Die Hare-Rama-Familie

Iggy Pop sehen, sich bei Amnesty informieren oder am Wet-T-Shirt-Contest teilnehmen – das Angebot ist riesig. Das Sziget in Ungarn ist das größte europäische Kulturfestival. von thorsten mense

Gesäumt von hohen Bäumen, liegt die Donauinsel Óbudai nördlich von Ungarns Hauptstadt Budapest. Die meiste Zeit passiert hier so gut wie gar nichts, einige wenige Ungarn vergnügen sich beim Golf-Spielen oder spazieren durch die Grünanlagen.

An sieben Tagen im Jahr aber verwandelt sich die Insel in einen riesigen Vergnügungs­dschungel, der Hunderttausende Musik- und Partyfreunde aus ganz Europa anzieht.

Jedes Jahr im August findet mit dem Sziget-Festival in Budapest das größte Musik- und Kulturfestival Europas statt. Auf der Insel entsteht eine temporäre Großstadt, eine Mischung aus Musikfestival, Kulturmarathon, Sozialforum und Vergnügungspark.

Am Tag X geht es langsam los, Besucher mit Campingtickets dürfen auf die Insel, und alle Grünflächen füllen sich mit Zelten. Bereits am Ende des Tages, noch vor dem offiziellen Festivalbeginn, sind die 25 000 Wochen-Campingtickets ausverkauft. Alle, die danach kommen, dürfen zwar zelten, haben aber keinen Anspruch auf einen Zeltplatz. So sieht man viele Zelte Wand an Wand mit den Dixi-Klos, das ansonsten beliebte Zelten am Donau-Strand ist dieses Jahr wegen Hochwassergefahr nicht möglich.

Vorbei an dem »Ambient-Zelt« mit entspannter elektronischer Musik und Hängematten passiert man kleine staubige Waldwege mit bunten Lampions, kann kurz beim Ballett an der Tanz- und Theaterbühne Halt machen und bahnt sich dann seinen Weg zur »Hammerworld Stage«. »Burn in the hungarian metal hell!« kündigt das Programm an, und das Line-Up verspricht das gleiche: Neben unzähligen ungarischen Metal-Bands sind auch internationale Acts wie Cradle of Filth, Morbid Angel oder Cathedral im schwarzen Bereich des Festivals vertreten. Die New Yorker Hardcore-Truppe Sick of it all wirkt bei ihrem Auftritt zumindest äußerlich fast poppig im Vergleich zu vielen Besuchern. Die alten Herren von Exploited sind hingegen einfach peinlich. Sänger Wattie Buchan stand vor einem großen Transparent mit der Aufschrift »25 years of Chaos and Anarchy« und konnte sich offensichtlich bis heute nicht von seinem roten Irokesenschnitt trennen. Der Popularität der Band tut dies keinen Abbruch, in dem völlig überfüllten Zelt stehen mehrere tausend Fans und grölen den alten Hit »Sex and Violence«.

Von der Metal-Bühne aus geht es auf der staubigen Schotterstraße weiter Richtung Inselmitte. Auf der »Pesti-Est«-Bühne spielt gerade eine ungarische Skaband, die anscheinend einigermaßen bekannt ist. Am kleinen Schwimm­bad vorbei erreicht man dann die »Silent Disco«. Am Eingang bekommt man Kopfhörer und kann dann zwischen zwei Kanälen elektronischer Musik wählen oder sie sogar selber mischen. Lautsprecher gibt es keine. Aber der Effekt, Menschen ohne hörbare Musik tanzen zu sehen, kommt nicht wirklich an: Auf der ganzen Insel gibt es keinen Ort, an dem nicht zu jeder Uhrzeit aus zumeist mehreren Richtungen Musik dröhnt. Von »Silence« kann keine Rede sein.

Den Reiz des Festivals macht die Mischung aus. Französische Punks, die in einer Großraum-Disco neben Techno-Proleten tanzen. Die ungarische Kleinfamilie, die sich die Industrial-Legende Ministry auf der Hauptbühne anhört oder der Blackmetaller, der sich mit dem Dosenbier in der Hand im »African Village« traditionelle Tänze ansieht.

Das Angebot an Musik und Kultur bietet für jeden Geschmack etwas. 3 500 Quadratmeter Bühnenfläche, 66 Veranstaltungsorte und 200 Programmpunkte täglich. »Es ist ein Überlebenstraining«, kommentiert Mohannad aus Israel dieses Überangebot.

