück nach Deutschland bringen wollte. Jetzt, wo ich wusste, dass ich es hatte, hätte mir jeder angesehen, was los war. Ich hätte mir gleich ein Schild um den Hals hängen können, auf dem stand: Ich habe übrigens Drogen im Gepäck. Erschießen Sie mich bitte. Wegschmeißen konnte ich sie aber auch nicht. Ich bin ein sparsamer Mensch und kann nichts wegwerfen, was mich Geld gekostet hat. Außerdem hätten die Pillen vielleicht Kinder finden können; oder sie hätten dem Grundwasser was angetan.

Also beschloss ich, sie zu nehmen. Wir hatten für eine Woche gebucht und weil sich meine Freundin partout nicht zum Mitmachen überreden ließ, musste ich pro Tag eine einwerfen. Für mich war es dann eigentlich ein ganz okayer Urlaub. Ich fand die Insel und die Leute sehr entspannt. Meiner Ex gefiel es weniger. Sie meinte, ich hätte sie zwei Nächte lang nur vollgequatscht. Ab der dritten musste ich auf dem Balkon schlafen. Habe ich schon gesagt, dass wir nicht mehr zusammen sind?

Das kommt davon, wenn man sich opfert. Dabei konnte ich ja wirklich nichts dafür. Es war halt ein Versehen, wie es jedem mal passiert. Auch an den Spritdiebstählen auf dem Weg nach Portugal bin ich schuldlos. Ich gebe zu, wir haben auf der ganzen Strecke kein einziges Mal an einer regulären Tankstelle getankt. Stattdessen schlichen sich Jones, Olli, Albert oder Ullo nachts mit dem Kanister raus und zapften Diesel für unseren Ford Transit aus LKWs oder Baggern. Aber ich war nie dabei. Ich habe das abgelehnt. Nicht aus Angst, nein, ich war dagegen, weil ich es nicht in Ordnung fand, dass reiche deutsche Bürgersöhne armen portugiesischen LKW-Fahrern den Diesel stehlen. Zugegeben, ich wusste nicht, ob die LKW-Fahrer ihren Sprit selbst bezahlen mussten. Und sicher: Wären die vier erwischt worden, hätte man sie fürchterlich verprügelt. Deswegen behaupteten Sie ja auch, ich hätte bloß aus Schiss nicht mitgemacht.

Ich habe das dann widerlegt, als wir zurück in Bielefeld waren. Da fuhr ich mit meinem Sparkäfer hin und wieder auf Parkplätze und saugte auch aus fremden Tanks. Das war nicht schwer, denn damals waren die meisten Tankdeckel noch nicht abschließbar, vor allem bei den billigen Autos. Ich klaute das Benzin allerdings nicht, um mich zu bereichern. Es ging nur darum zu beweisen, dass ich das kann. Ich hätte den Sprit auch wieder weggekippt, wenn das nicht die Umwelt belastet hätte. Nee, streichen Sie das. Das war jetzt gelogen.

Die Frage aber bleibt: Was ist das überhaupt, ein Verbrechen? Das Verbrennen einer Deutschlandfahne in einer Bundeswehrkaserne? Nein, ich leugne nicht, dass ich das gemacht habe. Erst den gelben Streifen unten abgerissen, später die Fahne aus dem Fenster gehalten und angezündet. Nach dem Gesetz ist das Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole. Nach dem Gesetz habe ich auch mehrmals Hausfriedensbruch begangen, das waren die diversen Hausbesetzungen. Einmal war auch Landfriedensbruch dabei.

Landfriedensbrecher – das klingt großartig, als ob man es geschafft hätte, ganz Deutschland in Aufruhr zu versetzen. Dabei ging es nur um irgendwelche RAFler, die im Hochsicherheitstrakt in Ummeln saßen. Da sind wir rausgezogen und haben vor den Betonmauern ein bisschen Krach gemacht. Keine Ahnung, was der Anlass war, aus Solidarität eben. Man hat uns dann alle eingesammelt, uns ins Polizeipräsidium nach Bielefeld verfrachtet und dort erklärt, wir hätten den Landfrieden gebrochen. Deshalb wurden wir auch der Reihe nach erkennungsdienstlich behandelt, so wie richtige Verbrecher, mit Fotos von vorne und im Profil, an denen Nummern dran waren.

Der Polizist, der mich ED-mäßig in der Mache hatte, zählte aber erst mal alle meine Narben. Die unterm Kinn, die in den Augenbrauen, an den Schläfen, auf der Nase. Das hörte Antje, die im Nebenzimmer saß und auch gerade durchkatalogisiert wurde. Als wir wieder draußen waren, sagte sie: »Hey. Ich habe gar nicht gewusst, dass du so viel Narben hast. Irre, oder? Dabei sind die doch alle im Gesicht.« Antje war ziemlich blond und niedlich und eine linksradikale Feministin oder feministische Linksradikale, so was in der Richtung. Aber das mit den Narben klang bewundernd. Ich dachte, wenn ihr die gefallen, kriege ich sie vielleicht auch ins Bett. Aber mir fiel nicht ein, wie ich strategisch weitermachen sollte. Und jetzt ist wirklich Schluss damit.

