Bessere Verhältnisse

Klasse, Verdichtung, Staat: Zum 70. Geburtstag des marxistischen Theoretikers Nicos Poulantzas. Von Alexander Gallas

Nicos Poulantzas nimmt im Marxismus des 20. Jahrhunderts eine einzigartige Position ein. Das zeigen die Eckdaten seiner Biografie. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg geboren, war er zu jung, um zum Kreis der »großen« Theoretiker der Nachkriegszeit gezählt zu werden, die in der Öffentlichkeit vor allem als geistige Urheber der Revolte von 1968 wahrgenommen wurden. Da er sich 1979 das Leben nahm, erlebte er aber auch nicht mehr mit, wie seine eigene Generation nach der neoliberalen Offensive der achtziger Jahre und nach dem Bruch von 1989 an Einfluss verlor, um dann im Zuge des Wiederauflebens des öffentlichen Interesses an Karl Marx und von ihm inspirierter Gesellschaftstheorie und -kritik seit Ende der neunziger Jahre neues Gehör zu finden.

Das macht Poulantzas besonders interessant. Er thematisierte die Auflösungserscheinungen der fordistischen Entwicklungsweise, bevor es nach 1989 zu Verschiebungen innerhalb linker Diskurse kam. Ohne Konzessionen an einen post- oder gar antimarxistischen Zeitgeist machen zu müssen, wie er unmittelbar nach dem Zusammenbruch des autoritären Sozialismus hegemonial wurde, analysierte Poulantzas die Umwälzungen innerhalb des Kapitalismus und setzte sich mit dem Problem der Erstarrung und Dogmatisierung marxistischer Theorie auseinander.

Im Zuge dieses epochalen Umbruchs sind mancherlei Einsichten von Poulantzas verschüttet worden, die für die Analyse kapitalistischer Vergesellschaftung, der autoritären Durchsetzung des Neoliberalismus und seiner gegenwärtigen Hegemonie sowie für die Erneuerung sozialistischer Politik von großer Bedeutung sind.

Anderthalb Jahrzehnte nach dem Ende der osteuropäischen Regimes hat sich das politische und politisch-theoretische Klima erheblich verändert. Zahlreiche wirkmächtige politische Kräfte beziehen sich inzwischen wieder positiv auf das Projekt einer kapitalismuskritischen Linken – z.B. die altermondialistische Bewegung, die wieder erstarkten linkssozialistischen Parteien in Europa und die Regierungen in Venezuela und Bolivien. All jene Kräfte haben unterschiedliche Vorstellungen davon, wie dieses Projekt zu füllen ist, aber sie sind mit dem gleichen Problem konfrontiert: dem kapitalistischen Staat. Es stellt sich die Frage, inwiefern emanzipatorische Prozesse mit ihm oder gegen ihn durchzusetzen sind. Damit rückt ein Dauerbrenner linker und marxistischer Debatten erneut in den Vordergrund, dem sich Poulantzas Zeit seines Lebens gewidmet hat.

Poulantzas’ intellektuelle Biographie lässt sich in drei Phasen aufteilen: eine frühe rechtsphilosophische, eine mittlere strukturalistische und eine späte relationale. Seine 1964 fertiggestellte Habilitation trägt den Titel »Begriff der Natur der Sache in der gegenwärtigen Philosophie und So­zio­logie des Rechts« und ist stark von Jean-Paul Sartres existenzialistischem Marxismus beeinflusst, mit dem er auch bei Les Temps Modernes in Paris zusammenarbeitete.

Wenig später wandte sich Poulantzas dem Zirkel um Louis Althusser und damit dem strukturalen Marxismus zu. Dies ist insbesondere in seinem 1968 veröffentlichten Werk »Politische Macht und gesellschaftliche Klassen« sichtbar, in dem Poulantzas erstmals den kapitalistischen Staat ins Zentrum seiner Überlegungen rückte. An Althussers Konzeption einer »Gliederung« kapitalistischer Gesellschaftlichkeit in »relativ autonomen« Regionen anknüpfend, entwarf er eine Regionaltheorie der Politik bzw. des Staats. Das fand Anklang, da viele 68er das sich abzeichnende Scheitern der Studentenbewegung mit dem Fehlen einer staatstheoretisch unterfütterten Strategie in Zusammenhang brachten.

Später profilierte sich Poulantzas durch seinen Schlagabtausch mit dem englischen Sozialwissenschaftler und Sozialisten Ralph Miliband. Der Streit war vor allem ein wissenschaftstheoretischer. Während Miliband forderte, den kapitalistischen Staat empirisch zu erforschen, betonte Poulantzas, dass dafür begrifflich-theoretische Vorarbeit geleistet werden müsse. Durch diese Debatte heftet ihm bis heute zu Unrecht das Image eines an Akteuren uninteressierten Strukturalisten an.

Das zeigt sich vor allem an Poulantzas’ letztem Buch, der »Staatstheorie«. Poulantzas betonte die Handlungsfähigkeit von Klassenakteuren, indem er einen relationalen Staatsbegriff entwickelte. Der kapitalistische Staat sei »als ein Verhältnis« anzusehen, »genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt«. Die Rede von den »Kräfteverhältnissen« unterstreicht, dass die innerhalb von Staatsapparaten stattfindenden politischen Prozesse immer auch die momentane Stellung von Arbeiterklasse und Bourgeoisie zueinander abbilden. Die derzeitige Umstrukturierung des Staats unter neoliberalen Vorzeichen ist Ausdruck einer erfolgreichen Offensive der Kapitalistenklasse; die Entstehung des Wohlfahrtsstaats war auch ein Resultat des Erstarkens der Arbeiterbewegung nach dem zweiten Weltkrieg. Der Verweis auf »materielle Verdichtung« macht klar, dass Kräfteverhältnisse umgekehrt auch von den Staatsapparaten modifiziert und stabilisiert werden. So gibt es in kapitalistischen Staaten genaue Regularien, wie gewerkschaftliche Organisierungs- und Kampfmaßnahmen auszusehen haben. Dieser institutionelle Rahmen soll verhindern, dass Klassenkämpfe zur dauerhaften Unterbrechung der Kapitalakkumulation und der Untergrabung der Verfügungsmacht der Kapitalisten über den Produktionsprozess führen.

Hier zeigt sich ein Staatsbegriff, der die Struktur- und Handlungsmomente kapitalistischer Vergesellschaftung zusammenführt. Es ist zwar eine Verengung, im Staat verdichtete Kräfteverhältnisse vor allem als Klassenverhältnisse zu fassen. Dennoch kommt Poulantzas das Verdienst zu, aufgedeckt zu haben, dass Klassenherrschaft im Kapitalismus durch staatliche Institutionen organisiert und stabilisiert wird und dass Veränderungen von Staatlichkeit auch als Resultat von Klassenauseinandersetzungen zu interpretieren sind.

Im September 2006 wäre Poulantzas, der bedeutendste marxistische Staatstheoretiker der Nachkriegszeit, 70 geworden. Sein Werk bleibt hochaktuell.