»Hare Krishna, Krishna Krishna, Hare Hare, Hare Rama«, schallt es aus einem Zelt in einer Nebenstraße. In weißen und orangefarbenen Gewändern sitzen selbst ernannte Gurus auf der Bühne des Krishna-Zeltes und geben ihre Version des heiligen Mantras zum Besten. Den ganzen Tag, die ganze Woche lang ist der Text des Mantras das einzige, was die Krishnas auf der Bühne singen werden. Wenn der Text sich schon nicht ändern darf, versuchen sie zumindest durch die Musikstile etwas Abwechslung zu schaffen. Schon eine halbe Stunde nach dem Guru mit der Sitar steht eine ungarische Hardcore-Band auf der Bühne und brüllt das Mantra. Wahrscheinlich würden noch weniger Menschen bei dieser akustischen Gehirnwäsche verweilen, gäbe es hier nicht zweimal am Tag kostenlosen Eintopf.

Wer den Fehler begangen hat, sein Zelt direkt neben den Krishnas aufzustellen, kann an der nächsten Ecke einen Rabbi um Rat fragen, wie man das aushalten soll. Für zehn Forint – umgerechnet vier Cent – bekommt man am Stand der jüdischen Gemeinde Lebensweisheiten mit auf den Weg. »It’s very cheap!« betont der freundliche Rabbi mit einem ironischen Grinsen im Gesicht. Daneben stecken Betrunkene ihren Kopf durch eine Stellwand und lassen sich als tanzende Rabbis fotografieren.

Wem auch der Rat des Rabbis keine Erleuchtung gebracht hat, kann spätestens in dem großen Angebot an Esoterik fündig werden. »Was ist die Farbe von Empathie? Welche Form hat sie?« wird auf einem Schild am Wegesrand gefragt. Ein paar Leute versuchen dann auch wirklich, mit Buntstiften ihre Gefühle zu Papier zu bringen.

Am »Mental Hotel« nebenan wollen junge Menschen durch das Interpretieren von Tintenklecksen zu sich selber finden. Passenderweise findet sich in der gleichen Reihe von Ständen auch die »Psychologische Ambulanz«.

Auf dem Sziget-Festival gibt es nichts, was es nicht gibt. Und so findet man auch zu jedem Stand einen Gegenpart. Wer mit Antidiskriminierungsgruppen nichts anfangen kann, geht zum Wet-T-Shirt-Contest. Wem die Anti-Kleinwaffen-Kampagne von Amnes­ty international zu langweilig ist und wer auch keine Lust hat, mit ungarischen Friedensaktivisten Peace-Zeichen zu malen, kann am anderen Ende der Insel Gotcha spielen. Organisiert wird das Spiel vom ungarischen Militär. Dort darf man dann auch mal Schutzanzüge ausprobieren oder kann sich gleich verpflichten.

Etwas verloren wirkt der Stand, der über die Gefahren des Alkoholismus informieren soll. Ab mittags torkeln Betrunkene vorbei, bei denen sich die Frage aus dem Testbogen (»Kannst du auch ohne Alkohol Spaß haben?«) von selbst beantwortet. »Es ist ein sehr kleiner Stand, aber besser als nichts.« Mit einem gequälten Lächeln versucht die Frau am Stand, sich selber zu überzeugen. Wenige Zelte weiter sitzen sich alte und junge Menschen ins Gespräch vertieft gegenüber. Die einen tragen Hemden mit der Aufschrift »Buch«, die anderen haben das Wort »Leser« auf ihren T-Shirts stehen. Die »lebendige Bibliothek« will den Besuchern die Möglichkeit geben, »mit dem eigenen Vorurteil persönlich zu sprechen«. Fast wie in einer echten Bibliothek ist es dabei verboten, »das Buch psychisch oder physisch zu beschädigen«, oder »mit Essen und Getränken zu bekleckern«.

Über 100 zivile und soziale Organisationen informieren auf der Insel über ihre Arbeit oder spielen Schach und diskutieren dabei, wie der ungarische Philosophieverein. Das »Zivile Dorf« nimmt einen großen Platz auf dem Festival ein und ist der Versuch, das doch recht konsum- und alkoholorientierte Publikum mit sozialen und politischen Inhalten zu konfrontieren. Menschen mit Down-Syndrom informieren über ihr Leben, Aids-Gruppen verteilen Kondome, Lesben und Schwule kämpfen gegen Diskriminierung, und die EU gibt sich mit einem großen Zelt und viel Werbe­material bürgernah. Greenpeace und andere Naturfreunde haben mit dem »grünen Hof« sogar ihren eigenen Bereich.