Denn dass ich gegen die Gesetze verstoßen habe, von der Polizei festgenommen wurde, Anzeigen kassierte usw., beweist gar nichts. Das waren keine Verbrechen, das war Lifestyle. Hausbesetzen, Landfriedenbrechen und den Staat verächtlich machen sind die Funsportarten der Siebziger und Achtziger gewesen, also das, was heute Paragliding, Kitesurfen oder Extrembügeln heißt. Das ist ja auch nicht kriminell, obwohl es fast immer so aussieht.

Wie absurd es aber ist, all jene Akte, auf die Strafen stehen, als Verbrechen zu begreifen, beweist das schlimmste »Verbrechen« meines Lebens; vorausgesetzt man versteht unter dem schlimmsten das mit der höchsten Strafe bewehrte. Ich verübte es vor ein paar Jahren in Singapur. Da wurde ich ein paar Mal in Oralverkehr verwickelt, was in dem Land mit lebenslänglichem Gefängnis bestraft werden kann. Für mich ist das allerdings kein Grund, Lecken oder Blasen in mein persönliches Strafgesetzbuch aufzunehmen. Die einzigen Verbrechen, die ich gelten lasse, sind Mord, Totschlag, Körperverletzung, Betrug, Vergewaltigung, Brandstiftung und Diebstahl. Keines davon habe ich je begangen. Und auf der Stelle sollen meine Hoden wie einst die von Jost Burgmann schmerzen, sollte das nicht die Wahrheit …

Okay, ich habe einmal »gestohlen«. Das war am 13. Juni 1982, und zwar das Buch »Einführung in die Sozialpsychologie« in der Buchhandlung Phoenix am Jahnplatz in Bielefeld, aus dem zweiten Regal von links in der Sachbuchabteilung im ersten Stock. Ich hatte allerdings fest damit gerechnet, dass man mich erwischen würde, weshalb auch in meiner linken Parkatasche eine zehnseitige Verteidigungsrede steckte: ein flammendes Manifest, in dem ich Bildung und kostenlose Bücher für die Armen, Schwarzen, Braunen, Gelben forderte.

Soll sich denn, so wollte ich dem Staatsanwalt entgegenschleudern, der Stahlschmelzer dieses Fachbuch nach Feierabend selber schreiben? Oder soll man ihm nicht lieber die dringend benötigte sozialpsychologische Studie kostenfrei überlassen? Ich war fest davon überzeugt, dass mich das Gericht nach diesem ergreifenden Plädoyer nicht nur freisprechen, sondern mich auch noch zu meiner Tat beglückwünschen würde. Und dann wurde ich einfach nicht erwischt. Das war Pech, aber kein Diebstahl.

So, Euer Ehren, Sie haben selbst gesehen, dass ich nichts getan habe, was man im weitesten Sinne als Verbrechen oder Vergehen bezeichnen könnte. Jetzt muss ich aber wirklich weiter. Wie, das geht nicht? Sie sind immer noch nicht durch mit mir? In der Anklageschrift … Dieser Wisch da? Darf ich mal lesen? Ach Gottchen: 52 eingeschlagene Laternen zwischen 1971 und 1975, 12 abgebrochene Mercedessterne, 23 beim Drüberlaufen beschädigte parkende Autos, 17 abgetretene Seitenspiegel. Das ist nun wirklich Kinderkram. Ich war besoffen, vertrug die Dunkelheit nicht, mir wurde wehgetan, der Fürst der Finsternis hat mich ferngesteuert.

Der hat mir übrigens auch das hier gegeben. Nein, Sie können es ruhig in die Hand nehmen, das ist nur ein Abzug. Erkennen Sie’s? Genau: Das ist ein Foto Ihrer Mutter. Aufgenommen 1978 in Porta Westfalica, beim »Umsonst & draußen«-Festival. Ja, das ist ein großes Schlammloch rechts neben der Bühne, und das sind Lebensmittelfarben auf den Brüsten, sonst gar nichts … Alles klar? Na dann, tschüss, Euer Ehren. Wir sehen uns sicher wieder, spätestens beim jüngsten Gericht.

Im September erscheint in der Edition Tiamat das Buch »Little Criminals. Peinliche Verbrechen und andere Kleinigkeiten«. Mit Beiträgen von Hunter S. Thompson, Wiglaf Droste, Hans Zippert, Gerhard Henschel, Funny van Dannen u.v.a., 176 Seiten, 13 Euro.