Umkämpftes Terrain

Zum Begriff der »Rasse« in den Lebenswissenschaften. Von Timm Ebner

Der Begriff »Lebenswissenschaften« ist eine Übersetzung des aus dem aktuellen englischsprachigen und internationalen Diskussionskontext stammenden Begriffs »Life Sciences«.

Es handelt sich dabei neben anderen um die Disziplinen Biologie, Medizin, Pharmakologie, Anthropologie. Der Begriff trägt der Tatsache Rechenschaft, dass die einzelnen Disziplinen seit der allgemein beschworenen »molekularbiologischen Revolution« weitgehend den in der Genetik entwickelten Verfahrensweisen unterworfen wurden.

Neben dieser aktuellen Entwicklung, die ihren letzten Höhepunkt 1990 mit dem Start des Human Genome Project gezeitigt hat, ist aber die Frage, ob der Begriff nicht viel weiter über diese Bedeutung hinausgehen muss. Diese Frage stellt sich zunächst aus der Geschichte der lebenswissenschaftlichen Disziplinen, insbesondere im deutschen Kontext.

Schließlich waren Biologie, Medizin, Anthropologie in Deutschland nie harmlose Wald- und Wiesenwissenschaften, die sich ausschließlich mit der Beseitigung des Heuschnupfens beschäftigten.

Michel Foucault zeigt auf, dass bei der Herausbildung moderner kapitalistischer Gesellschaften weit mehr als nur der gesellschaftliche Bereich involviert war, der zu dieser Zeit völlig neu konzipiert wurde: durch die »Ökonomie« im klassischen Sinn. Diese Ökonomie wurde überhaupt erst mit der Durchsetzung neuer Machttechniken hergestellt.

Neben der Disziplinarmacht bildet sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts in den Gesellschaften der Metropole auch ein Set anderer solcher Techniken heraus, Foucault nennt sie »Biomacht«.

Fortan geht es um die Kontrolle der Bevölkerung in allen ihren biologischen Prozessen. Geburt, Leben und Tod werden in ein Netz gouvernementaler Praktiken eingespannt, das die Bevölkerung als Massenkörper behandelt. Dieser Bereich wird schon bald von den wissenschaftlichen Diskursen durchzogen und strukturiert werden.

Seit der Aufklärung haben wir es aber mit einer Vielzahl an Diskursen zu tun, die uns die Wissenschaften als autonom vorstellt und vom politischen Tagesgeschehen völlig entkoppelt. Wissenschaftler sind in dieser Konzeption Teil einer gesellschaftlichen Entität, die in dem Willen angetreten ist, mittels technischer Erfindungen Krankheiten und andere Boshaftigkeiten zu bekämpfen.

Auch wenn es selbst im NS nicht wenige Wissenschaftler gab, die einen solchen Willen hatten, kann kein Zweifel darüber bestehen, dass dieser »Wille« nichts über das Funktionieren der Lebenswissenschaften im Zusammenspiel mit anderen gesellschaft­lichen Strukturen aussagt.

Es handelte und handelt sich hierbei um legitimatorische Diskurse, die die wissenschaftlichen Redeweisen gegenüber anderen Diskursen autorisieren.

Andererseits sind die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse, die mit dem Auftreten der Biomacht entstehen, alles andere als eine hermetische, panoptische Totalität, die über alle Zeiten hinweg bis heute in der gleichen Weise unangefochten und umfassend die Gesellschaften unterworfen hätte.

Seit dem ersten Auftreten der neuen Machttechniken begehren die Subjekte gegen ihre Unterwerfung auf. Die Formen, die biopolitische Machttechniken in den Gesellschaften annehmen, sind immer der Konjunktur von Kämpfen unterworfen und entsprechend heterogen.

Das heißt, dass die Lebenswissenschaften – wie man es mit Antonio Gramsci fassen könnte – als »umkämpftes Terrain« zu verstehen sind.

Die legitimatorischen Diskurse der Aufklärung vollziehen allerdings nur auf mentaler Ebene eine Entwicklung nach, die bereits viel dramatischere Veränderungen bewirkt hat. Die Herausbildung der wissenschaftlichen Staatsapparate schließt diese Diskurse in den engen Zirkel gesellschaftlicher Eliten ein und damit die Möglichkeit öffentlicher Diskurse darüber aus.

Ähnlich wie die Entwicklungen des modernen Rechts aus den Notwendigkeiten der Zirkulationssphäre schaffen die Biotechnologien gesellschaftliche Strukturen, die weit beständiger und undurchdringlicher sind als Diskurse in öffentlichen Debatten.

Dies zeigt sich heute vor allem in der Behauptung, die Lebenswissenschaften würden »objektiv Fakten abbilden«. Hautfarbe, Schädelform und Körpermetrik sind aber nicht einfach »Dinge«, die der Wissenschaft naturgegeben vorliegen und über die die Wissenschaft »objektiv« urteilen könnte.

Erst die Anthropologie hat aus ihnen Fakten hergestellt, indem sie sie entlang einer spezifischen Form wissenschaftlicher Objektivität als Marker für gesellschaftliche Differenz konstruiert hat. Ein epistemologischer Bruch mit dem Gegenstand der Lebenswissenschaften ist daher unerlässlich, bevor man die Debatte eröffnen kann.

In diesem Dossier wird zunächst ein historischer Überblick in die Geschichte vom »Kaiserreich« bis zum Nationalsozialismus einführen. Es wird dabei die bisher gern unterschlagene »Episode« der deutschen Kolonialität genauer untersucht werden, um die Spezifika der deutschen Lebenswissenschaften herauszuarbeiten.

Ist der Begriff der »Rasse« mit der Genetisierung, der »molekurlarbiologischen Revolution«, für die Lebenswissenschaften obsolet geworden oder kehrt er in anderer Form zurück? Das ist die zentrale Frage des Artikels der AG gegen Rassismus.

Timo Wandert zeigt am Ende die Bedeutung rassistischer Konzepte für gegenwärtige Entwicklungen in der Psychologie auf.