Weniger friedlich ist es im »Haus des Terrors«. Auf der Insel wurde kurzfristig ein Ableger des Budapester Museums eingerichtet, in dem über die Verbrechen des Kom­mu­nismus informiert werden soll. Information über die Geschichte sucht man in dem Container jedoch vergeblich. Dafür kann man das neue »Freedomfighter56«-Computerspiel testen, eine Mischung aus Comic-Animation und Ego-Shooter. Auf Seiten der Aufständischen von 1956 – dem Programm zufolge die »größte Revolution des 20. Jahrhunderts« – erschießt man russische Soldaten und Agenten der Geheimpolizei, die sich im Regierungs­palast verschanzt halten. Als Belohnung darf man ein rot-weiß-grünes Ungarn-Arm­band mit nach Hause nehmen.

In der Mitte der 160 Hektar großen Insel wird man dann nicht weiter mit ernsthaften Dingen überfordert. Ein riesiger Vergnügungspark lädt zum konsumfördernden Spaß am Nachmittag ein. Bungee-Springen im Drei-Minuten-Takt, Kletterwände, ein aufblasbarer Fußballplatz mit Schmierseife, Karaokebühne, Heiratszelt, Schokobad, Autoscooter und vieles mehr. Was für die Besucher reiner Spaß ist, ist für die Veranstalter hartes Geschäft. Nach dem Bungee-Springen kann man sich über Hausfinanzierungen informieren. Wer mit umgeschnallten Riesenbäuchen Sumo-Ringen will, muss dafür drei leere Schokoriegel-Packungen abgeben. Eine lange Reihe von Automaten steht direkt davor. Freies Internet gibt es beim Mobilfunkanbieter, und wer möchte, bekommt auch gleich einen Vertrag dazu. Roboterähnliche Mitarbeiter einer großen Kaffeefirma verteilen kostenlos heißes Wasser zusammen mit der neuesten Instant-Mischung. Manchmal hat man das Gefühl, man sei in einem riesigen Freiluft-Versuchslabor für Werbestrategien.

Die Firmen haben ihre Bereiche abgesteckt, es gibt nur eine Zigarettenmarke, zwei Biersorten und einen Softdrinklieferanten. Selbst die Musikbühnen haben jeweils ihren Hauptsponsor, nach dem sie benannt sind.

Trotz der Sponsoren blieben dieses Jahr nur 50 Millionen Forint als Gewinn übrig, gerade mal 200 000 Euro. Dies liege vor allem an den hohen Gagen der Stars, so die Pressesprecherin Viktória Vetö. Beim Blick auf das Line-Up glaubt man das gerne.

Aktuelle Popbands wie Franz Ferdi­nand, The Rasmus oder Placebo wechseln sich auf der Hauptbühne mit Legenden wie Living Colour, Radiohead oder Iggy Pop ab. Der liefert wie erwartet und gekonnt vor 50 000 Besuchern eine dreckige Rock’n’Roll-Show ab, natürlich komplett oben ohne und mit einer ordentlichen Prügelei auf der Bühne. Er hat die Leute aus den ersten Reihen dazu animiert, zu ihm hoch zu kommen, was die Security wiederum verhindern will. Die Beatsteaks zeigen, dass sie ebenfalls keinen Respekt besitzen und spielen eine Reggae-Coverversion des Songs »No one knows« von Queens of the Stone Age. The Prodigy beenden das Programm auf der Hauptbühne und sorgen am letzten Tag für eine ausverkaufte Insel.

Auf anderen Bühnen wurde aber nicht weniger geboten: Wir sind Helden im Indie-Zelt, Goran Bregovic mit seinem Kusturica-Soundtrack auf der Weltmusikbühne oder DJs wie Tiefschwarz oder Roger Sanchez in dem 2 700 Quadratmeter großen »Partyarena«-Zelt. Insgesamt über 700 Bands und Künstler aus mehr als 40 Ländern gehen in den sieben Tagen über die Bühnen.

So hochkarätig das Hauptprogramm sein mag, wirklich interessant wird das Festival, wenn man fernab der großen Stars auf Entdeckungsreise geht. Sonst würde man nie auf die Altrocker von Flash stoßen, eine Punklegende, die wie eine ungarische Version von Oma Hans wirkt. Oder auf Gogol Bordello, die man getrost als die US-amerikanischen Mano Negra bezeichnen kann. »Wie Manu Chao, nur mit Schnäuzer«, beschreibt ein Konzertbesucher den ukrainischen Sänger.

Trotz des Ansturms von ausländischen Besuchern, vor allem aus Frankreich und Deutschland, bemühen sich die Veranstalter, dass das Sziget in erster Linie ein ungarisches Festival bleibt. Das ungarische Programmheft ist dreimal so dick wie die deutsche oder englische Version, die Wegweiser und Zeitpläne sind größtenteils auf Ungarisch, und 70 Prozent aller Veranstaltungen und Konzerte werden von ungarischen Künstlern bestritten. So ist die persönliche Konzertauswahl für die Besucher aus dem Ausland auch immer ein bisschen Glückssache. Man hat keine Ahnung, auf was man sich einlässt, ist aber immer wieder positiv überrascht.

Auf die ausländischen Besucher ist das Festival angewiesen. Denn die 120 Euro für ein Wochenticket inklusive Camping sind für viele junge Ungarn nicht bezahlbar. Diese beschweren sich über die zunehmende Kommerzialisierung und darüber, dass Popmusik und Konsum immer mehr den unabhängigen kulturellen Charakter der Veranstaltung verdrängen.

Die Atmosphäre auf der Insel ist alternativ, fröhlich und stets leicht hippi­esk. Aggressionen oder Prügeleien sind die Ausnahme, und das wohlgemerkt bei Alkoholpreisen auf dem Gelände, die deutlich unter dem deutschen Durchschnitt liegen. Ganz abgesehen von anderen aufputschenden Drogen. »Fürs Gras wollten sie 2 000 Forint, für Speed nur 1 000. Also hab’ ich Speed genommen«, erzählt ein sehr wach wirkender Deutscher.

Die Security, die immer und überall auf dem Gelände zu sehen ist, macht eigentlich auch nicht den Eindruck, als ob sie zur Entspannung der Situation beitrüge. Eher sieht sie danach aus, als ob sie zu gleichen Teilen aus dem Bodybuilderverein, dem örtlichen Tattoostudio und der Kameradschaft Budapest rekrutiert wurde.

Nicht nur musikalisch ist auf dem Sziget jede Richtung vertreten. Aufschlussreich sind dabei die Leinwände neben den großen Bühnen. Wie man es von den Musiksendern gewöhnt ist, wird die Konzertübertragung auf der Leinwand mit SMS-Botschaften der Zuschauer zugemüllt. Je nach Art des Konzerts und der Fans werden dann zuvor geschossene Fotos, kurze Pornovideos oder Flaggen gesendet. Manchmal ergeben sich auch politische Diskussionen. Beispiel: »Fuck Bush!« – »Fuck Al-Qaida! Long live Bush!« Vor dem Konzert der beliebten Berliner Band erklärt jemand per SMS: »Wir sind Helden! Und ihr nicht!« Ministry machen auf der Leinwand lieber selber politische Bildung und zeigen Videoanimationen, die wie eine auf LSD verfasste Kritik an den USA wirken. Genauso plump geht es an den ­Ständen zu. »Gerechtigkeit für Ungarn« steht auf einem T-Shirt, hinten eine Karte von Groß­ungarn aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Eine wehende Amerika-Flagge mit Hakenkreuzen statt Sternen als Motiv gibt es am nächsten Stand, neben »Made in Iran« im Iron-Maiden-Schriftzug. Dazwischen viele Holzperlenketten, indische Tücher und Trommeln.

Ganz von der Realität ist man in dem einzigartigen Mikrokosmos aber auch nicht abgeschottet. Wegen der Flugsperre nach den vereitelten Terroranschlägen von London können die englischen Bands Coldcut und Gomez ihre Auftritte nicht absolvieren. »Trotz der Versuche, Terroranschläge zu verüben, und dem steigenden Wasserpegel der Donau kann die Sziget-Stimmung nicht verdorben werden«, erklären die Veranstalter daraufhin selbstbewusst. Und damit haben sie Recht. Wer die Woche über in dem Kleinstaat Sziget unterwegs ist, hat gar nicht die Zeit, sich mit etwas anderem zu beschäftigen.

Das Festival stellt wohl kaum eine alternative Gesellschaftsform oder gar den Staat Utopia dar, wie Linus Volkmann im Intro-Festivalguide geschrieben hatte. Ein Beispiel von friedlichem Zusammenleben unterschiedlicher Menschen ist es allemal. Durch die Mischung aus kommerzieller Unterhaltung und alternativer Kultur kann hier jeder seine Sparte finden und auch abseits der Klischees Neues aus anderen Ländern entdecken. Und bei Sonnenaufgang findet man sich zu schlechter Popmusik tanzend neben dem Rasta­fari und dem Disco-Macker wieder.